Die Gefahr, ein Geheimnis zu kennen
Ein Geheimnis zu kennen, kann gefährlich sein. Schon manchem wurde es zum Verhängnis, weil er von etwas wusste, das andere der Meinung nach besser nicht erfahren hätten.
Wir kennen das aus manchen Krimis: Jemand wird unfreiwillig Zeuge eines Verbrechens. Der Täter bekommt das mit und merkt, dass dieser Mann sein Geheimnis kennt. Von da an wird dieses Geheimnis gefährlich. Denn auch das Leben des Augenzeugen ist nicht mehr sicher.
Ein Geheimnis zu kennen, kann also gefährlich werden. Auch der Apostel Paulus hatte etwas erfahren, das ihn in große Gefahr brachte.
Dieses gefährliche Geheimnis beschreibt er in dem Predigttext, den wir heute Morgen gemeinsam studieren wollen.
Rückblick und Einordnung in den Epheserbrief
Und damit machen wir jetzt endlich weiter mit unserer Predigtreihe über den Epheserbrief, Kapitel 3. Die letzte Folge liegt schon einige Wochen zurück. Es war die Advents- und Weihnachtszeit sowie die Zeit um den Jahreswechsel. Jetzt wollen wir wieder mit frischem Schwung in die Fortsetzung des Epheserbriefs einsteigen.
Lassen Sie mich noch ganz kurz daran erinnern, was bisher geschehen ist in den ersten beiden Kapiteln – oder wir können auch sagen in den ersten sechzehn Predigten. Wir hatten gesehen: Der Epheserbrief ist ein großes Gemälde. Er ist so etwas wie eine Generalskizze über den Reichtum, den Gott seinen Leuten im Glauben schenkt.
Ein großes Gemälde über den Reichtum der Christen – das wird im ersten Kapitel deutlich durch den großen Plan Gottes zur Rettung der Menschheit. Dieser Plan wird im ersten Kapitel ausführlich entfaltet, und zwar als ein Plan von Ewigkeit her.
Im zweiten Kapitel beschreibt Paulus dann, wie wir persönlich gerettet werden können, wie wir individuell in diesen großen Plan Gottes hineinkommen. Außerdem zeigt er, wie alle, die in diesen Plan hineinkommen, zusammengefügt werden zu der großen weltweiten Gemeinde Jesu Christi.
In der letzten Predigt hatten wir gesehen, welche besondere Würde der lebendige Gott seiner Gemeinde zuspricht. Es gibt keine größere Ehre, als Mitglied der Gemeinde Jesu Christi sein zu dürfen.
Paulus schreibt den Epheserbrief vorwiegend an Heiden. Und denen sagt er: „Leute, vergesst das nie, aus welchem Sumpf ihr herausgeholt wurdet! Vergesst das bitte nie!“ Früher wart ihr total weg vom Fenster, früher wart ihr ganz draußen.
Die Tempelmauer als Symbol der Ausgrenzung
Und das wurde einem Heiden nirgendwo so deutlich wie in Jerusalem beim Tempel. Dort gab es diese dicke Trennmauer, die den Vorhof der Heiden von all den anderen Bereichen abgrenzte, die nur für Juden vorbehalten waren.
Dort wurde es deutlicher als überall sonst: Wir bleiben draußen. Die Tempelmauer war ein beeindruckendes Gleichnis. Sie sagte: Du gehörst nicht dazu, du bleibst ein Fremder.
Aber das war früher, sagt Paulus. Durch Jesus ist alles anders geworden. Wer zu Jesus gehört, der gehört wirklich dazu. Er ist Bürger in Gottes Reich, er ist persönliches Kind des Schöpfers dieser Welt.
Das sind die Grundlagen in den ersten beiden Kapiteln. Nachdem Paulus diese Grundlagen der christlichen Wahrheit dargestellt hat, holt er einmal tief Luft – so wirkt es hier, denn es ist einmal kurz abgesetzt.
Dann beginnt er mit unserem dritten Kapitel, in das wir heute einsteigen.
Paulus’ persönliche Situation als Gefangener Christi Jesu
Deshalb sage ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu, für euch Heiden.
Er spricht hier zum ersten Mal über seine persönliche Situation. Das ist das Erste, was wir über Paulus persönlich erfahren: Ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu.
Dieser Brief stammt also direkt aus dem Gefängnis. Das Gefängnis steht unter römischer Aufsicht. Auffällig ist, dass Paulus nicht sagt: „Ich, Paulus, der Gefangene der Römer“ oder „Ich, Paulus, der Gefangene der Juden“, sondern er sagt: „Ich, Paulus, der Gefangene Jesu Christi.“
Natürlich stand er unter der Macht der Römer, aber in Wirklichkeit will Paulus ausdrücken, dass jemand anderes über sein Leben bestimmt. Die Macht über ihn besitzt weder der römische Gefängniswärter noch die römische Rechtsprechung. Auch nicht seine jüdischen Volksgenossen, die ihn der römischen Justiz gewissermaßen in die Arme getrieben haben.
Die Macht über sein Leben besitzt ein anderer, nämlich Jesus Christus. Er bestimmt alles. Und darum, wenn Paulus gefangen ist, dann deshalb, weil Jesus es zulässt. Offensichtlich hält er es für richtig. Paulus’ Leben liegt in seiner Hand, und was immer in seinem Leben geschieht, es steht unter seiner Kontrolle.
Der äußere Druck kann Paulus also nicht daran hindern, sein Leben wirklich aus göttlicher Perspektive zu sehen. Und genau diese Sichtweise will der lebendige Gott auch uns schenken. Diesen Blick, dass wir wissen: Wenn ich ein Gefangener bin, dann bin ich ein Gefangener Jesu Christi.
