Herr Präsident, ganz herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung.
Ich freue mich sehr, hier in Memmingen dabei sein zu dürfen und mit Ihnen, mit Euch, diesen wichtigen Tag in einer historischen Situation zu begehen. 500 Jahre Reformation – das ist eine Zäsur, ein Einschnitt.
Ich hoffe, dass deutlich wird: Es geht nicht einfach darum, nostalgisch zurückzublicken, sondern die brennende Aktualität dieser Fragen zu erkennen.
Die Herausforderung der Autorität Gottes und der Bibel
In den Siebzigerjahren fand ein Festgottesdienst im katholischen Internat statt, das ein Freund damals besuchte. Der Bischof zelebrierte die Messe, und die Blaskapelle spielte zum Auftakt ein festliches Eröffnungsstück. Der Dirigent hatte seinen Musikern vorher den Hinweis gegeben, dass der erste Teil des Stücks nicht wiederholt wird. Sie sollten also direkt weiterspielen.
Mein Freund war erster Trompeter. Als sie an die Stelle kamen, ließ er versehentlich den Ton der Wiederholung erklingen. Sofort traf ihn der vielsagende Blick des Dirigenten. Doch seine Freunde ließen ihn nicht hängen. Sie folgten ihm augenblicklich. Ohne es zu wollen, hatte er dem Dirigenten das Heft aus der Hand genommen.
Wir dürfen Gott nicht das Heft aus der Hand nehmen. Gott persönlich das Heft aus der Hand zu nehmen, bedeutet Auflehnung. Es geht um die Frage, wer hier auf Erden den Taktstock der Wahrheit schwingen darf: Ist es die Institution einer menschlichen Kirche oder ist es Jesus Christus allein? Wer darf den Taktstock schwingen? Ist es die Tradition, eine Clique, der Zeitgeist oder Gottes Wort? Oder einfach gefragt: Wer bestimmt eigentlich, was gespielt wird?
Der Dirigent stand noch vorn und wedelte mit den Armen. Aber in dem Moment bestimmte er längst nicht mehr, was passierte. Und genau so, liebe Geschwister, liebe Freunde, kann es uns mit der Bibel gehen. Sie steht noch vorn, sie ist noch im Gemeindebekenntnis verankert und wird regelmäßig gelesen. Aber vielleicht bestimmt sie schon lange nicht mehr, was gespielt wird.
Vielleicht haben längst andere Faktoren das heimliche Dirigat übernommen und unsichtbar den Taktstock an sich gerissen: Management-Theorien für den Gemeindebau, psychotherapeutische Zugänge für die Seelsorge. Doch die Mehrheit denkt, es sei alles in Ordnung, weil der Dirigent ja noch da vorne steht, wir uns ja noch zur Bibel bekennen und sie ja noch gelesen wird. Aber hat sie noch das Sagen?
Das ist die herausfordernde Frage heute Morgen, wenn wir das Thema behandeln: Sola Scriptura – allein die Heilige Schrift. Stimmt das für unsere Gemeinde? Stimmt das für mich ganz persönlich?
Die Bedeutung der Reformation und der Schriftprinzipien
Wir blicken in diesen Tagen immer wieder nach Wittenberg. Gestern Abend haben wir das ja auch getan: die Tür der Schlosskirche, an der die Thesen höchstwahrscheinlich angebracht wurden, und das Lutherhaus, der Ort, an dem Luther seine besondere Entdeckung gemacht hat.
Wir müssen uns fragen: Was ist dort eigentlich passiert? Wer bestimmt eigentlich die Deutung des Geschehens der Reformation in unserem Land und in unserer Gesellschaft?
Gestern haben wir im Rahmen des Festakts in Wittenberg verschiedene Deutungen gehört. Darauf werde ich an anderer Stelle noch einmal kurz zurückkommen. Für uns stellt sich die Frage: Sind wir treu? Und an welchen Punkten müssen wir möglicherweise wieder treu werden?
Haben wir nur ein postuliertes, ein behauptetes Schriftprinzip oder ein tatsächlich gelebtes? Wie steht es um die anderen Wiederentdeckungen, die unser Herr der Reformation geschenkt hat? Dabei hat er Luther offensichtlich eine gewisse Vorreiterrolle eingeräumt.
Was wurde denn noch in der Reformation entdeckt? Ich darf daran erinnern: Es begann mit dem Sola Scriptura. Dann kam natürlich dazu: Solus Christus – allein Jesus Christus. Allein durch ihn wird der Sünder mit Gott versöhnt. Sola gratia – allein die Gnade. Das heißt, allein aus Gnade schenkt Gott dem Verlorenen Rettung und Gotteskindschaft. Solafide – allein durch den Glauben. Das heißt, allein durch den persönlichen Glauben an Jesus Christus ergreift der Sünder Gottes Gnade und empfängt die Rettung als Geschenk. Und schließlich Soli Deo Gloria – alles allein zur Ehre Gottes, dem die Ehre gebührt.
(Klammer auf: Ich habe den heimlichen Verdacht, dass jemand mein Redetempo damit ausbremsen wollte. Ich wollte mal sehen, ob es hier irgendwelche technische Sabotage gab.) Man nennt diese Begriffe Exklusivpartikeln, weil sie einen exklusiven Geltungsanspruch formulieren.
Doch all das hängt natürlich am Ersten, am Sola Scriptura. Denn wie sonst könnten wir dessen gewiss sein? Wir wissen es ja aus der Heiligen Schrift: Sie ist die Norm.
Die dreifache Provokation des Schriftprinzips
Und sola scriptura – wir müssen uns das klar machen, liebe Leute – sola scriptura sind nur zwei Wörter. Doch diese zwei Wörter enthalten eine dreifache Provokation.
Zum Ersten: Ein geschriebener Text teilt uns verbindliche Wahrheit mit. In der Linguistik nennt man das propositionale Wahrheit. Das scheint es in der Postmoderne kaum noch zu geben. Propositionalität bedeutet, dass der Inhalt der biblischen Sätze mit den Tatsachen übereinstimmt. Die Bibel vermittelt mit Sprache wahre Wahrheit, die den bestehenden Sachverhalten entspricht. Das ist eine Provokation. Sola scriptura bedeutet Propositionalität.
