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17.09.1988Apostelgeschichte 12,1-17
Das Gebet ist die Hauptsache der Gemeinde, gerade, wenn sie unter Druck gesetzt wird. Denn wer hinter verschlossenen Türen betet, dem öffnen sich die Türen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart zum Bericht über die Befreiung von Petrus aus dem Gefängnis.

Der Mann hatte wirklich eine schöne Verwandtschaft, liebe Gemeinde. Sein Großvater ließ alle Säuglinge eines Marktfleckens abschlachten wie das Vieh. Seine Nichte wünschte sich auf dem Präsentier­teller den Kopf eines Unschuldigen als Partypräsent. Sein Onkel verantwortete das blutige Kreuzigungsspektakel draußen vor der Stadt. Nicht wahr, mit solch schöner Verwandtschaft kann man sich sehen lassen.

Und der Mann hatte eine steile Karriere. Als Markt­aufseher eines orientalischen Bazars begann er seine Laufbahn. Dann lernte er als Hochstapler die Zuchthäuser von innen kennen. Schließlich kam er als Schwindler auf den Thron und regierte als Schattenfigur einer ausländischen Großmacht. Nicht wahr, mit solch steiler Karriere schindet man Eindruck.

Und der Mann hatte eine seltene Chamäleonsart. Mit den Frommen ging er in den Tempel und zeigte sein frommes Gesicht. Mit den Gottlosen zechte er die Nächte durch und lästerte über den frommen Zauber. Mit dem Pöbel verbündete er sich heimlich gegen seine Gönner. Nicht wahr, mit solcher Chamäleonsart gewinnt man Stimmen.

Dieser Mann war Führer und Held, Tyrann und Despot, Verbrecher und Mörder in einer Person.

Liebe Freunde, ich spreche nicht von Benito Mussolini oder Adolf Hitler oder Josef Stalin, obwohl all diese Männer aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Ich meine Herodes Agrippa, der im Jahr 10 vor Christus geboren wurde und im Jahre 41 nach Christus an die Macht kam. Als aber eines Tages sein Stern trotz allen An­passungsmanövern zu sinken drohte, begann er mit dem Kesseltreiben gegen die Christengemeinden. Immer haben sich starke Männer auf Kosten von schwachen Christen zu profilieren gesucht. Gottesdienstbesucher wurden verprügelt, Gemeindeleiter verschwanden in dunkeln Verliesen, sogenannte Volkszersetzer und Klassenfeinde fielen den Säuberungsaktionen zum Opfer. Die Gemeinde Jesu geriet wieder einmal unter schweren Druck. Nie wächst sie über ihren Herrn hinaus. Passio passiva, leiden müssen, das ist ihr Schicksal, alles andere ist Ausnahme von der Regel.

Dabei verfiel die Gemeinde nicht der Resignation. Wir lesen nichts davon, dass sich Leute aus der Gemeindekartei streichen ließen, um sich klammheim­lich aus dem Staub zu machen. Der äußere Druck verstärkt die innere Gemeinschaft. Die Gemeinde veranstaltete auch keine Demonstration. Wir lesen nichts davon, dass sich Kreise auf die Straße wagten, um mit Spruchbändern gegen das Unrechtssystem zu protestieren. Demos lösen Gegendemos aus. Die Gemeinde machte erst recht keine Revolution. Wir lesen nichts davon, dass sich Gründungsmitglieder zusammenfanden, um eine Untergrundbewegung aus der Taufe zu heben. Revolutionen enden mit Blut und Tränen. Nein, in Jerusalem wurde nicht resigniert, demonstriert oder opponiert, sondern meditiert. Die Gemeinde "betete ohne Aufhören zu Gott".

Sicher hatten sie kaum Zeit neben ihrem beruflichen Stress, aber die Gemeinde betet ohne Aufhören zu Gott. Sicher hatten sie eine Latte von diakonischen Aufgaben zu erledigen, aber die Gemeinde betete ohne Aufhören zu Gott. Sicher hatten sie Zweifel genug, ob denn Händefalten etwas bringe, aber die Gemeinde betete ohne Aufhören zu Gott. Das Gebet ist die Hauptsache der Gemeinde. Das Gebet ist die Haupt­waffe der Christen. Der Glaube ist die Hauptaufgabe, wenn die Ängste und Probleme über den Kopf wachsen. Die damals hielten sich ganz schlicht an die Order Jesu: "Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu." Und dann machten sie jene Erfahrung, die wir heute auch machen können und wieder machen sol­len: Wer hinter verschlossenen Türen betet, dem öffnen sich die Türen.

Wer hinter verschlossenen Türen betet, dem öffnen sich die Türen.