Jeder von uns könnte hier seine persönliche Not einsetzen und sagen: Wenn ich arbeitslos bin, dann bin ich ein Arbeitsloser Jesu Christi. Wenn ich krank bin, dann bin ich ein Kranker Jesu Christi. Wenn ich in der Schule nicht klarkomme, obwohl ich zu Jesus gehöre, dann steht auch das unter seiner Kontrolle.
Das heißt nicht, dass er Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Schwierigkeiten in der Schule unbedingt geschickt hat. Aber es heißt, dass alles unter seiner Macht steht. Alles, was mir begegnet, muss an ihm vorbei.
Alle Umstände, die in meinem Leben walten, werden letztlich von ihm kontrolliert. Das sagt Paulus hier: Ein Gefangener Jesu Christi.
Der Grund für Paulus’ Gefangenschaft: Sein Dienst an den Heiden
Paulus erklärt dann den direkten, unmittelbaren Grund für sein sträfliches Dasein. Er sagt: „Für euch Heiden! Ein Gefangener Jesu Christi für euch Heiden.“
Das bedeutet, dass Paulus wegen der Ausübung seines Berufs hinter Gittern gelandet ist. Er war Heidenapostel. Paulus sollte diese Botschaft nun vor allem zu den Heiden bringen, auch zu den Juden, aber vor allem zu den Heiden.
Auch ihr gehört jetzt dazu. Ihr seid genauso zur Familie des lebendigen Gottes eingeladen wie wir Juden, die wir historisch das Volk des lebendigen Gottes sind.
Diese Öffnung von Gottes Tür, diese Einladung an die Heiden, die auch uns in Hannover erreicht hat, nahmen ihm seine jüdischen Stammesgenossen und vor allem seine ehemaligen Berufskollegen, viele Rabbiner, besonders übel.
Es war schon schlimm genug, dass er Jesus, den Gekreuzigten, Jesus, den angeblich Auferstandenen, wie sie sagten, als Messias anpries. Aber mit der Öffnung hin zu den Heiden, so sagte man, greift er die alte Ordnung jetzt wirklich in ihren Grundfesten an.
Paulus stellt alles in Frage, was unsere Identität und unsere Selbstachtung als jüdisches Gottesvolk begründet hat. Er wirft alles über den Haufen, und das geht zu weit.
So wird Paulus ein Gefangener Jesu Christi für euch Heiden.
Die dramatischen Umstände von Paulus’ Gefangennahme
Aus der dramatischen Situation, wie sie sich ereignet hat, hat Bruder Wienekamp uns eben vorgelesen. Der Reisebegleiter Lukas hat alles sehr ausführlich und lebhaft berichtet. Wir wollen uns noch einmal kurz vor Augen führen, was dort eigentlich passiert ist.
Als Paulus von einer Missionsreise nach Jerusalem zurückkehrt, wird er in der Öffentlichkeit massiv angegriffen. Die Angriffe kommen von seinen jüdischen Landsleuten im Tempelbereich. Lukas berichtet, dass es Juden aus der Provinz Asien waren, die ihm sogar nachgereist sind. Diese Juden hatten Paulus bereits unterwegs auf seiner Missionsreise getroffen und sich so über ihn aufgeregt, dass sie ihm bis nach Jerusalem gefolgt sind.
Dort haben sie dann ihre Stammesgenossen aufgewiegelt. Lukas schreibt: „Sie sahen ihn, die Juden aus der Provinz Asien, im Tempel und erregten das ganze Volk. Sie legten die Hände an ihn und schrien: ‚Ihr Männer von Israel, helft! Dies ist der Mensch, der alle Menschen an allen Enden lehrt, gegen unser Volk, gegen das Gesetz und gegen diese Städte den Tempel!‘“ Paulus wird also an den jüdischen Pranger gestellt.
Wegen des Aufruhrs kommt sofort die römische Besatzungsmacht und nimmt Paulus zunächst in Schutzhaft. In Apostelgeschichte 21,31 heißt es: „Als sie ihn aber töten wollten, kam die Nachricht hinauf vor den Oberst der Abteilung, dass das ganze Jerusalem in Aufruhr geraten sei. Der Oberst nahm sogleich Soldaten und Hauptleute und lief hinunter zu ihnen.“
Als die Angreifer den Oberst und die Soldaten sahen, hörten sie auf, Paulus zu schlagen. Sie hatten also heftig auf ihn eingeprügelt, doch erst mit dem Eintreffen der römischen Truppen, der römischen Ordnungsmacht, ließen sie ihn in Ruhe. Der Oberst ließ Paulus vorsichtshalber fesseln und nahm ihn gewissermaßen in öffentlichem Gewahrsam in Schutzhaft.
Daraufhin kam es zu einer öffentlichen Verhandlung.
Paulus’ Verteidigungsrede vor dem Volk
Während dieser öffentlichen Verhandlung erhält Paulus die Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. Er steht auf den Treppen des Tempels. Ich empfehle, die Apostelgeschichte Kapitel 21 und 22 einmal durchzulesen. Dort steht beschrieben, wie Paulus vor der aufgebrachten Menge Rechenschaft ablegt.
In Apostelgeschichte 21,39 sagt Paulus: „Ich bin ein jüdischer Mann aus Tarsus in Silizien, Bürger einer namhaften Stadt. Ich bitte dich, erlaube mir, zu dem Volk zu reden.“ Als man ihm die Erlaubnis gab, trat Paulus auf die Stufen und winkte dem Volk mit der Hand. Daraufhin entstand eine große Stille. Er begann, auf Hebräisch zu sprechen: „Ihr Männer, liebe Brüder und Väter, hört mir zu, wenn ich mich jetzt für euch verantworte.“
Als die Menschen hörten, dass er in ihrer Sprache redete, wurden sie noch stiller. Paulus fuhr fort: „Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus, Silizien, aber aufgewachsen in dieser Stadt. Ich wurde mit großer Sorgfalt im alttestamentlichen Gesetz unterwiesen, zu Füßen Gamaliels, und war ein Eiferer für Gott, wie ihr es heute alle seid.“
Dann erzählt Paulus, wie er seine Jugend als eifriger Student des Alten Testaments verbracht hat. Anschließend berichtet er, wie er sich persönlich zu Jesus bekehrt hat. Er beschreibt, wie Jesus sein Leben verändert hat und ihm klar wurde, dass er Jesus Christus braucht, um vor dem lebendigen Gott bestehen zu können.