Dann gibt es eine zweite Provokation, die in dieser These mitschwingt – und auch das hat Luther sehr deutlich gesehen: Sola scriptura bedeutet Partikularität. Oder wir könnten auch sagen Geschichtlichkeit. Das heißt, ein einziges Buch beziehungsweise 66 konkrete Bücher, die in den Sprachen Griechisch und Hebräisch von einzelnen Schreibern verfasst wurden und die dann durch Gottes Gnade zum biblischen Kanon zusammenkamen. Diese eine Bibel, die mitten in der Geschichte entstanden ist, ist Gottes Wort und teilt uns verbindlich die Wahrheit mit. Das ist die Provokation der Partikularität.
Schließlich gibt es eine dritte Provokation: Sola scriptura bedeutet auch die Provokation der Exklusivität. Denn nur ausschließlich dieses eine Buch, entstanden mitten in der Geschichte, ist die gültige Quelle der Wahrheit, an der sich alle anderen Bücher messen lassen müssen – auch alle anderen, die dann später da draußen auf dem Büchertisch zu finden sind. Nur dieses eine Buch ist die einzige Instanz der Wahrheit, die letzte Instanz, vor der sich alle anderen Instanzen verantworten müssen. Nur dieses eine Buch ist Gottes eigenes Wort, das alle menschlichen Wörter beurteilt und richtet. Und nur dieses eine Buch ist die normierende Norm, die Norma normans, die alle anderen Normen entweder bestätigt, widerlegt oder korrigiert.
Eine dreifache Provokation. Und deswegen hat Luther gesagt: Wir müssen mit aller Lehrerschriften zur Bibel laufen und allda Gericht und Urteil über die anderen Schriften holen. Denn die Bibel allein ist der rechte Lehenherr und Meister über alle Lehre und Schrift auf Erden.
Sola scriptura – zwei Wörter, eine dreifache Provokation: Propositionalität – diese geschriebenen Sätze lehren uns wahre Wahrheit. Partikularität – dieses spezielle Buch wurde durch Gottes Eingebung mitten in der Geschichte offenbart, von realen Menschen. Und Exklusivität – nur diese eine Schrift ist die verbindliche Quelle und Norm der Wahrheit. Das alles sagen wir, wenn wir bekennen: sola scriptura.
Die Autorität und Wahrheit der Heiligen Schrift
Und natürlich ist das höchst anstößig. Die Bibel spricht nicht zu allen Themen, aber wo sie spricht, kann keine andere Quelle bestehen, wenn sie der Bibel widerspricht. Das meint Paulus, wenn er in 2. Timotheus 3,16 sagt, dass alle Schrift – beziehungsweise die ganze Heilige Schrift, so könnte man es auch übersetzen – von Gott eingegeben ist.
Das meint auch Psalm 119,160, wenn er sagt: „Dein Wort ist nichts als Wahrheit.“ Es geht hier nicht um ein Erbauungsbuch, es geht nicht um eine interessante Sammlung religiöser Höhepunkterlebnisse. Sondern es geht um Wahrheit, um die letzte Instanz der Wahrheit. Das ist das, was Sola Scriptura meint.
Deshalb hat Luther – wir sprachen gestern schon kurz darüber – vor dem Reichstag in Worms im April 1521, als er dort vor den Ständen und dem Kaiser auftreten musste und es für ihn um Kopf und Kragen ging, gesagt: „Es sei denn, dass ich durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Vernunftgründe – und damit meint er eine klare Auslegung der Bibel – überführt werde. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben. So bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen, und mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort. Daher kann und will ich nichts widerrufen, da es weder sicher noch recht ist, gegen das Gewissen zu handeln.“
Ist dein Gewissen gefangen in Gottes Wort? Diese Wahrheit war damals genauso umstritten wie heute. Deshalb müssen wir uns daran orientieren.
Drei Schritte zur Orientierung im Schriftverständnis
Wie sollen wir nun mit dieser Wahrheit umgehen? Drei Schritte zur Orientierung.
Zunächst geht es um die Wiederentdeckung des Schriftprinzips. Dies wollen wir nachverfolgen. In einem zweiten Schritt folgt die Bekämpfung des Schriftprinzips, und im letzten Punkt die Verteidigung des Schriftprinzips.
Der erste Punkt, das sage ich zum Trost, wird wahrscheinlich am längsten Zeit in Anspruch nehmen. Man muss also nicht vom ersten Punkt ausgehend Hochrechnungen über Punkt zwei und drei versuchen.
Die Wiederentdeckung des Schriftprinzips ist unser erster Punkt. Wenn man Schriftprinzip sagt, ist damit nicht ein verstaubtes, lebloses Prinzip gemeint. Vielmehr geht es darum, wie ich mit den Fragen umgehe, auf die ich dringend Antwort brauche.
Schriftprinzip bedeutet: Die Bibel sagt die Wahrheit, und die Bibel redet klar und deutlich. Wenn wir sie manchmal nicht verstehen, liegt das nicht an der Bibel, sondern an uns.
Aber die Bibel hat das letzte Wort. Deswegen müssen wir, wenn es um die entscheidenden Fragen geht, fragen, was die Bibel sagt.
Ich kann nicht sagen, ich bin Christ und die Bibel nicht konsultieren – das geht nicht.
Die persönliche Entdeckung Luthers und der historische Kontext
Jetzt müssen wir betrachten, wie diese Erkenntnis wiederentdeckt wurde. Wie wir gestern Abend gesehen haben, war das eng mit Luthers Lebensgeschichte verknüpft. Wer das noch ausführlicher hören möchte, kann sich die Aufnahme von gestern noch einmal zu Gemüte führen.
Luther befand sich in einer tiefen persönlichen Krise, die sein ganzes Leben revolutionieren und vom Kopf auf die Füße stellen sollte. Der junge Mönch suchte verzweifelt nach Antworten, die ihm weder die Tradition noch seine damaligen Lehrer geben konnten. Trotzdem machte er Karriere: Mit knapp dreißig Jahren wurde er Professor für Bibelexegese in Wittenberg. Im Nachhinein würde ich sagen: Als ich Doktor wurde, hatte ich das Licht noch nicht gefunden.
