Ich habe in den letzten Tagen eine kleine Geschichte gelesen, die ich zum Einstieg vorlesen möchte. Jemand berichtet, dass Bekannte ein Vogelküken entdeckt hatten, das aus dem Nest gefallen war.
Angesichts der Hilflosigkeit des kleinen Piepmatzes stellte sich plötzlich die Frage: Was tun mit dem kleinen Kerl? Soll man ihn liegen lassen, bis ihn die nächste Katze entdeckt? Nein, das kam nicht in Frage. Stattdessen entschieden sie sich, den kleinen Vogel behutsam aufzuheben, heimzutragen, ein passendes Gehege zu basteln und ihn gesund zu füttern.
Die Bibel hat dafür ein Wort. Jesus sagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Das bedeutet, denjenigen Gutes zu tun, die in Not geraten sind und sich selbst nicht helfen können. Wer sich so großzügig zeigt, dem begegnet auch Gott großzügig.
Ursprung und Bedeutung des Begriffs „Barmherzigkeit“
Die Jahreslosung für dieses Jahr lautet: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.“
Ich habe nachgelesen, woher dieses Wort in der deutschen Sprache stammt. Besonders die Siebenbürger werden sich darüber freuen. Denn es waren einst gotische Missionare aus Siebenbürgen, die nach Süddeutschland kamen, um dort zu evangelisieren.
Diese Missionare fanden jedoch kein Wort in der hiesigen Sprache, das „barmherzig“ ausdrückte. Was sie aber entdeckten, war ein Wort für „arm machen“ oder „berauben“. Dieses Wort lautete „arman“ oder „armen“. So nannte man es, wenn jemand ausgeplündert wurde und dadurch arm gemacht wurde.
Nun setzten die Missionare einfach vor dieses Wort „armen“ eine Silbe, die das Wort ins Gegenteil verkehrt. Das kennen wir auch in der deutschen Sprache. Zum Beispiel: „symmetrisch“. Wenn ich nur den Buchstaben „a“ davor setze, habe ich das genaue Gegenteil, nämlich „asymmetrisch“. Oder: „typisch“. Wenn ich ein „a“ davor setze, wird daraus „atypisch“, also genau das Gegenteil.
Das haben also die gotischen Missionare auch gemacht. Sie setzten vor „arman“ die Silbe „er-“. Zur Verstärkung kam noch eine Silbe hinzu, die sich „er“ nannte. So entstand das Wort „Erbarmen“. Es bedeutet, ein Herz für die Armen zu haben und sie ganz von ihrer Armut zu befreien.
So mühsam war es also, für Süddeutsche das Wort „Erbarmen“ zu buchstabieren. Ich hoffe, wir sind heute ein bisschen schneller damit.
Einführung in den Predigttext und zentrale Bibelstelle
Wenn ihr die Bibel aufschlagen wollt – und darum bitte ich euch, Herr Montmunter –, bringt euch immer wieder eure Bibel mit, ebenso Stifte und etwas zum Schreiben, um mitzudenken.
In Lukas 6 ist unser Predigttext, die Jahreslosung: Lukas 6,36: „Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Als Freund der Zahlen schaue ich immer, wo ein Vers in einem Text steht. Dieser Vers befindet sich ziemlich genau in der Mitte der Bergpredigt, so wie sie uns Lukas wiedergibt.
Im Matthäusevangelium haben wir die Langversion der Bergpredigt, nämlich Matthäus 5 bis 7. Dort steht ziemlich genau in der Mitte ein ähnlicher Satz, der im gleichen Zusammenhang steht. Ich weiß nicht, warum Lukas und Matthäus hier etwas Unterschiedliches wiedergeben, aber Matthäus sagt: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Man könnte also auch sagen: Die Barmherzigkeit ist der vollkommenste Ausdruck unseres christlichen Lebens. „Seid barmherzig“ und „seid vollkommen“ sind vielleicht genau dasselbe.
Verschiedene Aspekte der Barmherzigkeit im Neuen Testament
Die griechische Sprache kennt manchmal verschiedene Wörter für denselben Begriff, den wir im Deutschen verwenden. Manchmal ist es auch umgekehrt. Im Fall der Barmherzigkeit ist es tatsächlich so, dass das Griechische uns mehrere Begriffe bietet.