Die Menschen hören ihm geduldig zu – fast 22 Verse lang. Dann kommt Paulus auf die Heidenmission zu sprechen. In Apostelgeschichte 22,20 sagt er: „Als das Blut des Stephanus vergossen wurde, stand ich dabei, hatte Gefallen daran und bewachte die Kleider derer, die ihn töteten.“ Weiter spricht Paulus davon, wie Gott zu ihm sprach: „Jesus zu mir: Geh hin, denn ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden.“
Die Zuhörer hören ihm bis zu diesem Wort zu, doch dann erheben sie ihre Stimme und rufen: „Weg mit diesem von der Erde! Er darf nicht mehr leben!“ Auf Deutsch heißt das: „Er soll einen Kopf kürzer gemacht werden.“
Das war der Auslöser, der Hauptanstoß dafür, dass Gott die Tür für die Heidenmission öffnete. Nun bricht der Sturm los. Die Römer nehmen Paulus endgültig in Schutzhaft. Sie bringen ihn aus der Öffentlichkeit, gewissermaßen ins Verborgene. In der Nacht wird bekannt, dass eine Verschwörung geplant ist: Einige Leute haben sich zusammengetan, um Paulus umzubringen. Das wird den Römern zu heikel, zumal Paulus die römische Staatsbürgerschaft besitzt.
Deshalb bringen sie Paulus bei Nacht und Nebel mit einer Schutztruppe nach Caesarea und stecken ihn dort erneut ins Gefängnis. Der Prozess gegen Paulus zieht sich etwa zwei Jahre hin. Im Verlauf dieses Prozesses beruft sich Paulus auf den römischen Kaiser und besteht darauf, vor einem ordentlichen römischen Gericht einen fairen Prozess zu erhalten.
Daraufhin bringen sie ihn nach Rom. Dort ist er wieder einige Zeit im Gefängnis. Entweder aus Caesarea oder aus Rom schreibt Paulus dann den Epheserbrief. Man versteht: Das ist die Situation, in der Paulus schreibt. Deshalb kann Paulus sich als „Paulus, der Gefangene Christi, für euch Heiden“ bezeichnen.
Paulus’ Sorge um die Gemeinde trotz eigener Bedrängnis
Das ist das Problem, und man spürt es diesen Zeilen an: Wir werden das nächsten Sonntag auch noch weiter verfolgen. Paulus sorgt sich nicht um seinen eigenen Hals. Das ist sehr bewegend. Vielmehr sorgt er sich um seine Mitchristen, auch um die, die diesen Brief empfangen.
Sie sollen nicht irritiert werden, nicht entmutigt und nicht verunsichert durch seine Situation. Denn es ist verständlich, dass manche in Ephesus gefragt haben werden: „Na ja, wenn das mit dem christlichen Glauben so toll ist, warum lässt Gott dann solche Dinge geschehen? Warum kann der Pastor im Gefängnis sitzen? Er hat das Evangelium verkündet, er hat dafür sein Leben wirklich von Gott umstülpen lassen – warum? Warum macht Gott das? Wie kann das sein?“
Wenn Sie dann weiter in Epheser Kapitel 3 bis zu Vers 13 kommen, nächstes Mal, wird Paulus schreiben: „Darum bitte ich Gott, dass ihr nicht müde werdet wegen meiner Bedrängnisse.“ Verstehen Sie, das ist seine Sorge. Nicht, dass er es ein bisschen bequemer hat, sondern dass die Leute, die seinen Brief lesen, die Menschen, denen er das Wort Gottes verkündet, nicht wegen seiner Situation irre werden.
Gerade in diesen Versen im dritten Kapitel will er ihnen helfen – und auch uns –, diese Situation richtig einzuordnen. Er sagt: Leute, es ist eigentlich gar nicht verwunderlich, dass mich die Juden mundtot machen wollen. Meine persönliche Situation als Gefangener hängt unmittelbar mit dem gefährlichen Geheimnis zusammen, das Gott mir aufgetragen hat. Das ist kein Widerspruch, sondern bedingt einander gewissermaßen.
Dieses gefährliche Geheimnis will er uns jetzt erklären. Möglicherweise hat Gott Paulus erst kurzfristig auf die Idee gebracht, dieses Geheimnis nochmals zu erläutern. Eigentlich wollte Paulus schon bei einem ganz anderen Thema sein. Woher weiß ich das? Das weiß ich aus der Grammatik hier in Epheser 3,1.
Die grammatische Besonderheit und der Einschub des Geheimnisses
Der Satz beginnt mit dem Wort „Deshalb“. Das Verb „sage“ steht dort eigentlich gar nicht. Es wurde von den Übersetzern eingefügt, weshalb ich es auch in Klammern gesetzt habe. Der Satz lautet also: „Deshalb ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch Heiden.“
Nun sucht man das Verb, das diesen Satz abschließt. Wenn Sie auf unserem Zettel danach suchen, werden Sie es lange vergeblich suchen. Das Verb, das diesen Satz abschließt beziehungsweise fortführt, findet sich erst in Vers 14. Das ist eine Herausforderung für jeden Deutsch- oder Griechischlehrer.
Offensichtlich wird Paulus in dieser Situation klar, dass er noch etwas einschieben muss. Er muss erläutern, wie es mit diesem Geheimnis genau ist. Deshalb fügt er vor Vers 14 noch einen Einschub oder eine Parenthese ein – wie man das auch nennen will. Er schiebt gewissermaßen die Information über das Geheimnis dazwischen.