Geistesgeschichtlich haben wir gestern auch die Bruchstelle zwischen Mittelalter und Renaissance betrachtet. Es war ein Aufbruch zurück zu den Quellen, Ad Fontes, etwa zu den Griechen. Die Naturwissenschaften eroberten sich neue Freiräume. Kopernikus und Galileo Galilei, Luthers Zeitgenossen, forderten ebenfalls den Papst heraus. Viele alte Gewissheiten kamen ins Wanken.
Mittendrin stand dieser intellektuelle Augustiner-Mönch Martin Luther, philosophisch an Aristoteles und allen klassischen Fragestellungen geschult, doch ohne Gewissheit und Sicherheit darüber, was nun wahr sei. Wir haben gestern gesehen, wie Luther seinen Durchbruch im Studium der Heiligen Schrift erlebte. Heute wollen wir bei unserem ersten Thema noch einmal festhalten, dass für das Solafide, also den Glauben, den er in Römer 1 entdeckte, die Voraussetzung Sola gratia war.
Denn auch für ihn stellte sich – genauso wie für uns – mit brutaler Klarheit die Frage nach der Autorität. Diese Frage begegnet dir immer wieder: wenn du studierst, in der Schule bist, an den Rand des Todes geliebter Menschen geführt wirst, vor schwierigen Weichenstellungen im Leben stehst oder auf Leid eine Antwort finden musst. Wer hat die Wahrheit? Wer deutet die Situation zutreffend? Wo ist die Quelle? Wer sagt mir, was gilt?
Luther erkannte: Der Papst ist es nicht, und auch die alten theologischen Lehrer sind es nicht. Man muss sich klarmachen, wie einsam dieser junge Wissenschaftler in dieser Situation dastand. Innerhalb weniger Monate vollzog er einen Bruch mit der Autorität des Papstes, aber auch mit seinen alten philosophischen Lehrern aus Erfurt.
Dann wurde das sola scriptura zur Kampfansage gegen den übermächtigen Global Player der römischen Kirche. Luther stellte die gesamte Hierarchie der Autorität in Frage, und seine Gegner erkannten das sehr schnell. So schrieb etwa Silvester Priorias, ein Mann der Kurie, als Antwort auf die Ablassthesen: „Wer sich nicht an die Lehre der römischen Kirche und des Papstes hält als an die unfehlbare Glaubensregel, von der auch die Heilige Schrift ihre Kraft und Autorität bezieht, der ist ein Ketzer.“
Das heißt: Wer sich nicht von der Kirche vorschreiben lässt, wie die Bibel zu verstehen sei, und der Kirche nicht die letzte Autorität zugesteht, der ist ein Ketzer.
Die Bedeutung von Sola Scriptura in der Kirchengeschichte
Heiko Augustinus Obermann, einer der besten Lutherkenner, hat diese Situation folgendermaßen beschrieben: Er sagt, als die Kirche dem Himmel noch gleich war und der Kaiser die Macht der Welt repräsentierte, da hatte sich dieser Mönch gegen die Mächte von Himmel und Erde erhoben.
Und was war seine Grundlage dafür? Sola Scriptura. Gegen alle Traditionen setzte Luther die in sich selbst ruhende Durchsetzungskraft der Bibel. Die Bibel ist die oberste Richterin und der letztgültige Maßstab aller Wahrheit und Lehre.
Daraus ergeben sich dann die Grundpfeiler einer reformatorischen Hermeneutik, eines reformatorischen Schriftverständnisses, die für unsere Bibelauslegung heute genauso maßgeblich sein sollten.
Die Heilige Schrift ist genügsam – das ist der eine Punkt, die Genügsamkeit der Schrift, die Suffizientia Scripturae. Luther kann sagen: Die Heilige Schrift ist in sich völlig gewiss, zugänglich, durch und durch offen. Sie legt sich selbst aus, sie bewährt, richtet und erleuchtet allen alles.
Die Genügsamkeit der Schrift, „sufficientia Scripturae“, und die römisch-katholische Kirche erhebt bis heute dagegen Einspruch und sagt: Das kann nicht sein, wir brauchen ein kirchliches Lehramt, sonst entsteht Chaos. Das hat erst Johannes Hartl wieder in seiner jüngsten Facebook-Äußerung so formuliert: Hat man erst einmal jeden ermächtigt, die Bibel für sich auszulegen, wird es schnell unmöglich zu urteilen, was noch eine echte Auslegung und was eine Verdrehung der Schrift ist.
Welche Instanz aber sollte darüber urteilen, fragt Hartl, und er hat an anderen Stellen immer wieder die Antwort gegeben: Es kann nur die römisch-katholische Kirche sein, es kann nur das römische Lehramt sein. Und genau dieser Anspruch wird aufgebrochen.
Die Schrift ist genügsam, weil sie – und das ist das Zweite – weil sie inspiriert ist, weil sie von Gott eingegeben ist. Luther kann sagen, sie ist des Heiligen Geistes eigensonderliches Buch, Schrift und Wort. Die Bibel ist Gottes Wort ohne Einschränkung.
Luther schreibt: Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, geschrieben, und dass sich so Rede gebuchstabiert und in Buchstaben gebildet. Gleich wie Christus ist das ewige Gotteswort in die Menschheit verhüllt.
Darum, weil die Schrift inspiriert ist – und das ist das Dritte – ist sie klar, die Klarheit der Schrift, die Claritas Scripturae. Sie ist durchsichtig.
Luther unterscheidet zwischen einer äußeren und einer inneren Klarheit der Schrift. Er sagt, die äußere Klarheit der Schrift ist jedermann zugänglich, auch jedem Heiden. Was da erklärt und erläutert ist, was berichtet wird an geschichtlichen Zusammenhängen, das ist zunächst mal auch für jeden Heiden zugänglich.
Luther schreibt: Es muss unter Christen als vollkommen verborgen und sicher gelten, dass die Heilige Schrift ein Licht ist, viel klarer als die Sonne selbst. Aber dann gibt es noch die innere Klarheit, dass ich verstehe, was das für mich persönlich bedeutet, dass Gott mich damit persönlich vor sich zieht.
Und diese innere Klarheit kann nur der Heilige Geist schenken. Wer den Sohn hat, sagt Luther, dem steht die Schrift offen. Und je mehr sein Glaube an Christus wächst, desto heller scheint ihm die Schrift.