Zum Beispiel finden wir in Lukas 6,36 den Satz: „Darum seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Hier meint der Text oder das Wort das rettende Erbarmen Gottes. Gott erbarmt sich, um zu retten – aus einer Gefahr, möglicherweise aus einer tödlichen Gefahr.
Es war auch genau dasselbe Wort, das Paulus verwendet, nachdem er im Römerbrief elf Kapitel lang das Evangelium beschrieben hat, also die Rettung Gottes. Im zwölften Kapitel schreibt er im ersten Satz: „Ich ermahne euch durch die Erbarmungen Gottes,“ dass ihr eure Leiber hingebt. Das Erbarmen Gottes soll also Konsequenzen haben. Gott hat euch sein Erbarmen geschenkt zur Errettung, und daraus folgt etwas.
Die Barmherzigkeit Gottes ging so weit, dass im Hebräerbrief, Kapitel 2, geschrieben wird, dass Gott Mensch wurde und in allen Dingen genau wie wir versucht wurde. Das geschah, um barmherzig zu sein und ein treuer hoher Priester zu werden.
Die Barmherzigkeit, wie die Bibel sie beschreibt, steht also einmal für das rettende Handeln Gottes für uns.
Ein anderer Begriff, den wir oft ähnlich übersetzen, ist ein Wort, das etwa mit Mitgefühl wiedergegeben werden kann. Zum Beispiel in Matthäus 9,36: Dort ist der Herr Jesus unterwegs, um überall zu predigen. Er schaut sich die Menschen an und ist ganz erschüttert über ihren geistlichen Zustand.
Es heißt dort: „Und als er die Menschenmengen sah, jammerte sie ihn, das heißt, er erbarmte sich über sie.“ Dieses Mitgefühl, das hier gebraucht wird, ist ein Wort, das ungefähr sagt, dass einem das Herz im Leib umgedreht wird. Hier geht es also nicht um das rettende Handeln, sondern eher um das Gefühl, das jemand hat, wenn es ihm innerlich weh tut angesichts der Not eines anderen Menschen.
Das ist genau das Gleiche, wie als der Herr Jesus eines Tages einen Aussätzigen trifft, sich über ihn erbarmt, die Hand ausstreckt, ihn anfasst und sagt: „Sei gesund!“
Natürlich finden wir das auch im Gleichnis vom sogenannten Schalksknecht, der eine riesige Schuld hatte, die er unmöglich wieder abzahlen konnte. Dort heißt es: „Und als dem Herrn das deutlich wurde, erbarmte er sich über ihn und schenkte ihm die ganze Schuld.“
Das Wort kommt auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn vor, wo der Vater dem Sohn entgegenläuft, der abgerissen daherkommt. Sein Mitgefühl als Vater lässt ihn nicht mehr im Haus bleiben, sondern er läuft ihm entgegen.
Selbstverständlich findet sich das auch im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der sich über den Halbtotgeschlagenen erbarmt und sein Gefühl zeigt.
Zusammengefasst bedeutet Erbarmen einmal das rettende Handeln Gottes. Es beschreibt aber auch das Mitgefühl. In einem anderen Zusammenhang drückt es einfach die Mitmenschlichkeit aus. Das ist das, was man dem Christentum insgesamt vielleicht ein wenig zurechnet – die Nächstenliebe.
Wir lesen das auch hier im Lukasevangelium, Kapitel 10, Vers 37. Dort erzählt der Herr Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Er stellt seinem Gegenüber in Vers 36 die Frage, wer sich jetzt als Nächster erwiesen habe. In Vers 37 antwortet sein Gesprächspartner, es sei der, der die Barmherzigkeit an ihm tat.
Barmherzigkeit als göttliches Wesen und biblische Verheißung
Das rettende Erwärmen Gottes, das Mitgefühl Gottes und einfach auch die Menschlichkeit zeigen sich darin, Menschen, die in äußerer Not sind, Hilfe zu bringen. So sagt Herr Jesus im Matthäusevangelium in einem Paralleltext: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Im nächsten Satz fordert er uns auf, Almosen zu geben an den, der sie nötig hat.