Von drei Türen ist in diesem Erfahrungsbericht die Rede, von einer Kerkertür, einer Gefängnistür und einer Haustür.

1. Die Kerkertür

... hat sich hinter Jakobus geschlossen. Grobe Riegel wurden vorgeschoben und schwere Balken quergelegt. Ein Urapostel saß in der Hinrichtungszelle.

Eigentlich war er für seinen Bruder unersetzlich. Johannes und Jakobus galten seit ihrer Dienstverpflichtung am Galiläischen Meer als ein eingespieltes Team. Auf die Zebedäus-Söhne konnte sich jeder verlassen. Eigentlich war er für den Jüngerkreis unersetzlich. Von Anfang an gehörte er zu den Vertrauten Jesu und erlebte manche Wunder aus nächster Nähe mit. Viele Herrenworte kannte nur er. Eigentlich war er für die Gemeinde unersetzlich. Auf Grund seiner hervorgehobenen Stellung strahlte er Ruhe und Autorität aus.

Jakobus, der Jünger, der Apostel, der Unersetzliche, so wie für uns auch manche Menschen nicht zu ersetzen sind: dieser Mann für seine Frau, diese Mutter für ihre Kinder, dieser Sohn für seine Eltern, diese Persönlich­keit für die Gemeinschaft. Kein Wunder, dass sie hinter verschlos­senen Türen auf die Knie gingen, die Hände falteten und mit dem 126. Psalm beteten: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Herr bringe zurück unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland, aber dein Wille geschehe." Und Gottes Wille ließ dem Herodes seinen Willen. Keine Fürsprache erreichte sein Ohr. "Er tötete aber Jakobus mit dem Schwert."

Liebe Freunde, war damit alles Beten für die Katz? Kommt's eben doch so, wie es kommen muss? Trifft jeden nur die Kugel, die für ihn gegossen ist? Jakobus und seine Beter hätten dies energisch bestritten. Wohl ist die Todestür endgültig ins Schloss gefallen, aber die Tür zum Leben hat sich geöffnet. Er war geadelt, beim Herrn zu sein. Er war gewürdigt, das weiße Kleid der Erlösten zu tragen. Er war geladen zum großen Abendmahl. Märtyrer sind Frühheimkehrer in die ewige Heimat, und manche Christen auch.

Meinen wir doch nicht, dass Gott in der Hinrichtungszelle am Ende seines Lateins sei. Denken wir doch nicht, dass Gott im Sterbezimmer seine Waffen strecken muss. Glauben wir doch nicht, dass Gott vor dem Tod kapituliert. Spätestens seit Ostern ist son­nenklar, wo die Schlüssel des Todes und der Hölle liegen. Jesus lässt sich sein Schlüsselrecht nicht mehr bestreiten, seit er den Kampf gegen den Erzfeind gewonnen hat. Otto Hagelstange hatte recht: "Uns ist eine Welt anheimgegeben, in dem der Tod sein Büttelrecht verwirkt."

Warum sind wir verbittert, wenn Gottes Wille unseren Willen durchkreuzt? Warum sind wir enttäuscht, wenn trotz unserer intensiven Gebete unersetzliche Menschen von unserer Seite gerissen werden? Warum sind wir todtraurig, wenn die Todes­tür zugeschlagen wird? Alle Angefochtenen und Betrübten unter uns sollen dies hören: Die Kerkertür hat sich hinter Jakobus geschlossen, aber die Tür zum Leben hat sich aufgetan.

2. Die Gefängnistür

... wurde hinter Petrus verriegelt. Herodes war anscheinend auf den Geschmack gekommen. Weil die Generalprobe im Fall Jakobus so vorzüglich geklappt hat, stand dem Hauptspektakel nichts mehr im Weg. "The show must go on", die Schau muss weiter­ gehen, das Schauspiel muss weiterhelfen, der Schauprozess gegen den Felsenmann muss geführt werden. Und damit niemand in letzter Sekunde diese Suppe versalzen kann, verfügte der Gewaltherrscher eine Überstellung in den Hochsicherheitstrakt des Staatsgefängnisses. 16 Mann werden als Sonderbewachung abgestellt. Petrus sitzt so fest wie der Hagel in der Wand.

Und die Gemeinde betete wieder. Sie wagten einen neuen Sturmlauf. Der 126. Psalm ist nie veraltet: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Herr, bringe zurück unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland, aber dein Wille ge­schehe." Und Gottes Wille durchkreuzte dem Herodes seinen Willen. Er musste erfahren: Bis hierher und nicht weiter. "Siehe, ein Engel des Herrn kam daher."