Deshalb, weil die Schrift klar ist, weil die Schrift keine esoterische Geheimlehre ist, kommt es auf den Literalsinn an, das heißt auf den wörtlichen, den literalen Sinn. Wir müssen nicht nach irgendwelchen hintergründigen esoterischen Sonderbedeutungen hinter den Wörtern suchen, sondern wir müssen die Bibel so, wie sie da steht, in dem, was sie dort sagt, ernst nehmen und studieren.
Diese Schrift ist nicht nur klar, nicht nur inspiriert und nicht nur genügsam, sondern sie ist auch irrtumslos. Auch davon ist Luther ausgegangen.
Man hat wiederholt versucht, Luther als geistigen Vater der Bibelkritik zu vereinnahmen, aber seine eigene Haltung beweist genau das Gegenteil. Luther kann vom unfehlbaren Wort Gottes sprechen.
Luther kann sagen: Wer ein einziges Wort Gottes verachtet, der achtet freilich keines groß. Luther kann sagen: Es muss alles verteidigt werden.
Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Luther in einigen wenigen Fällen sehr harsche Kritik an einzelnen biblischen Büchern geübt hat, etwa am Jakobusbrief, den er als störende Epistel bezeichnete. Dazu muss man wissen, Luther hielt den Jakobusbrief zu dem Zeitpunkt nicht für einen Teil des biblischen Kanons. Das war natürlich ein Fehler.
Aber was Luther an dieser Stelle über den Jakobusbrief sagt und was falsch war, betrifft sein Kanonverständnis, aber nicht sein Inspirationsverständnis. Sobald Luther davon ausging, dass etwas zum Kanon gehörte, war für ihn jede Kritik an der Bibel tabu.
Luther kann schreiben: Die Bibel ist ein rein gewiss Wort, das nicht trügt und fehlt, wie Menschenworte tun. Und das gilt eindeutig auch für die geschichtlichen Aussagen der Bibel.
In einer Predigt sagt Luther mal: Wenn Mose schreibt, dass Gott in sechs Tagen Himmel und Erde und was darin ist geschaffen habe, so lasst das so bleiben, dass es sechs Tage gewesen sind. Kannst du es aber nicht verstehen, wie es sechs Tage sind gewesen, so tu dem Heiligen Geist die Ehre, dass er gelehrter sei denn du.
Weil es aber Gott redet, so gebührt dir nicht, sein Wort aus Frevel zu lenken, wo du hinwillst. Gesteh doch dem Heiligen Geist ruhig zu, dass er klüger sei als du.
In dieser Autorität und Integrität will die Bibel eben nicht nur bewundert werden, sondern – und das ist das Letzte, worauf ich hier hinweise – sie entfaltet eine dramatische Wirkung.
Das ist das Fünfte, worauf die Reformatoren hingewiesen haben: auf die Efficacia der Schrift. Die Bibel ist verbum efficax, sie ist Wirkwort, kein toter Buchstabe.
Luther kann schreiben: Gott gibt nicht Waffen in die Hand, sondern er legt sein Wort in den Mund. Mit diesem Wort trösten wir die Brüder und schlagen wir den Satan mit unseren Widersachern in die Flucht.
Demnach ist es eine wichtige Sache, dass man das Wort Gottes hat und lehrt.
Schon damals gab es Leute, die sagten: Ja, aber was soll denn dieser tote Buchstabe, der Geist muss doch wirken, dann erst werden wir wirklich in unseren Herzen berührt.
Diesen Leuten antwortet Luther: Obwohl der Buchstabe an sich selbst nicht das Leben gibt, muss er doch dabei sein und gehört und empfangen werden, und der Heilige Geist wirkt durch den Buchstaben im Herzen.
Darum rühme nur nicht viel vom Geist, wenn du nicht das offenbare äußere Wort hast, denn dies wäre gewisslich nicht ein guter Geist, sondern der leidige Teufel aus der Hölle.
Luther weiß sich in seinem Gewissen an diese Schrift gebunden, und Luther kennt auch das nicht, was man ihm heute immer mal wieder unterstellt: die Trennung zwischen Christus und der Schrift.
Natürlich sagt er, dass wir die ganze Schrift von Christus her lesen müssen, das ist auch richtig. Aber er sagte nicht, dass wir Christus gegen die Schrift ausspielen sollen.
Ich habe Christus nur über die sichere Brücke der Schrift, die Schwärmer und Mystiker bis heute suchen nach anderen Wegen, von Gott zu hören.
Luther aber betont: Der Heilige Geist fährt einher auf dem Wagen der Schrift. Und hier hören wir die Stimme des guten Hirten.
Das ist die berühmte Erklärung: Was ist eigentlich ein Christ, was ist eigentlich Gemeinde? Und Luther kann sagen in den Schmalkaldischen Artikeln 1537: Es weiß Gott Lob ein Kind von sieben Jahren, was die christliche Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen.
Dann erklärt er das: die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören. Das ist die Kirche Jesu Christi, das sind die Schafe, die ihres Hirten Stimme hören – hier in diesem Buch.
Und daran hängt alles.
Dabei ist Luther klar: Das ist eine Wiederentdeckung, das ist nicht seine Erfindung.
Deswegen war der Untertitel, den wir gewählt haben und für den ich auch mitverantwortlich bin, eigentlich falsch: Wie Luthers Schriftprinzip 500 Jahre überstanden hat.
Es ist nicht Luthers Schriftprinzip, es ist das von ihm wiedergefundene, es ist das Schriftverständnis Jesu Christi.
Das Schriftverständnis Jesu Christi als Vorbild
Es lohnt sich, genau zu untersuchen, wie Jesus die Bibel verstanden hat und wie er mit dem Alten Testament umgegangen ist. Dabei gäbe es viel zu entdecken. Heute haben wir jedoch nicht die Zeit, dies ausführlich zu tun.
Für Jesus war ganz klar: Die gesamte Schrift, die ihm zu seiner Zeit vorlag, ist Gottes Wort. Er hat die Schrift bis in die einzelnen Wörter hinein mit dem Wort Gottes identifiziert. Jesus konnte sich bei einer Argumentation manchmal auf die grammatikalische Einzelheit eines Wortes berufen, etwa auf die grammatikalische Zeit, die dort gerade gewählt wurde.
In Johannes 10, Vers 35 fasst Jesus sein Schriftverständnis mit dem berühmten Satz zusammen: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden.“ Dieser umfassende Wahrheitsanspruch schließt auch die Geschichtsberichte mit ein. Das gilt ebenso für die Geschichtsberichte des Alten Testaments.