Wir sehen also, dass das Wort „Erbarmen“ eine ziemlich breite Bedeutung hat. Aus Gottes Sicht, in seinem Handeln, denken wir an Dinge wie sein Wirken im Alten Testament. Mich hat es sehr gefreut, als ich im zweiten Buch Mose, Kapitel 33, festgestellt habe, dass Barmherzigkeit ein Name Gottes ist. Im zweiten Mose 33, Vers 19, steht Folgendes:
Gott spricht zu Mose, der ihm begegnen wollte: „Ich will alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen und will den Namen des Herrn vor dir ausrufen.“
Wir lesen weiter, welchen Namen Gott ausspricht: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich.“ Barmherzigkeit ist also ein Name Gottes im Alten Testament.
Einmal besuchte, ich glaube, Pfarrer Wilhelm Busch einen Menschen, der mit ihm ein Fest planen wollte oder es war eine Beerdigung – ich weiß es nicht mehr genau. Dieser Mann hatte es nicht so mit der Bibel. Er sagte zu Wilhelm Busch: „Aber gell, ich möchte einen Vers aus dem Neuen Testament, die sind freundlicher und voller Liebe. Nichts aus dem Alten Testament.“
Darauf antwortete Wilhelm Busch: „Sie meinen also Sätze wie ‚Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte‘?“
„Ja“, sagte der Mann, „genau sowas.“
„Und Sie wollen nicht, dass ich einen Satz verwende wie ‚Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen‘?“
„Ja, genau, sowas will ich nicht hören.“
Da sagte Wilhelm Busch: „Da wissen Sie es, nur ein Problem. Der erste Vers stammt aus dem Alten Testament und der zweite aus dem Neuen.“
Wir können Gott nicht einfach in Altes und Neues Testament aufteilen. Die Barmherzigkeit Gottes ist das Wesen unseres Gottes. Diese Barmherzigkeit wird besonders deutlich in der Menschwerdung Jesu.
Wenn ihr eure Bibel offen habt, öffnet das Lukasevangelium und blättert zurück ins erste Kapitel. Dort ist der Lobgesang von Zacharias aufgeschrieben. Er sagt in Vers 78, dass Gott uns begegnet ist durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes. Durch diese Barmherzigkeit hat uns das Licht aus der Höhe besucht.
Barmherzigkeit ist also die gebende Liebe Gottes. Das haben wir eben auch im zweiten Lied gesungen. Das hat mich sehr gefreut: „Du Heiliger, gabst deinen Sohn.“ Denn ohne diese Barmherzigkeit hätten wir keinen Zugang zu Gott finden können.
Es ist Gottes Erbarmen, das unabhängig davon, ob wir es wert sind, sich zu uns herabneigt und uns Rettung bringt.
Die Motivation für barmherziges Handeln
Liebe Freunde, diese Barmherzigkeit Gottes darf unsere Motivation sein im Umgang mit anderen Menschen – auch im kommenden Jahr. Denn ich weiß: Gott schenkt mir seine Barmherzigkeit.
Seine Barmherzigkeit ist dabei der Maßstab – nicht meine Barmherzigkeit, sondern seine. Es ist sehr interessant, wenn man über Barmherzigkeit liest, vor allem im Alten Testament, dass dieser Begriff sehr oft im Zusammenhang mit der Schuld der Menschen gebraucht wird. Fast immer, wenn Gott im Alten Testament von Barmherzigkeit spricht, erwähnt er auch Gnade und Vergebung der Schuld.
Das heißt, Gottes Barmherzigkeit zeigt sich dort am deutlichsten, wo es um die Schuld von Menschen geht – und nicht um unsere finanzielle Verarmung, unsere Krankheit oder irgendein Unglück. Die Barmherzigkeit Gottes offenbart sich vor allem dort, wo es um unsere Schuld geht. Er neigt sich zu uns herab.
Ich liebe manche Lieder von Manfred Siebald. Er ist ja inzwischen auch schon ein älterer Herr. Die Jüngeren kennen ihn vielleicht gar nicht mehr so gut. Er war unser Liedermacher, als wir junge Kerle waren. Seine Texte sind großartig. Ich habe ein Lied herausgesucht, das die Barmherzigkeit Gottes sehr schön beschreibt:
Warum bin ich noch immer hier in seiner Hand?
Warum ließ mich Gott wohl noch nicht fallen, nie in all den Jahren, seit er mich fand?