Paulus sagt gewissermaßen: „Ich muss euch das erklären, damit ihr versteht, warum dieses Geheimnis gefährlich ist, was daran dran ist, warum die Botschaft so umstritten ist und warum sie trotzdem Autorität hat.“ Dann werdet ihr verstehen, dass es kein Wunder ist, dass ich dafür hinter Gittern sitze. Außerdem werdet ihr besser damit umgehen können, dass euer Glaube so angegriffen wird, besonders in Ephesus und anderswo, vor allem von der jüdischen Gemeinde.
Alles hat mit diesem gefährlichen Geheimnis zu tun. Das wird jetzt kurz erklärt. Paulus erklärt in den ersten sechs Versen zwei Dinge: Er beschreibt die Quelle des gefährlichen Geheimnisses und den Inhalt dieses Geheimnisses. Diese beiden Punkte wollen wir uns nun kurz ansehen.
Die Quelle des gefährlichen Geheimnisses
Also, zuerst zur Quelle des gefährlichen Geheimnisses, ab Vers 2:
Ihr habt ja gehört, welches Amt die Gnade Gottes mir für euch gegeben hat. Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden, wie ich eben kurz geschrieben habe. Wenn ihr es lest, könnt ihr meine Einsicht in das Geheimnis Christi erkennen. Dieses Geheimnis war in früheren Zeiten den Menschenkindern nicht kundgemacht, wie es jetzt offenbart ist – seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist, also durch den Heiligen Geist, der Quelle des Geheimnisses.
Paulus spricht hier zweimal vom Geheimnis und zweimal vom Begriff der Offenbarung, einmal in Vers 3 und noch einmal in Vers 5. Damit erklärt Paulus, was wir unter einem Geheimnis zu verstehen haben: Ein Geheimnis ist eine neue Offenbarung, die direkt von Gott kommt, die bisher unbekannt war und jetzt aufgedeckt wird.
Die Bibel entfaltet Gottes Plan schrittweise vor unseren Augen – vom Alten Testament bis zum Neuen Testament. Es kommt immer etwas Neues hinzu, unser Blick wird immer weiter, und das Gesamtbild wird immer vollständiger. Zur Zeit von Paulus bedeutete Geheimnis, dass jetzt etwas Neues kommt, ein ganz wichtiger neuer Farbton, eine ganz wichtige neue Station. Diese hat Gott ihm offenbart – bisher unbekannt, jetzt bekannt.
Sie wissen ja, bei einer Botschaft hängt die Glaubwürdigkeit oder Autorität entscheidend von der Quelle ab, aus der sie stammt. Wenn wir etwas in der Bild-Zeitung oder im Spiegel lesen, sagen wir oft: Kann stimmen, kann aber auch nicht stimmen. Wenn etwas in der FAZ, der Zeit oder der Financial Times steht, hat es in der Regel eine größere Vertrauenswürdigkeit, zumindest in unseren Augen. Das muss nicht immer stimmen, denn die einen haben nicht immer Recht und die anderen nicht immer Unrecht. Aber es gibt Quellen, die als seriöser und zuverlässiger gelten, und bei anderen haben wir mehr Zweifel, ob das alles so stimmt, was sie berichten.
Darum verweist Paulus zuerst auf die Quelle. Er macht deutlich: Die Quelle des Geheimnisses ist Gott selbst, das ist Gottes Wahrheit. „Durch Offenbarung ist mir das kundgemacht worden“ (Vers 3), oder „es ist jetzt offenbart“ (Vers 5). Paulus sagt: Das habe ich mir nicht aus meinen theologischen Schatzkästchen zusammengeschrieben, es ist nicht meine theologische Meinung oder religiöse Erfahrung, sondern Gottes Wahrheit, die er offenbart hat und die ich euch nun treuhänderisch weitergebe.
Sie müssen verstehen, dass das, was Paulus predigte, seinen tiefsten Überzeugungen widersprach, die er noch wenige Jahre zuvor gehabt hatte. Paulus war eigentlich ein Philosoph, der seine Theorien im Studierzimmer entwickelt hatte und nun vor der Öffentlichkeit ausbreitete und zur Diskussion stellte. Er sagte das genaue Gegenteil von dem, wofür er vorher gekämpft hatte. Früher verfolgte er die Christen, jetzt war er selbst ein verfolgter Christ.
Der Grund dafür lag darin, dass der lebendige Gott alle seine Vorstellungen über Bord geworfen hatte und ihm seine Wahrheit offenbart hatte. Das ist ganz entscheidend für unseren Glauben: Die Wahrheit, die wir glauben, kommt direkt von Gott. Gott hat sie uns mitgeteilt auf dem Weg seiner Offenbarung in der Heiligen Schrift.
Der Glaube, zu dem Paulus ruft, ist nicht das Produkt einer religiösen Suche, sondern das Ergebnis eines geöffneten Geheimnisses, einer Information, die es vorher nicht gab. Das ist wichtig, denn damit ist Glaube etwas völlig anderes, als sich viele Zeitgenossen darunter vorstellen.
Viele denken, Glaube bedeutet Nichtwissen. So gab es vor einigen Jahren einen Spiegeltitel: „Jenseits des Wissens – Warum glaubt der Mensch?“ Das hieße, Glauben und Wissen seien zwei völlig getrennte Welten. Erst dort, wo das Wissen aufhört, könne der Glaube anfangen und seine Phantasie oder Intuition walten lassen.
Diese Trennung zwischen Glauben und Wissen zeigt sich heute ganz typisch in der Debatte um Schöpfung und Evolution. Da sagt man: Was wir von der Wissenschaft sehen, ist die Evolution, und wenn von Schöpfung die Rede ist, ist das Glauben. Auf der einen Seite steht das Wissen, auf der anderen der Glaube.
Das hat aber nichts mit dem biblischen Glaubensbegriff zu tun. Bei der Frage Schöpfung und Evolution geht es darum, dass zwei verschiedene Glaubensgrundlagen, zwei verschiedene Weltanschauungen dastehen. Mit diesen unterschiedlichen Voraussetzungen geht man an die Fakten heran und versucht, sie zu deuten und zu interpretieren.