Interessanterweise zitiert Jesus immer wieder aus den Geschichtsberichten, die von der Bibelkritik besonders angegriffen werden, wie etwa die Geschichte von Jona im Bauch des Fisches oder Noah und der Sintflut. Jesus macht ganz klar: Das sind historische Ereignisse mit historischen Personen und realem Geschehen.
Daraus folgt, und das ist der dritte Punkt, dass jeder Schriftstelle mit Ehrfurcht und Vertrauen zu begegnen ist. Paulus hat dies genau so umgesetzt, als er in Apostelgeschichte 24,14 bezeugte: „Ich glaube allem, was geschrieben steht.“
Jesus kündigte zudem an, dass seine Apostel das Wort Gottes zum Abschluss bringen würden. Damit kündigte er indirekt die Entstehung des biblischen Kanons an, von dem Paulus später proklamieren wird: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“
Die Bekämpfung des Schriftprinzips in der Kirchengeschichte
Nun haben wir den Hauptarbeitsschritt dieses ersten Vortrags abgeschlossen. Doch es gibt einen zweiten Aspekt zu betrachten: Obwohl Jesus selbst sich für das Schriftprinzip eingesetzt hat, wurde dieses von Anfang an bekämpft.
Man könnte die gesamte Kirchengeschichte als eine Geschichte der Bekämpfung des Schriftprinzips beschreiben. Dieser Kampf begann nicht erst mit der Reformation. Manche Menschen haben eine eigentümliche Vorstellung von der Kirchengeschichte. Sie denken, dass in der alten Zeit alles irgendwie gut war, und erst mit der Moderne und dem kritischen Geist des Menschen alles schwierig wurde. Das ist jedoch nicht der Fall.
Der Kampf um das Schriftprinzip ist ein Dauerkampf. Dabei müssen wir erkennen, dass die Bekämpfung der Schrift immer von zwei Seiten erfolgte: durch Bibelergänzung und Bibelkritik.
Das verzögernde Moment, also dass man durch diese Art der Technik etwas ausgebremst wird, funktioniert tatsächlich. Die Bekämpfung der Bibel durch Bibelergänzung besteht darin, die Vollständigkeit und Exklusivität der Bibel zu bestreiten. Man behauptet, die Bibel müsse ergänzt oder hinzugefügt werden.
Die Bibelkritik ist die andere Seite dieser Bekämpfung. Ein Jahr vor Luthers Tod, 1545, begann das Trienterkonzil bereits in seiner ersten Sitzungsperiode, die beiden Stützpfeiler der reformatorischen Wahrheit anzugreifen: die Rechtfertigungslehre – dazu kommen wir später noch – und das Schriftverständnis.
Trient machte sofort klar, dass die kirchliche Tradition mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und Ehrfurcht anzuerkennen sei wie die Bibel selbst. Über den wahren Sinn der Auslegung entscheide die Kirche. Dieser Gegensatz besteht bis heute unverändert.
Die römisch-katholische Kirche sagt: Ja, die Schrift ist gut, und wir freuen uns, dass immer mehr Katholiken die Bibel lesen. Aber sie ist nicht ausreichend. Darauf kommen wir heute Nachmittag noch einmal zurück.
Die Bibelergänzung ist eine Flanke, die andere Flanke ist die Bibelkritik. Diese begann bereits zu Luthers Zeiten massiv durch die sogenannten Sozinianer. Sie sprangen auf den reformatorischen Zug auf, weil sie auch Vorbehalte gegenüber der römisch-katholischen Kirche hatten. Doch sie verbanden dies mit massiver Bibelkritik.
Die Sozinianer leugneten die Dreieinigkeit, die Präexistenz Jesu – also dass er vor seiner Menschwerdung in Ewigkeit existierte – und die Gottheit Jesu. Sie sind ein erstes Beispiel dafür, wie man unter scheinbarer Berufung auf die Reformation das Sola Scriptura dennoch bekämpfen kann.
Die Sozinianer unterwarfen die Bibel dem schmalbrüstigen, kurzsichtigen Urteil der menschlichen Vernunft. Bibelergänzung und Bibelkritik bilden eine Zangenbewegung, die sich durch die gesamte Kirchengeschichte zieht.
Die Entwicklung der Bibelkritik und ihre Auswirkungen
Es gibt eine Denkschrift der evangelischen Kirche zum Reformationsjubiläum mit dem Titel „Rechtfertigung und Freiheit“. Dabei handelt es sich sozusagen um den offiziellen evangelischen Text zum Jubiläum im Jahr 2014. Darin erklärt die EKD, also kirchenamtlich offiziell, dass die biblischen Texte nicht mehr so wie zur Reformation als Wort Gottes verstanden werden können.
Das bedeutet, die EKD begeht das Reformationsjubiläum, indem sie sagt: Wir können die Bibel nicht als Wort Gottes verstehen. Was kann man da erwarten? Das ist nur die Spitze des Eisbergs, und dahinter steht eine lange Geschichte.
Wer sich diese Geschichte genauer anschauen möchte, dem empfehle ich eine Reihe von Vorträgen, die ich gehalten habe, unter dem Titel „Vom Schriftprinzip zur Schriftkritik“, erschienen bei Leseplatz. Dort habe ich einzelne Epochen auszugsweise dargestellt. Zum Beispiel das 18. Jahrhundert mit Immanuel Kant, dem großen deutschen Philosophen. Er zieht einen eisernen Vorhang zwischen der diesseitigen Wirklichkeit und der Möglichkeit göttlicher Offenbarung. Er sagt, es kann nicht sein, dass Gott zu uns durch ein Buch redet.
Überall dort, wo sich die Theologie dem Dogma Kants unterworfen hat, hat sie die gegenständliche Wirklichkeit preisgegeben und zugleich den Himmel verloren. Es wurde gesagt: Über das Jenseitige können wir nichts wissen, und über das Diesseits müssen wir uns allein auf unseren Verstand verlassen. Das ist das Ergebnis von Immanuel Kant.
Diese Auffassung blieb nicht nur unter Fachleuten. Wenn man mit Lieschen Müller an der Kasse bei Aldi spricht, wird man in der Regel auf dieses Verständnis treffen. Es hat sich bis in die letzten Winkel durchgesetzt.