Warum bin ich noch immer hier in seiner Hand?
Hat er nicht tausendmal schon Grund gehabt, mich im Zorn zu verwerfen?
Und hat er mich nicht noch tausendmal fester gefasst, mir verziehen, wenn ich darum bat?
Warum bin ich noch immer hier in seiner Hand?
Bin ich nicht sperrig wie ein altes Holz und so kantig und rau wie ein Stein?
Reiß mich selber oft blutig am eigenen Stolz, passe in keine Hand hinein?
Doch ich bin noch immer hier in seiner Hand, und er formt mich, glättet meine Kante, nahm mich, wie ich war, doch lässt mich nicht, wie er mich fand.
Warum bin ich noch immer hier in seiner Hand?
Mich macht das Grübeln müde, und mir fällt keine Antwort als diese mehr ein:
Das, was ich nicht verstehe und was mich doch hält, muss die Liebe Gottes sein.
Sie hält mich noch immer hier in seiner Hand, und mein Dank ist größer als mein Denken,
so wie seine Liebe größer ist als mein Verstand.
Liebe hält mich noch immer hier in seiner Hand,
Liebe hält mich noch immer hier in Gottes Hand.
Nirgends zeigt sich die Barmherzigkeit Gottes so deutlich wie angesichts unseres eigenen Versagens, unserer Schuld und Sünde ihm gegenüber.
Die Herausforderung der Jahreslosung: Barmherzigkeit leben
Unsere Schwester Hu Dietrich, die schon lange beim Herrn ist und diese Gemeinde mitgegründet hat, hat einmal die Frage gestellt: Haben uns die Erbarmungen Gottes barmherzig gemacht? Wenn ich euch alle fragen würde: Lebt ihr vom Erbarmen Gottes? Dann würdet ihr wahrscheinlich alle – zumindest um einen guten Eindruck zu machen – mit Ja antworten.
Diese Frage soll uns nun auch zur Jahreslosung führen: Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist. Ihr seid also auch barmherzig. Haben uns die Erbarmungen Gottes barmherzig gemacht?
Wir wollen uns den Text der Jahreslosung aus Lukas 6 jetzt etwas genauer anschauen. Zunächst einige sprachliche und inhaltliche Vorbemerkungen, damit wir wissen, wovon wir sprechen.
Lukas 6,36: Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.
Ich habe vorhin gesagt, dass dieser Vers mitten im Bericht über die Bergpredigt steht und deshalb eine zentrale Bedeutung hat. Ich habe diesen Bericht über die Bergpredigt im Lukasevangelium kurz überflogen und festgestellt, dass er fünf verschiedene Themen anspricht. Damit macht er uns deutlich, was die Grundlage, die Motivation und vielleicht auch die Pflicht unserer Barmherzigkeit ist.
Wir sollen barmherzig sein, weil wir nach Vers 20 bis 27 zu beglückwünschen sind. Die sogenannten Seligpreisungen kann man auch mit „zu beglückwünschen sind“ übersetzen. Wir sind zu beglückwünschen, wenn wir die Liebe Gottes und seine Barmherzigkeit für uns erfasst haben. Deshalb sagt Jesus: Seid barmherzig!
Ein weiterer Grund ist in Vers 37 und den folgenden Versen zu finden. Dort heißt es, dass wir so gerichtet werden, wie wir andere richten. So wie wir mit anderen umgehen, so wird Gott mit uns umgehen. Das sagt Vers 38 am Ende: „Denn genau mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.“
Vers 37 lautet zunächst: „Richtet nicht, damit ihr nicht auch gerichtet werdet; verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet; vergebt, dann wird euch vergeben.“
Ein dritter Grund für unsere Barmherzigkeit wird ab Vers 43 genannt. Es geht dort um das Bringen guter Frucht. Barmherzig zu sein mit dem anderen, wenn er an mir schuldig wird, ist gute Frucht, so wie Jesus sie meint.
Letztlich spricht Jesus am Ende von Kapitel 6 davon, dass wir unser Lebenshaus auf dem Felsen bauen sollen. Er stellt dies genau in den Zusammenhang mit der Barmherzigkeit. Dort, wo wir barmherzig leben, ist unser Leben auf festem Grund gegründet.