Aufgrund des Evolutionsglaubens kommt man zur Evolutionsanschauung, aufgrund des Schöpfungsglaubens zum Schöpfungskonzept oder zur Schöpfungstheorie. Nach biblischem Verständnis gehören Glauben und Wissen jedoch eng zusammen.
Das macht Paulus hier deutlich: „Ich habe es offenbart bekommen von Gott.“ Das ist eine solide Sachinformation und nicht einfach nur eine religiöse Ahnung.
Nun könnte jemand einwenden: „Aber lieber Paulus, das kann ja jeder sagen.“ Bis heute gibt es Leute, die behaupten, eine Offenbarung von Gott bekommen zu haben.
Gott hat bei Paulus und den Aposteln jedoch dafür gesorgt, dass sie besonders legitimiert wurden. Wissen Sie wie? Durch Zeichen und Wunder. In der Umbruchphase, als die Apostel anfingen, diese neue Wahrheit, die auf dem Alten Testament aufbaute, zu verkünden, autorisierte Gott diese besonders ausgewählten Leute und ihre engsten Mitarbeiter, indem er ihnen zu einer bestimmten Zeit die Gabe verlieh, spektakuläre Zeichen und Wunder zu tun. Sie heilten Kranke, und zwar massenhaft, wie das Neue Testament berichtet.
So konnte Paulus gegenüber seinen Kritikern sagen, etwa in 1. Korinther 12,12: „Durch mich sind die Zeichen eines Apostels unter euch geschehen.“ Sie stellten seine Autorität infrage, fragten, woher er komme, ob er nicht zum ersten Zwölferkreis gehört habe, was er ihnen erzählen wolle. Paulus antwortete: „Leute, durch mich sind die Zeichen eines Apostels unter euch geschehen.“ Gott hat das beglaubigt, so wurden die Apostel damals autorisiert. Was diese Leute sagen, ist Gottes Wort.
Darum ist das, was Paulus und seine Kollegen taten, nicht wiederholbar und nicht durch uns fortzusetzen. Gottes Offenbarung ist abgeschlossen und bleibt gültig für uns. Das Geheimnis ist ein für allemal gelüftet. Paulus sagt in Vers 5: „In früheren Zeiten unbekannt, aber jetzt offenbart“ – das heißt bekannt.
Damit ist die Quelle klar: Paulus hat dieses gefährliche Geheimnis direkt von Gott erfahren. „Gott hat es offenbart“, sagt er in Vers 5, „seinen heiligen Aposteln und Propheten offenbart.“ Das waren die Propheten, die es zur Zeit des Neuen Testaments noch gab, als die Bibel noch nicht abgeschlossen war. Es gab einige, wenn auch nicht viele, Propheten, durch die Gott direkt in bestimmte Situationen hineinredete.
Und uns hat das jetzt offenbart, sagt Paulus. Was sollen wir damit tun? Vers 4 sagt: „Wenn ihr es lest.“ Wir sollen es lesen. Gott gibt es direkt an die Apostel, und wir sollen es lesen. Das ist die Quelle des Geheimnisses.
Seitdem ist die Bibel abgeschlossen, und wir sind ausreichend über Gottes Willen informiert. Gott hat alle seine Karten aufgedeckt. Wir müssen sie lesen.
Der Inhalt des gefährlichen Geheimnisses
Okay, so weit. Nun könnte jemand kommen und sagen: Ja, schön und gut, wir glauben dir, lieber Paulus, dass deine Botschaft seriös ist. Wir nehmen dir ab, dass du aufgrund von Offenbarung sprichst. Aber sag mal, lieber Paulus, was ist an dem, was du da sagst, eigentlich so neu? Und was soll an dem, was du sagst, eigentlich so gefährlich sein, dass du dafür so unter Beschuss gerätst – ebenso wie viele andere, die das genauso predigen wie du?
Kommen wir nun zweitens zum Inhalt des gefährlichen Geheimnisses. Erstens zur Quelle, und zweitens zum Inhalt selbst.
Diesen Inhalt fasst Paulus – das ist er dankbar – für uns als Leser in einem Vers zusammen, nämlich in Vers 6. Da sagt er – nehmen wir Vers 5 noch einmal dazu: „Dies war in früheren Zeiten den Menschenkindern nicht kundgemacht, wie es jetzt offenbart ist seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Heiligen Geist, nämlich dass die Heiden Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium.“
Das ist das Geheimnis. Das müssen wir genauer betrachten.
Das große Geheimnis, das Paulus hier lüftet und systematisch entfaltet, und das Gott so in dieser Ausführlichkeit vorher noch nicht offenbart hatte, hängt an dem kleinen Wörtchen „mit“. Dreimal taucht es in diesem Vers auf. Im Griechischen ist das die Silbe „syn“. Das kennen Sie aus dem Wort „Symphonie“, wo Dinge zusammenklingen, ebenso aus „Sympathie“, „Synergie“ oder „Synthese“. Überall, wo etwas zusammengeht, steht dieses Wörtchen „syn“.
Jetzt geht es also um das „syn“, um das „Mit“ – mit den Heiden, mit den Juden. Paulus bringt hier in Vers 6 zugespitzt auf den Punkt, was er vorher in Kapitel 2 ausführlich entfaltet hat. Er sagt – und das müssen wir jetzt genau festhalten: Es gibt für die Heiden wie für die Juden einen einzigen gleichberechtigten Weg, um mit Gott ins Reine zu kommen. Es gibt einen einzigen gleichberechtigten Weg, um Mitglied in Gottes Familie zu werden.
Und dieser Weg besteht darin, dass sie, wie Paulus hier sagt, in Christus Jesus sind. Das heißt, dass sie ihr Leben an ihn klammern, dass sie an ihn glauben und ihn als ihren Herrn anbeten.