Ähnlich wie Kant war sein Zeitgenosse Gotthold Ephraim Lessing. Zum Beispiel in der Ringparabel aus „Nathan der Weise“ sagt er, es gibt einen großen Graben zwischen den biblischen Berichten damals und uns heute. Er übte massive Kritik an den Auferstehungsberichten.
Ein anderes Beispiel ist David Friedrich Strauss, ein bedeutender Bibelkritiker des 19. Jahrhunderts.
Ein weiterer wichtiger Vertreter ist Ernst Troeltsch. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb er einen berühmten Aufsatz, in dem er sagt, die Bibel müsse sich vor dem kritischen Richterstuhl des Menschen verantworten. Alles, was damals behauptet wurde und was wir heute mit unseren Augen nicht beobachten können – zum Beispiel, dass jemand über das Wasser geht – das kann nicht passiert sein.
Jedes Ereignis, das wir nicht in einem innerweltlichen Geschehensablauf erklären können, müsse ausgemerzt werden. Man müsse sagen: Das kann so nicht gewesen sein.
Was Troeltsch tut, ist, dass er ein weltanschauliches, philosophisches System aufbaut. Er legt ein philosophisches Raster an und sagt: Alles, was diesem Raster widerspricht, was also nicht hineinpasst, muss anders gedeutet oder weggestrichen werden.
Das wurde zum Grundlagentext für die Systematik der Bibelkritik.
Jemand hat gesagt: Die Theologen finden nur die Ostereier wieder, die sie vorher selbst versteckt haben. Das heißt: Wenn ich ein Netz habe, in das nur Fische passen, die größer als fünf Zentimeter sind, und dann hinterher sage, es gibt nur Fische, die größer als fünf Zentimeter sind, dann habe ich mich selbst ausgetrickst.
Aber genau dieses Prinzip begegnet uns bei Troeltsch.
Jetzt erspare ich Ihnen die vielen anderen, die es ebenfalls versucht haben: Friedrich Schleiermacher, Rudolf Bultmann, Karl Barth. Jeder von ihnen hat mit unterschiedlichen Zuspitzungen seine eigene Verantwortung in dieser Geschichte wahrgenommen.
Sie alle haben dazu beigetragen, dass das Wort Gottes in weiten Kreisen der Bevölkerung seine Autorität verloren hat, dass das Sola Scriptura undenkbar geworden ist und dass auch kleine Schüler sich anmaßen zu sagen: Das kann doch nicht sein.
Die Verantwortung der Gläubigen im Umgang mit der Bibel
Was ist nun unsere Aufgabe als diejenigen, die dem Herrn gehören, der uns gewürdigt hat, sein Wort zu empfangen und gesagt hat, dass alle Schrift von Gott eingegeben ist? Gottes Wort ist nichts als Wahrheit. Glaubst du das? Hat das für dein Gewissen eine Bedeutung? Nimm das in deine Verantwortung.
Damit kommen wir zum letzten Punkt: Die Wiederentdeckung des Schriftprinzips, die Bekämpfung des Schriftprinzips, die Verteidigung des Schriftprinzips – das ist unsere Aufgabe, liebe Freunde.
Sehr schnell kommt dann der Einwand, dass die Schrift doch keine Verteidigung nötig habe. Nein, die Schrift hat das wirklich nicht nötig. Die Wahrheit der Bibel ist unzerstörbar. Das hat sie durch die Jahrhunderte hindurch mehrfach bewiesen.
Spurgeon hat einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt: Du musst den Löwen nicht beschützen, du musst ihn nur rauslassen. In diesem Sinne ist die Bibel kein Schosshündchen, sondern ein Löwe. Es ist nicht unsere Aufgabe, die arme, zerbrechliche Bibel vor bösen Angriffen zu bewahren. Lass den Löwen raus! Lass die Wahrheit ihre Durchsetzungskraft entfalten – das ist wahr!
Die Bibel hat es nicht nötig, dass wir sie verteidigen. Aber unsere Zeitgenossen haben es nötig, dass wir ihnen helfen, die falschen Einwände gegen die Bibel zu durchschauen. Wir sollen ihnen helfen, die weltanschauliche, die religiöse und die philosophisch gebundene Abwehr gegen die Bibel als das zu erkennen, was sie ist.
Unsere Kinder haben es nötig, dass wir ihnen erklären, wie sie mit den Argumenten und scheinbaren Argumenten der Bibelkritik umgehen können. Wir sollen ihnen helfen, die Zuverlässigkeit der Bibel zu sehen und die richtigen Argumente miteinander in Beziehung zu setzen.
Unsere Kinder haben es nötig, und wir haben es nötig, dass wir nicht ersticken an der toxischen Luft, die uns in unserer Gesellschaft umgibt. Diese Luft flüstert uns ständig ein: Es stimmt ja doch nicht. Es ist zeitbedingt, es ist an frühere Epochen gebunden. Danach kann man sein Leben nicht mehr ausrichten.
Wir haben es nötig, uns klarzumachen, dass wir es hier mit heiligem Text zu tun haben. Geschrieben mit menschlichen Worten auf menschlichem Papier, aber dennoch mit heiligem Inhalt. Wo die Bibel spricht, spricht Gott – das ist der Anspruch. Ist uns das noch bewusst?
Umso dankbarer können wir sein, dass der Herr dafür gesorgt hat, dass es durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder Menschen gab, die sich dafür eingesetzt haben und das Schriftprinzip verteidigt haben. Nicht weil Gott es nötig hätte, sondern weil wir es nötig haben.
Die historische Verteidigung des Schriftprinzips
Ich mache jetzt nur noch einmal so einen Schnelldurchlauf, sofern mit dieser Technik ein Schnelldurchlauf möglich ist. Dafür bekomme ich fünf Minuten länger Redezeit – einfach ein Scherz.
Also, die Verteidigung der Irrtumslosigkeit der Bibel beginnt schon in der alten Kirche, also in der Kirche, die unmittelbar dem Neuen Testament folgt. Zum Beispiel schreibt Irenaeus im zweiten Jahrhundert, die Schrift sei vollkommen, weil sie von Gottes Wort und seinem Geist gesprochen ist. Gregor von Nazianz sagt, die kleinsten Linien der Schrift stammen vom Heiligen Geist.