Der Hebräerbrief sagt einmal: „Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde.“ Dies geschieht durch Gnade. Dort, wo die Gnade Gottes, die Barmherzigkeit Gottes unser Leben prägt, erfahren wir geistliche Befestigung.
Das Vorbild Jesu als Motivation für Barmherzigkeit
Schauen wir wieder auf das Vorbild unseres Herrn, Vers 35. Das ist der Satz, der unserer Jahreslosung direkt vorangestellt ist. Dort entdecken wir das Handeln Jesu: Vielmehr liebt eure Feinde!
Ist es nicht genau das, was er getan hat? Haben wir nicht schon aus Römer 5 gelernt, dass er uns geliebt hat, als wir noch seine Feinde waren? Tut Gutes und leidet, ohne etwas dafür zu hoffen! Kam er nicht, um Gutes zu tun? Ist er nicht gekommen für die Kranken und nicht für die Gesunden? Ist er nicht gekommen für Sünder statt für Gerechte? Ist er nicht gekommen, um zu retten statt zu richten?
Ohne etwas zu hoffen, und tatsächlich lehnen die meisten Menschen ihn sogar ab. Hat Jesus das überrascht? Hat er das nicht gewusst? Doch, und dennoch hat er sein Leben gegeben. Und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein.
Er hat sich als Sohn Gottes erwiesen, indem er die Barmherzigkeit Mensch werden ließ. Und Gott ist ungütig gegen die Undankbaren und Bösen. Das hat Jesus am Kreuz ausgerufen: „Mein Gott, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Es war Gottes Barmherzigkeit mir gegenüber, obwohl es ja auch meine Schuld war, die ihn ans Kreuz genagelt hat.
Und er ist barmherzig für die Undankbaren. Ich habe Gott oft gedankt im vergangenen Jahr, oft, aber auch oft nicht. Manchmal habe ich durch mein Leben nicht die Antwort gegeben, die er verdient hätte. Und wie hat Gott geantwortet? Hat er geantwortet, indem er alles Gute entzog und sagte: „Jetzt will ich dich mal spüren lassen, wie es ist, wenn du mich nicht mehr hast?“ Verdient hätte ich es ganz gewiss. Aber er war barmherzig – auch einem Undankbaren wie mir.
Wenn Jesus von Barmherzigkeit spricht, dann spricht er nicht nur von der Not, die man sehen kann, sondern auch von der Not, die man nicht sieht. Warum handelt ein Mensch, wie er handelt? Wie oft haben wir uns im vergangenen Jahr vielleicht über irgendeinen Menschen wegen seines Handelns aufgeregt?
Wenn Jesus mich so behandeln würde, dann hätte ich schon lange keine Chance mehr. Aber er hat tiefer gesehen, er hat meine verborgene Not gesehen. Und, Geschwister, das ist Barmherzigkeit: Sie sieht nicht nur das Handeln eines Menschen, sondern auch sein Herz. Warum ist er so? Was hat ihn so gemacht? Was prägt ihn?
Jesus blickt hinter unsere Fassade. Das ist das Wesen göttlichen Erbarmens: Er beurteilt nicht nur das Handeln, sondern befreit wirklich, so wie es die Goten und Süddeutschen einst gelernt haben, Verarmte von ihrer Armut.
Praktische Konsequenzen der Jahreslosung für das Leben
Nun ist die Jahreslosung nicht zuerst ein Text oder nicht nur ein Text, der vom Erbarmen Gottes spricht, wie wir es jetzt betrachtet haben, sondern sie ist eine Aufforderung an uns: Seid barmherzig! Wie euer Vater barmherzig ist.
Was bedeutet das für mich? Was soll die Barmherzigkeit Gottes in meinem Leben bewirken? Wie kann ich sie leben und wie kann ich sie weitergeben? Einige Dinge möchte ich uns nennen, wie wir Gottes Barmherzigkeit beantworten können.