Und wie kommt einer zu Jesus hin? Durch das Evangelium. So sagt Paulus: In Christus Jesus, durch das Evangelium, stehen Heiden und Juden auf gleicher Augenhöhe in der Gemeinde.
Die Anstössigkeit des Geheimnisses für das Judentum
Das ist das Geheimnis. Wir müssen uns jetzt klarmachen, dass diese Wahrheit für die Juden in dreifacher Hinsicht anstößig war.
Erstens war es anstößig, weil es heißt, dass auch die Heiden jetzt auf direktem Weg zu Gott kommen, nämlich direkt durch Jesus. Sie müssen nicht erst den Umweg über das Judentum machen, um richtig zu Gottes Volk zu gehören, sondern sie kommen direkt dahin – direkt durch Jesus. Das war anstößig.
Zweitens war es anstößig, dass auch die Juden Jesus brauchen. Auch die Juden brauchen Jesus, den Herrn, um gerettet zu werden. Es gibt für die Juden keinen Sonderweg, der irgendwie an Jesus vorbeiführen könnte. Für sie alle gibt es nur diesen einen Weg, um von Gott angenommen zu werden: durch Jesus Christus über den Weg des Evangeliums. Obwohl die Juden ethnisch das klassische Gottesvolk sind und durch ihre Geschichte einen großen geistlichen Reichtum genießen – das hat Paulus ja nicht bestritten – kommen auch sie jetzt zu Gott allein durch Jesus und nur durch Jesus. Für einen Juden gibt es keinen direkteren Weg mehr in Gottes Familie als durch den Glauben an Jesus.
Also: Auch die Heiden kommen direkt zu Gott durch Jesus, und auch die Juden brauchen Jesus.
Drittens, und das war der Hauptanstoss in dieser neuen Familie, die jetzt durch Jesus entsteht: Heiden und Juden befinden sich auf gleicher Augenhöhe. In der Gemeinde Jesu gibt es keine geistliche Zweiklassengesellschaft mehr. In dieser neuen Familie sind die alten Trennungen überwunden. Der Zaun ist abgerissen, wie Paulus im vorherigen Kapitel geschrieben hat. Es ist jetzt Frieden da – Frieden mit Gott und dadurch auch Frieden untereinander, zwischen all denen, die zu Gott gehören.
Diese geheimnisvolle Familie, in der sich nun alle auf gleicher Augenhöhe begegnen, hat einen Namen: Es ist die Ekklesia Jesu Christi, die Gemeinde Jesu Christi – das ist die neue Familie.
Gerade diesen letzten Punkt, dieses Geheimnis der einen Gemeinde, in der Juden und Heiden auf gleicher Augenhöhe Gottes Kinder sind, hatte bis dahin noch niemand so ausformuliert. Niemand hatte das so deutlich, so systematisch, so konsequent und so stringent bis in die letzte Konsequenz entfaltet wie Paulus. Dieses gefährliche Geheimnis der Gemeinde wird jetzt offenbart, sagt Paulus.
Natürlich hatte das im Alten Testament begonnen. Dort gab es Vorläufer; Gott hatte das Schritt für Schritt vorbereitet. Auch dort waren die Heiden von Anfang an fest in Gottes Blick. Schon bei Abraham sagt Gott: „Durch dich sollen gesegnet werden alle Völker der ganzen Welt.“ Und es wird bei Jesaja gesagt, dass auch die Heiden nach Jerusalem kommen werden, um anzubeten. Jesaja sagt, dass der Messias sich den Heiden zuwenden wird. In Jesaja 49,6 heißt es: „Er wird ein Licht sein auch für die Heiden.“
Das wurde durch Jesus fortgesetzt. Er machte immer deutlich: Mein Umkehrruf, mein Rettungsangebot gilt auch den Heiden. Ich bin zuerst gesandt zu den verlorenen Schafen Israels, aber es war immer klar, dass es auch für die Heiden gilt. Denken Sie an den Hauptmann von Kapernaum oder die syrophönizische Frau – Heiden, die den Weg zu Jesus fanden.
Denken Sie auch an den Missionsbefehl: „Geht hin in alle Welt, und macht alle Völker zu Jüngern.“ Alle Heiden, alle Völker sollen Kinder des lebendigen Gottes werden, und alle Worte Jesu sollen gelehrt werden.
Dann kam Pfingsten – die nächste Station. Dort redet Gott plötzlich öffentlich in nichthebräischen Sprachen. Der Heilige Geist leitet die Jünger an, Gott in Sprachen zu loben und zu preisen, die Menschen aus aller Welt verstehen konnten. Diese Sprachen waren nicht hebräisch. Gott öffnet sich den Heiden – das war deutlich. Es wurde Schritt für Schritt vorbereitet, aber erst durch Paulus offenbart Gott diese Zuspitzung, dieses spezielle Geheimnis der Gemeinde: Wie Juden und Heiden zusammen in einer gleichberechtigten Familie leben. Sie gehören zur Gemeinde Jesu Christi, sind Glieder an seinem Leib und Kinder des lebendigen Gottes. Dadurch gehören sie als Geschwister in einer Familie zusammen, ausgestattet mit dem einen Heiligen Geist.
Das ist das gefährliche Geheimnis, das Geheimnis der Gemeinde Jesu Christi.
Paulus macht das hier mit drei Aspekten in Vers 6 deutlich. Er sagt: „Mit Erben“ – die Heiden sind mit Erben wie die Juden. Das heißt, sie haben in der Gemeinde die gleiche rechtliche Stellung wie die Judenchristen.
Dann sagt er: „Die Heiden sind mit zu seinem Leib gehörig, mit einverleibt.“ Das bedeutet, die Heiligen haben in der Gemeinde die gleiche familiäre Stellung wie die Judenchristen. Nicht nur die gleiche rechtliche Stellung als Erben, sondern auch die gleiche familiäre Stellung. Sie gehören genauso innig zu Gott dazu. Sie sind nicht fern oder nur irgendwie erweitert mit dabei, sondern sie sind genauso im Vaterherzen Gottes wie alle anderen, die durch Jesus hineingekommen sind.