Wir müssen also die geringsten Schattierungen des Sinnes beachten. Er betont, dass, weil alles von Gott gegeben ist, wir uns die Mühe machen müssen, es wirklich bis in die letzte Differenzierung hinein zu verstehen und gründlich das Wort Gottes zu studieren.
Nach der alten Kirche kommt natürlich die lutherische Orthodoxie ins Spiel. Diese lutherische Theologie, die in der Epoche nach Luther entstand, hat keinen besonders guten Ruf, weil sie an manchen Stellen sehr knochentrocken wirkt und immer in der Gefahr stand, sich in ihrem System zu verlieren.
Dennoch ist eines der großen Verdienste der lutherischen Orthodoxie, vertreten durch Personen wie Joachim Quenstedt oder Abraham Calov, dass sie sich ausdrücklich für die Irrtumslosigkeit der Bibel stark gemacht haben. Das dürfen wir nie vergessen.
Dann gibt es natürlich den Pietismus. Johann Albrecht Bengel im 17. und 18. Jahrhundert sowie schon ein Jahrhundert davor Philipp Jakob Spener – Leute aus dem württembergischen Pietismus – haben sich nachhaltig für die absolute Zuverlässigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel eingesetzt.
Während der Pietismus in Deutschland seine Kreise zieht, erleben wir in England die Erweckung, für die vor allem die Namen John Wesley und George Whitefield stehen. Whitefield war ein starker Vertreter der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift.
Die Reihe geht weiter, und das ist natürlich nur eine Auswahl: Charles Haddon Spurgeon, der große Prediger Londons im 19. Jahrhundert, sagte, jedes Wort sei vom Geist Gottes ausgegangen und habe eine geistliche Kraft. Umso weniger sei es zu bezweifeln, dass alle Buchstaben von Gott gezählt seien, wie der Herr von den Haaren auf dem Haupt der Seinen sagt.
Auch der kleinste Teil der aus göttlichem Munde hervorgegangenen Rede sei göttlich. Es gebe keine Kleinigkeit in der Heiligen Schrift, die nicht Kraft und Bedeutung hätte. Das ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten.
Im 20. Jahrhundert ist Benjamin Warfield, der große Gelehrte aus Princeton, hervorzuheben. Er hat immer wieder deutlich gemacht, anhand der Quellen der alten Kirche, dass die Frage der Irrtumslosigkeit der Schrift keine nachträgliche Erfindung ist, die man irgendwann im rationalistischen 18. oder 19. Jahrhundert der Bibel angehängt hätte.
Benjamin Warfield zeigt in seinen Quellenstudien, dass dies die Position der Kirche von Anfang an durch die Jahrhunderte hindurch war. Es hat zu tun mit dem Charakter Gottes, der für sich beansprucht, völlig wahr und wahrhaftig zu sein und uns deswegen auch ein wahres Wort gibt.
Uns ist auch Martin Lloyd-Jones gut bekannt, wahrscheinlich der größte Prediger des 20. Jahrhunderts. Er hat sich immer wieder stark gemacht, in der Bibelfrage keine Kompromisse einzugehen.
Dann gab es 1978 ein historisches Ereignis: In Chicago kamen führende bibeltreue Theologen zusammen und verabschiedeten die Chicago-Erklärung. Diese ist eines der wichtigsten kirchengeschichtlichen Dokumente des 20. Jahrhunderts zur Irrtumslosigkeit der Bibel.
Im Rahmen der Wittenberger Reformationskonferenz im Mai dieses Jahres haben wir dort mit einigen Kollegen zusammen auch Thesen erarbeitet. Diese stehen unter der Überschrift „Aus Liebe zur Wahrheit – Thesen zu den fünf Solabestimmungen und eben auch zu Sola Scriptura“.
Dort versuchen wir deutlich zu machen, dass wir eine neue Betonung und Hinwendung zur Irrtumslosigkeit brauchen, damit den Leuten bewusst wird, dass man hier nicht spielen darf.
Um unsere Verbundenheit mit der Chicago-Erklärung deutlich zu machen, haben wir sie im zweiten Teil dieser Schrift auch noch einmal abgedruckt. Ich werde das dem Büchertisch geben, sodass man dort dieses Heft „Aus Liebe zur Wahrheit – 95 Thesen für unsere Generation“ bestellen kann.
Deswegen sind wir auch dankbar für den Dienst vieler Brüder in den Vereinigten Staaten, etwa für John MacArthur und für den großen Inerrancy-Kongress, den sie dort 2015 durchgeführt haben.
Denn man merkte, es reicht nicht, dass das 1978 einmal gesagt wurde. Der Zeitgeist ist stark, die Trägheit ist stark, die versteckte Bibelkritik ist stark.
Deshalb ist es unsere Aufgabe, gebietet es die Treue zu unserem Herrn und seinem Schriftverständnis, an diese große Wahrheit immer wieder zu erinnern.
Die Herausforderung in der evangelikalen Bewegung
Ich sage dies deshalb so deutlich, und ich sage es auch mit großer Traurigkeit, weil auch in unserer eigenen evangelikalen Szene die Infragestellung der biblischen Autorität immer weiter um sich greift.
Ich denke, eine Achillesferse, eine Schwachstelle der evangelikalen Bewegung in Deutschland besteht darin, dass die Organisationen, die sie seit dem 19. Jahrhundert geprägt haben, einerseits sich grundsätzlich zur Autorität der Bibel bekannt haben. Andererseits haben sie immer eine gewisse Distanz gegenüber der Irrtumslosigkeit, also dem Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit, gewahrt.
Das gilt zum Beispiel für die Evangelische Allianz, die in ihrem Schriftbekenntnis sagt: Wir bekennen uns zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung. Das ist schon einmal gut, aber es ist eingeschränkt – haben Sie es bemerkt? In allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung. Hier hat man ganz bewusst ein Schlupfloch gelassen für die Fragen der Geschichte und der Natur.
Das Schriftbekenntnis der Allianz ist von Anfang an ein Kompromiss, der die Irrtumslosigkeit ganz bewusst offenlässt.
Der Gnadauer Verband, der Gemeinschaftsverband, ist genau denselben Weg gegangen. Er hat sich eindeutig nicht zur Irrtumslosigkeit bekannt und führte als Begründung noch die falsch verstandene Stelle von Paulus an, dass wir den Schatz nur in irdenen Gefäßen haben. Doch die irdenen Gefäße, von denen Paulus hier spricht, sind nicht die biblischen Schriften, sondern wir Menschen. Wir sind die irdenen, zerbrechlichen Gefäße.