Die erste Antwort finden wir in Römer 12,1. Ich habe vorhin schon einmal erwähnt, dass Paulus elf Kapitel lang die Gnade Gottes beschrieben hat, das Erbarmen Gottes, die Rettungstat in Jesus. Dann sagt er im Kapitel 12, Vers 1: „Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, aufgrund der Erbarmungen Gottes, also all dessen, was Jesus für euch getan hat, eure Leiber als ein lebendiges, heiliges und gottwohlgefälliges Opfer hinzugeben, was euer vernünftiger Gottesdienst ist.“
Die erste Antwort auf das Erbarmen Gottes uns gegenüber ist die Hingabe unseres Lebens an ihn. Wenn du mich so sehr liebst, wenn du dich so erbarmst, dann kann mein Leben nirgendwo besser aufgehoben sein als in deinen guten Händen. Es kann nirgends besser eingesetzt werden als dazu, deinen Willen zu tun.
Wenn wir Barmherzigkeit leben wollen, dann leben wir das natürlich nicht nur als Antwort Gott gegenüber, sondern das soll man auch gegenüber anderen spüren. Wir haben in Lukas 6 gelesen, im Vers 27: „Ich sage euch, liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen!“ Und im Vers 35 noch einmal: „Vielmehr liebt eure Feinde, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“
Barmherzigkeit zu leben bedeutet also, sich über den zu erbarmen, der an mir schuldig wird. Ich möchte, dass wir das wirklich begreifen: Die Barmherzigkeit Gottes zeigt sich in erster Linie an seinem Umgang mit unserer Schuld, mit unserer Sünde. Da zeigt sich die Barmherzigkeit Gottes.
Er neigt sich herab in unsere Schuld. Er verurteilt uns nicht deswegen. Das ist meine große Hoffnung. Sonst hätte ich im vergangenen Jahr tausendfach die Hoffnung verlieren müssen wegen meiner Schuld. Aber er stempelt mich nicht ab, er stößt mich nicht weg. Nein, er neigt sich in seiner Barmherzigkeit herab in meine Schuld, in meine Unzulänglichkeit, in meine Unvollkommenheit, in mein Versagen – welch ein Gott!
Deswegen sagt er: Lebt Barmherzigkeit genau so, dass wenn euch jetzt wiederum jemand schlecht behandelt, ihr ihn mit Barmherzigkeit behandelt. Der Weg zum Überwinden der Bitterkeit ist immer das Gebet für unsere Feinde. Nur so können wir die Bitterkeit überwinden.
Wenn dich im vergangenen Jahr Leute schlecht behandelt haben, genervt, geärgert oder gedemütigt haben, wie willst du es anders überwinden als, indem du barmherzig reagierst – indem du für sie betest, nicht gegen sie?
So hat es Stephanus getan, als ihm die Steine nicht nur um die Ohren flogen, sondern auch auf die Ohren. Er betete: „Vater, behalte ihnen diese Sünde nicht!“ Barmherzig zu sein bedeutet, nicht zurückzuschlagen.
In Lukas 6, Vers 28 heißt es: „Segnet, die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen.“ Noch einmal: nicht zurückschlagen, sondern überlegen, was den anderen so gemacht hat, warum er so an mir handelt.
Barmherzigkeit und Urteil: Ein Balanceakt
Barmherzig zu sein bedeutet auch, nicht zu richten. Direkt nach unserer Jahreslosung heißt es im Vers 37: „Richtet nicht.“ Doch müssen wir nicht manchmal auch beurteilen? Als Eltern, Lehrer, in der Gemeinde oder am Arbeitsplatz ist es manchmal nötig zu sagen: „Hör mal, so geht das nicht, das ist falsch, das macht man nicht, und das wird Konsequenzen haben.“ Ja, das müssen wir.
Aber weißt du, das Handeln der Barmherzigkeit heißt, dem anderen nicht nur zu sagen, was er falsch gemacht hat und welche Konsequenzen das hat, sondern dies mit einem Herz des Erbarmens zu tun und für ihn da zu sein. Ich wende mich nicht von ihm ab, spreche ihm nicht das Urteil aus und drehe mich dann auf dem Absatz um und gehe weg. Genau das macht der Teufel: Er zeigt uns die Sünde klar auf und dreht sich dann weg. Christus hingegen zeigt uns die Schuld, um sich herabzuneigen, zu vergeben und weiterzuhelfen. Das ist genau das, was er von uns will – nicht zu urteilen.
Jakobus sagt einmal: „Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.“ Was mich auch sehr bewegt hat in Bezug auf die Barmherzigkeit, ist Lukas 6,41: „Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken in deinem eigenen Auge aber nimmst du nicht wahr.“ Barmherzigkeit und Demut gehören immer zusammen. Ein hochmütiger Mensch wird nie barmherzig sein. Er wird auf andere herabschauen, sie verurteilen, aburteilen und in eine Schublade stecken, die er mit einem Vorhängeschloss sichert.