Und der musste zuerst den Wecker spielen. Petrus schlief in der Nacht vor seiner Exekution wie ein Murmeltier. Wer seine Sache Gott anheimstellt, hat ein gutes Ruhekissen. Es gilt: "Seinen Freunden gibt es der Herr schlafend." Dann ging das Licht an, dann erhielt er einen Schubs in die Seite, dann fielen die Ketten ab, dann sagte eine Engelstimme wie eine Mutterstimme, die einen schlaftrunkenen Schulerbuben aus dem Haus hinaus dirigiert: "Schnall den Gürtel um! Bind die Schuhe zu! Vergiss den Mantel nicht!" Fehlt nur noch: "Hast du's Taschentuch eingesteckt?" Petrus durchschreitet in schlafwandlerischer Sicherheit die Zellentür, dann die Eingangstür, dann die Hoftür. Alle Türen öffnen sich "automatä", das heißt automatisch. Erst auf der Straße kommt er ganz zu sich und sagt: "Nun ist's mir klar, dass der Herr mich errettet hat."

Liebe Freunde, durch das Gebet hat sich für Petrus die Tür zur Freiheit geöffnet. Er war geadelt, noch einmal anzutreten. Er war gewürdigt, noch eine Lanze für den Herrn zu brechen. Er war geladen zu weiterem Dienst. Als lebendige Predigt über das Wort "Bei Gott ist kein Ding unmöglich" marschierte er durch die Straßen. Jeder sollte durch ihn jene Stimme hören: "Ich hol den Petrus, ich hol den Bekenner, ich hol jeden Glaubenden aus dem tiefsten Gefängnis eines jeden Herodes heraus. Und wenn man gleich 16 Wachtposten davorsetzt, ich hol ihn heraus. Und wenn man gleich mit Ketten gefesselt ist, ich hol ihn heraus. Und wenn man gleich überhaupt keine Chance mehr sieht, ich, der Herr hol ihn heraus."

Für den lebendigen Gott gibt es keine ausweg­lose Situation. In seinen Augen sind starke Tyrannen nur schwache Figuren. In seinen Händen sind dicke Ketten nur dünne Bindfäden. In seinem Kopf sind tapfere Wachsoldaten nur feige Pappkameraden. Wer an Ostern den Tod besiegen konnte, kann alles.

Christen leben von den überraschenden und unglaublichen Deblockierungen ihres Herrn, so wie damals: Die Gefängnistür wurde hinter Petrus ver­riegelt, aber die Tür zur Freiheit wurde vor ihm aufgetan.

3. Die Haustür

... lag hinter der Magd Rhode und ihren Freunden fest im Schloss. Die Gebetsgemeinschaft sollte nicht gestört werden. Stille braucht es im Audienzzimmer Gottes. "Herr, bringe zurück unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland." Und als dann Petrus wirklich wieder zurückgebracht ist und leib­haftig vor der Haustür steht, kann es Rhode nicht fassen und die Beter sagen: "Frau, du spinnst!"

So war es damals: Beten, aber an Erhörung nicht glauben. So ist das heute: Beten, aber an Erfüllung nicht denken. So ist das immer: Beten, aber die Möglichkeiten Gottes für sehr beschränkt halten.

Und dieser Gott hört selbst auf dieses Rufen. Heute werden also die getröstet, die nur zaghaft und tastend beten. Heute werden die gestärkt, die nur kleinmütig und schüchtern die Hände falten. Heute werden die ermutigt, die alle Hoffnung verloren haben und dennoch Gott in den Ohren liegen. Es ist nicht wahr, dass Gott nur soviel an uns tut, wie unser Glaube zu fassen und ihm abzunehmen bereit ist. Gott tut mehr, als wir ihm im Ernst zutrauen. Am Schluss dieser Geschichte stand die Haustür sperrangelweit offen, die Leute gingen hinaus und sagten's weiter: "Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei. Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden, er, der Sohn Gottes, der machet recht frei."

Und liebe Freunde, wenn sich damals die Kerkertür und die Gefängnistür und die Haustür geöffnet hat, dann gibt es doch gar keine andere Tür mehr, die er nicht auch öffnen könnte. Vielleicht hat Ihnen der Tod eine Tür zuge­schlagen und alles stockdunkel gemacht. Vielleicht sitzen Sie mit Ihrer Krankheit oder Einsamkeit wie vor einer Gefängnistür. Viel­leicht ist Ihre Haustür mit dem Querbalken der Sorge und Angst verrammelt.

Dieser Text sagt: Wer hinter verschlossenen Türen betet, dem öffnen sich die Türen. Der weggeschleuderte Grabstein am Ostermorgen ist Beweis genug. Jesus, der Öffner und Befreier lebt.

Amen.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]