Gott sieht alle seine Kinder mit gleicher Liebe an. Die Vaterliebe macht keinen Unterschied. Sie sind alle Kinder ersten Grades.
Dann fasst Paulus das mit dem dritten Begriff nochmals zusammen: „Mitgenossen der Verheißung.“ Das heißt, alle sind Mitteilhaber der Verheißung. Ganz einfach: Alles, was Gott seinen persönlichen Kindern durch Christus versprochen hat, gilt den Heidenchristen in gleicher Weise wie den Judenchristen.
Verstehen Sie, das ist das ausformulierte Geheimnis der Gemeinde Jesu. Gott hatte es dem Paulus vorbehalten zu offenbaren. Das war sein Plan. Jesus wusste das auch schon, aber er hatte es noch nicht offenbart. Er sagte: „Ihr könnt auch jetzt noch nicht alles fassen. Ich werde euch durch den Heiligen Geist noch weiteres zeigen, wenn ich schon wieder im Himmel bin.“ So ist es dann hier geschehen: Juden und Heiden auf gleicher Augenhöhe als Glieder am Leib Christi in seiner Gemeinde.
Die Ablehnung im rabbinischen Judentum und die Bedeutung der Gemeinde
Und verstehen Sie jetzt, warum die Verkündigung dieses Geheimnisses für Paulus so gefährlich war und warum die klassischen Juden es kaum ertragen konnten?
Dazu müssen Sie noch etwas wissen: Im ersten Jahrhundert nach Christus hatte sich im rabbinischen Judentum in manchen Kreisen eine Haltung entwickelt, die es zur Zeit des Alten Testaments so noch nicht gegeben hatte. Es bildete sich teilweise eine richtige feindselige Haltung gegenüber manchen Heiden heraus. Das lag auch daran, dass sie fürchteten, mit ihnen vermischt zu werden. Manche dieser Befürchtungen waren durchaus berechtigt.
Wenn Sie die alten Quellen lesen, dann finden Sie zum Beispiel, dass selbst wenn ein Heide Jude werden wollte, die Schranken möglichst hoch gehalten wurden. Es gibt einen Bericht, in dem jemand zu einem Rabbi kommt, um Jude zu werden. Der Rabbi soll ihm Folgendes sagen: Er soll erst noch einmal sehr genau überlegen, ob er das wirklich will. Wenn er dann wiederkommt, soll man ihm all die Nachteile aufzählen, die er haben wird, wenn er ins Judentum eintritt. Du wirst dich beschneiden lassen müssen, du wirst viele Gebote erfüllen müssen. Überlege dir das sehr gut, ob du wirklich zu uns kommen willst. Erst wenn er sich trotz all dieser Warnungen durchringt, soll man überlegen, ihn möglicherweise aufzunehmen.
Verstehen Sie, man hat die Schranke hoch gemacht und sich total abgeschottet.
Jetzt kommt Jesus. Er erfüllt alle Verheißungen des Alten Testaments. Er ist der jüdische Messias, derselbe Gott, der das Volk Israel erwählt hatte. Er leistet die Stellvertretung, wie es Jesaja schon angekündigt hatte. Und plötzlich ist der Weg frei. Der Vorhang im Tempel zerreißt, und jetzt dürfen alle kommen. Alle gehen durch dieses eine Nadelöhr hinein und werden Kinder des lebendigen Gottes. So werden sie zu einer völlig neuen Familie in der Gemeinde Jesu Christi zusammengefasst.
Lassen Sie mich das noch in Klammern sagen: Paulus hat nichts von den speziellen Verheißungen des Judentums zurückgenommen. Gott hat sein ursprüngliches Volk nicht nachträglich enterbt. Die besondere Rolle des jüdischen Volkes in geschichtlicher Hinsicht wird überhaupt nicht bestritten. Das kann man sehr schön in Römer 9 und Römer 11 nachlesen.
Die Propheten sagen, dass Jesus, wenn er am Ende der Zeit wiederkommt, nach Israel zurückkehren wird und seine Füße auf dem Ölberg stehen werden. All das nimmt Paulus nicht zurück. Er sagt in Römer 11, dass Gottes Gaben und Berufung unwiderruflich sind. Aber gerettet wird der Einzelne jetzt, wo Jesus gekommen ist, allein durch ihn.
Schon jetzt sind in der Gemeinde Jesu Christi all diese Schranken, Zäune und Abtrennungen zwischen Judenchristen und Heidenchristen niedergerissen. Das ist ein ganz erstaunliches Ergebnis, das wir hier haben. Die Gemeinde Jesu Christi ist etwas radikal völlig Neues.
Gott hat seinen eigenen Sohn geschickt, und er hat an Pfingsten den Heiligen Geist gesandt. Jetzt gibt es diese radikale Zäsur: Die Gemeinde Jesu Christi begnadigt und gleichberechtigt Juden und Heiden – allein durch Jesus.
Wissen Sie, das ist die multikulturelle Gesellschaft, wie Gott sie sich gedacht hat. Das ist Multikulti im biblischen Sinne. Aus allen Nationen, aus allen Völkern, aus allen Winkeln der Welt kommen sie zusammen durch Jesus.
Und diese multikulturelle Gesellschaft funktioniert, weil sie unireligiös ist. Sie ist eben nicht multireligiös, sondern unireligiös. Sie wird zusammengehalten durch den einen Glauben an den einen Herrn und Retter Jesus Christus.