Doch die Demut befähigt uns zur Barmherzigkeit. Wenn ich begreife, dass ich nur von Gottes Barmherzigkeit lebe – trotz meiner Schuld –, dann kann ich auch anderen gegenüber barmherzig sein. Sogar in der Ehe wird uns das gesagt: Petrus schreibt im ersten Petrusbrief 3,7, dass Männer mit ihren Frauen als dem „schwächeren Gefäß“ Einsicht zeigen sollen. Im Vers 8 spricht er davon, dass wir barmherzig sein sollen.
Wie sind wir in unseren Ehen? Wie sind wir unseren Kindern gegenüber? Haben wir in Barmherzigkeit gehandelt oder in knallharter Forderung und Aburteilung? Paulus hat doch den Galatern gesagt: „Wenn einer von der Sünde übereilt wird, sollen ihm die anderen mit Sanftmut zu Recht helfen und die Last des anderen tragen, statt ihn zu verurteilen.“ (Galater 6,1-2)
Die Warnung vor Heuchelei und das Gleichgewicht von Recht, Barmherzigkeit und Glauben
Und dann hat mich noch ein Satz sehr beschäftigt, und damit bin ich auch noch nicht fertig. Wenn ihr die Bibel da habt, schlagt mal auf in Matthäus 23, Imphirs 23. Jesus redet hier zu den Pharisäern, als zu denen, die es ganz besonders genau genommen haben – so wie wir. Wir nehmen es ja auch genau. Wir sind ja die Bibeltreuen, wir halten Gottes Wort hoch, wir schauen genau hinein und nehmen Gottes Wort noch wörtlich. Ja, das ist gut, sehr gut. Nur Gott nimmt es auch wörtlich.
Seid ein bisschen vorsichtig, wenn ihr das allzu laut hinausposaunt, denn in Matthäus 23, Vers 23 steht Folgendes:
„Wie ihr euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Minze, Anis und Kümmel verzehntet – also von dem auch noch den Zehnten gebt –, nehmt es also ganz genau und lasst das Wichtigere im Gesetz außer Acht, nämlich das Recht und die Barmherzigkeit und den Glauben.“
Das eine sollte man tun, also genau nehmen, aber das andere nicht lassen. Was sollen wir nicht lassen? Wir sollen das Recht nicht vergessen.
Wenn man vor Gericht steht, dann hat der Richter eine schwierige Aufgabe. Er muss das Recht vertreten, und er muss den Angeklagten und den Kläger gleichermaßen hören. Er muss sich um Unparteilichkeit bemühen, so gut er kann. Er muss das Recht aufrechterhalten. Er darf sich nicht durch seine Stimmungen – durch Zorn oder Enttäuschung oder auch vielleicht durch das provokante Verhalten des Angeklagten – nicht bestimmen lassen.
Und Jesus sagt: „Ihr Pharisäer, das habt ihr oft außer Acht gelassen, ihr habt nicht mehr recht gehandelt, ihr seid nicht mehr unparteiisch geblieben.“
Und dann habt ihr vergessen, barmherzig zu sein. Dass Gottes letztes Wort nicht das Aufdecken von Schuld ist, sondern die Barmherzigkeit. Dass er bereit ist zur Vergebung, dass er nicht fertig macht, nicht zerstört.
Und drittens habt ihr noch etwas vergessen, nämlich den Glauben – den Glauben, dass Gott aus diesem Menschen, den ihr jetzt so verurteilt, noch etwas machen kann.
Wenn Jesus uns sagt: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“, dann wird das für mich eine Lektion auch für dieses Jahr sein. Ich nehme an, für dich auch: das Recht nicht aus den Augen zu verlieren, mich also nicht durch meine Emotionen bestimmen zu lassen, sondern von dem, was Recht ist in den Augen Gottes. Dass wir die Barmherzigkeit nicht vergessen, also nicht den anderen fertig machen wollen, sondern ihm helfen wollen. Und dass wir den Glauben nicht verlieren.