Auch die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, der ich persönlich viel verdanke und in deren Reihen ich lange Jahre mitgearbeitet habe, hat eine wichtige Aufgabe für unser Land wahrgenommen – gerade in der Auseinandersetzung mit der Bibelkritik. Leider hat auch diese Bewegung nie den Mut und die Einsicht gefunden, sich offensiv zur Irrtumslosigkeit der Bibel zu bekennen.
Manche versuchten das fromm zu rechtfertigen, wie etwa Heinz Peter Hempelmann in seinem Aufsatz. Dort sagt er, die Bibel wolle selbst gar nicht irrtumslos sein. Das habe man ihr nur übergestülpt – das sei rationalistischer Fundamentalismus.
Ich denke, das Schriftverständnis Jesu ist sehr klar. Er geht sehr eindeutig davon aus, dass jedes Wort wahr ist. Das ist nicht übergestülpt, sondern der Selbstanspruch der Bibel.
Darum hat die Chicago-Erklärung recht, wenn sie in ihrem 16. Artikel sagt: Wir bekennen, dass die Lehre von der Irrtumslosigkeit ein integraler, also von Anfang an dazugehörender Bestandteil des Glaubens der Kirche in ihrer Geschichte war – von Anfang an ein integraler Bestandteil.
Es hat Folgen, wenn wir das nicht ernst nehmen. Seid aufmerksam und sorgfältig, auch in euren Gemeinden und Arbeitsgruppen. Wenn ihr merkt, dass sich von irgendeiner Seite Kritik an der Bibel einnisten will, dann klärt das! Behandelt das nicht als Lappalie. Es geht nicht darum, dass der eine die Bibel mehr so sieht und der andere etwas offener ist.
Es geht um unsere Treue zu Jesus. Es geht bei unserem Schriftverständnis darum, ob wir uns von seinem Schriftverständnis prägen lassen.
Es ist schon ein Alarmsignal, wenn – wie vor einigen Monaten geschehen – der theologische Leiter des EC, des Jugendverbandes des Gnadauer Verbandes, beim Mitarbeitertag im Februar 2017 über die Bibel in einer Weise gesprochen hat, wie ich das früher nur von meinen liberalen Professoren kannte.
Dort sagte Ruder Festerheide: Christen glauben nicht an die Bibel, sondern an Gott, der durch sie spricht. Nicht von den Worten der Bibel, sondern von Gott erwarten wir Veränderungen in unserem Leben.
Ja bitte, was ist das für eine Alternative? Natürlich glauben wir nicht an die Bibel als an eine Person, aber wir glauben der Bibel, weil wir an Jesus glauben. Warum wird hier versucht, einen Keil zwischen Gott und sein Wort zu treiben? Warum lässt man sich hier Stichworte aus einer ganz anderen weltanschaulichen Etage vorgeben, obwohl die Bibel selbst immer wieder deutlich macht, dass sich Gott und sein Wort nicht voneinander trennen lassen?
Wir haben eine große Verantwortung. Ich möchte Mut machen, an dieser Stelle nicht zu wanken und nicht zu weichen. Das hat nichts mit Sturheit zu tun, nichts mit Borniertheit, sondern mit Treue, Konsequenz und geistiger Stringenz sowie Klarheit.
Schlussgedanken zur Irrtumslosigkeit der Bibel
Ich komme zum Schluss. Je länger wir darüber nachdenken, desto mehr zeigt sich, dass die Frage der Irrtumslosigkeit ein Lackmustest dafür ist, wie ernst wir es mit dem Sola Scriptura meinen.
Darum liegt es in unserer großen Verantwortung, an dieser Stelle erneut ganz klar Position zu beziehen. Wer das Sola Scriptura bekennt, sich aber gleichzeitig dem umfassenden Wahrheitsanspruch der Bibel verweigert, bleibt auf halber Strecke stehen.
Keiner hat uns diese Leidenschaft eindringlicher ins Stammbuch geschrieben als Francis Schaeffer, der große evangelikale Philosoph, Zeitkritiker und Missionar. Wie ein Vermächtnis war eines seiner letzten Bücher betitelt: „The Great Evangelical Disaster – Die große evangelikale Katastrophe“. Er warnt, dass es Folgen haben wird, wenn wir an dieser Stelle den Damm brechen und preisgeben, dass Gottes Wort nicht durch und durch wahr ist.
Lasst uns an dieser Stelle Martin Luther und seine Kollegen zum Vorbild nehmen. Sie haben in einem sehr feindseligen Umfeld ihren Kopf für diese Wahrheit riskiert – aus Treue zum Herrn. Sie konnten das tun, weil sie wussten, dass es nicht an ihnen liegt. Kein Mensch, keine Gemeinde, keine Institution kann diese Situation retten. Gerade darin liegt die Freiheit, in der Luther und seine Mitstreiter viel gewagt und auch für unsere Generation viel gewonnen haben.
Luther hat es so ausgedrückt: „Gott helfe uns, wie er unseren Vorfahren geholfen hat und unseren Nachkommen auch helfen wird, zu Lob und Ehren seines göttlichen Namens in Ewigkeit.“ Denn wir sind es nicht, die die Kirche erhalten können, die Gemeinde Jesu bewahren. Unsere Vorfahren waren es nicht, unsere Nachkommen werden es nicht sein, sondern der, der da spricht: „Ich bin bei euch bis an der Welt Ende.“
Herr Jesus Christus, dafür danken wir dir, dass du selbst über deiner Gemeinde wachst, dass du selbst über deinem Wort wachst. Du weißt, wie sehr deine Gemeinde an diesem Punkt durch die Jahrhunderte hindurch angegriffen wurde. Du weißt, dass die Luft, die wir atmen, toxisch ist.
Deshalb brauchen wir von dir Klarheit. Wir brauchen, dass du uns das Vertrauen in dein Wort schenkst und stärkst. Lass uns wachsam sein, wo sich falsches Denken und abführende Kompromisse bei uns einnisten wollen.
Herr, schenke uns Mut und eine noch stärkere Liebe zu deinem Wort – aus Liebe zu dir.