So hat es Charles Wesley in seiner berühmten Hymne gesagt: „Erkoren aus allen Völkern, doch als ein Volk gezählt, ein Herr ist’s und ein Glaube, ein Geist, der sie beseelt. Erkoren aus allen Völkern, doch als ein Volk gezählt.“
Das zeigt die Macht Jesu. Denn all das wurde nur durch ihn möglich. Afrikaner und Europäer, Orientalen und Amerikaner, Juden und Heiden – alle auf gleicher Augenhöhe in einer Familie, allein durch Jesu Erlösung als Glieder an seinem Leib.
Zum Beispiel die Jüdin Elli und der deutsche Wachsoldat, der im Konzentrationslager arbeiten musste. Sie kannten sich von der Schule, eine Journalistin hat davon berichtet.
Als Elli einen Fluchtversuch aus dem Konzentrationslager unternimmt, wird sie von dem deutschen Soldaten entdeckt. Elli gibt auf und sagt: „Er schießt mich, doch es lohnt sich nicht mehr zu leben.“
Der deutsche Soldat antwortet: „Nein, es lohnt sich immer zu leben, solange du weißt, für wen du lebst. Sieh zu, dass du flüchtest, ich habe nichts gesehen. Aber versprich mir, Jesus Christus zu suchen, bis du weißt, warum nur er dein Leben lebenswert macht.“
Elli klettert über den Zaun in die Freiheit und hört dann hinter sich Schüsse, die den jungen Mann treffen, der von seinen Kollegen weggeschleppt und später wegen Fluchthilfe hingerichtet wird.
Die Frage lässt Elli nicht mehr los: Wie kann es sein, dass jemand sein Leben riskiert, damit ich Jesus Christus kennenlerne?
Solche Leute bringt Jesus Christus in seiner Gemeinde zusammen. Dabei ist nicht entscheidend, wo jemand herkommt, mit welcher Tradition er groß geworden ist oder in welche Schuld er sein Leben möglicherweise verstrickt hat. Entscheidend ist nur, ob er zu Jesus hinkommt.
Oder denken wir an ein anderes, ganz ungleiches Paar: Steve Saint und den Mörder seines Vaters, einen Auca-Indianer.
1956 gehörte Steve Saints Vater, Nate Saint, zu den Missionaren, die nach Ecuador in den Urwald gingen. Jim Elliot war auch dabei. Sie wollten die Auca mit dem Evangelium erreichen. Alle Männer wurden brutal getötet.
Aber einige Zeit später wagten ihre Familien zusammen mit den Kindern einen zweiten Versuch. Sie kamen zurück zu den Indianern, die ihre Männer und Väter getötet hatten.
Schließlich fand der Indianer, der Nate Saint mit einem Speer ermordet hatte, zum echten Glauben an Jesus Christus. Dann wurden Steve Saint und der Mörder seines Vaters Freunde. Sie wurden Freunde und Brüder, weil Jesus sie in Gottes Familie zusammenbrachte.
„Erkoren aus allen Völkern, doch als ein Volk gezählt. Ein Herr ist’s und ein Glaube, ein Geist, der sie beseelt“ – das ist das Geheimnis der Gemeinde, und dieses Geheimnis hat Paulus für uns aufgedeckt.
Die Bedeutung der Gemeinde für uns heute
Liebe Gemeinde,
ich denke, es ist für uns viel zu selbstverständlich geworden, dass es die Gemeinde Jesu Christi in dieser direkten Beziehung zu Gott gibt, weil wir es nicht anders kennen. Darüber staunen wir kaum noch, dass wir als Heiden dazugehören dürfen. Darüber freuen wir uns oft kaum noch, dass wir zur Gemeinde gehören dürfen. Das beschämt uns kaum noch, dass wir wirklich dabei sein dürfen.
Darüber stöhnen wir vielleicht manchmal innerlich in unserer Borniertheit, dass wir uns auch noch zur Gemeinde halten sollen. Verstehen Sie, wir müssen wieder ein Gespür dafür bekommen, was für eine Ehre das ist, was für ein großes Vorrecht, was für ein großes Geheimnis die Gemeinde Jesu Christi ist.
Das Geheimnis wird so vor unseren Augen hier gelüftet, dass wir Jesus dafür ehren und dass wir darüber genauso jubilieren wie John Wesley in seiner Hymne. Das heißt jetzt sehr persönlich: Wer sich im Glauben an Jesus Christus klammert, der wird radikal versetzt, der wird versetzt hinein in diese göttliche Familie des Jesus Christus.
Und das müssen Sie für sich geklärt haben: Hat diese radikale Versetzung in Ihrem Leben stattgefunden? Gehören Sie hinein in diese Familie Gottes, diese Familia Dei? Gehören Sie zu Jesus, dann gehören Sie auch zu seiner Gemeinde. Und dann kann Sie das nicht kalt lassen, dann kann Sie das nicht mutlos lassen, und dann kann Sie das nicht träge lassen und nicht stumm lassen.
Dann werden Sie wie Paulus davon beseelt sein, auch andere hineinzurufen in diese Gemeinde. Lasst uns doch lernen, neu darüber zu staunen, dass der allmächtige Gott auch uns Heiden so weit entgegengelaufen ist, dass er das getan hat: dass der allmächtige Gott seinen eigenen Sohn auch für uns auf den Weg geschickt hat.
Und dann hat er uns nach Hause geholt, und er hat uns zu seinen Kindern gemacht und zu Familienmitgliedern erster Klasse. Und das findet einen sichtbaren Ausdruck am Tisch des Herrn, wie man das Abendmahl ja auch nennt.
Das Abendmahl dokumentiert die Gemeinschaft, die Jesus Christus selbst stiftet. Mit dem Abendmahl sagt er nochmals: Ihr gehört zu mir, weil ich alles für euch gegeben habe. Das Abendmahl ist eine große Predigt, die Jesus uns als Gemeinde gegeben hat.
Er ruft uns dazu, dass wir ihn und den allmächtigen Gott, seinen Vater im Himmel, dafür loben, dass er gerufen hat und wir das sein dürfen, was die größte Ehre in dieser Welt ist: Gemeinde Jesu Christi.
Amen.