Ich meine nicht so sehr den Glauben an diesen Menschen, sondern den Glauben für diesen Menschen.
Die Notwendigkeit der Barmherzigkeit im Alltag und im Glaubensleben
Wir haben diese Jahreslosung wahrscheinlich nötig. Unser Herr trägt den Namen Barmherzigkeit; das ist einer seiner Namen. Aber weißt du, mein zweiter Vorname und dein zweiter Vorname ist das nicht. Es ist nicht unsere natürliche Eigenschaft, barmherzig zu sein.
Wir sind vergesslich. Oft vergessen wir, wie gnädig und barmherzig Gott mit uns war und ist. Wir haben vergessen, dass er gesagt hat: „Siehe wohl zu, dass er nicht falle.“ Hochmut kommt vor dem Fall. Jakobus hat gesagt, dass ein unbarmherziges Gericht über denjenigen kommen wird, der Nichtbarmherzigkeit übt.
Das ist also keine Sache, die ich machen kann oder auch nicht. Es ist nicht einfach ein „nice to have“, sondern essentiell, weil es das Wesen, den Kern unseres Glaubens erfasst. Deswegen steht dieser Vers auch mitten in der Bergpredigt.
Wir haben gesehen, dass Demut und Barmherzigkeit untrennbar sind. Deshalb muss Gott mich manchmal demütigen, damit ich wieder begreife, wer ich bin. Dass ich nur von seinem Erbarmen lebe, von sonst gar nichts. Und dass ich diese Barmherzigkeit dann weitergebe.
Denn er hat gesagt: „Wenn ihr dem Nächsten eure Sünden vergebt, wird euch der Vater im Himmel auch vergeben. Und wenn ihr dem Nächsten die Sünde nicht vergebt, wird er euch auch nicht vergeben.“
Ich vergleiche das immer mit dem Stromkreislauf: Solange der Strom fließt und die Birnen in Ordnung sind, haben wir Licht. Aber du musst nur den Lichtschalter drücken, das heißt, den Stromkreislauf unterbrechen, und dann ist es dunkel.
Genauso, Geschwister, wird es dunkel in unseren Herzen. Es wird dunkel in unseren Familien, an unseren Arbeitsplätzen, in unserer Gemeinde und in unserer Gesellschaft, wenn der Kreislauf der Barmherzigkeit unterbrochen wird. Wenn ich die Barmherzigkeit, die ich jeden Tag von meinem Herrn so selbstverständlich empfange, nicht weitergebe.
Deshalb ist das nicht nur ein netter Satz: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel ist.“ Er berührt den absoluten Kern unseres Lebens, unseres Glaubens und unseres gemeinschaftlichen Lebens als Gemeinde. Er berührt den Kern unserer Familien.
Wie gehen wir miteinander um? Mit unseren Freunden, mit unseren Gegnern, mit denen, die anders denken als ich? Wie gehen wir mit unseren Politikern um? Wie reden wir über Verbrecher?
Lasst uns so reden, wie der Herr über uns redet. Er ist gnädig und barmherzig, geduldig und von großer Güte und Treue.
Abschlussgebet und Ausblick
Lasst uns jetzt einen Moment still werden zum Gebet. Jeder bleibt an seinem Platz, auch ihr zu Hause. Ich schließe dann die Kürze ab.
Herr, im vergangenen Jahr haben wir erst allmählich verstanden, wie essenziell die Jahreslosung ist. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.
Unser Glaube wurde auf verschiedene Weise erprobt, auch im letzten Jahr. Vielleicht ahnen wir jetzt ein wenig, vielleicht aber auch nicht, wie sehr uns diese Jahreslosung mit ihrer tiefen Botschaft in diesem Jahr herausfordern wird.
Sie fordert uns heraus in unserem Miteinander als Gesellschaft, als Gemeinde, als Familien. Sie fordert uns heraus in unserem Umgang mit unserem Nächsten, an unseren Arbeitsplätzen, in unserer Nachbarschaft und mit den Menschen, über die wir in der Zeitung lesen oder in den Nachrichten hören.
Danke, dass du dein Wort lebendig machen kannst, damit die Barmherzigkeit, von der wir täglich leben dürfen, auch durch uns anderen zum Segen wird. Lass unsere Herzen frei werden von Bitterkeit.
Wir danken dir für deine Treue.
