
Ich würde gern noch für dich beten. Treuer Herr, vielen Dank für das gute Essen hier. Segne die Hände, die es bereitet haben. Danke für die Gastfreundschaft auch dieser Gemeinde hier. Wir danken dir jetzt, dass du uns nochmals offene Ohren schenkst und Herzen, die bereit sind. So können wir hören, lernen und vor allem dich und dein Evangelium sehen und neu darüber staunen dürfen. Hilf Rohn und segne ihn. Amen.
Herr Präsident! Ja, das ist in der Tat jetzt so die Zeit, in der das Blut sich in die Magengegend bewegt, und die Konzentration nicht ganz einfach ist. Aber ich lade euch ein, jetzt noch eine Dreiviertelstunde zu lauschen. Wie ich angekündigt habe, ist es ein eher praktischer Vortrag über Luthers Seelsorge.
Nun kann man natürlich fragen: Was hat das Thema Luthers Seelsorge mit einer florierenden Gemeinde zu tun? Ist dieser Vortrag vielleicht nur aus Verlegenheit ins Programm aufgenommen worden? Ich kann euch versichern, dass das nicht der Fall ist. Es ist der einzige Vortrag, den ich extra für heute oder für dieses Wochenende vorbereitet habe. Ich habe ihn also noch nie gehalten. Und ich bin wirklich davon überzeugt, dass Luthers Seelsorge Lebendigkeit in die Gemeinden bringen kann.
Falls das im Verlauf nicht klar wird, dann liegt es nicht am Reformator, sondern an meiner Darstellung.
Warum vom Reformator Luther trösten lernen? Zum einen bin ich überzeugt, dass Seelsorge ganz allgemein sehr viel mit einer florierenden Gemeinde zu tun hat. Die Gemeinde ist das von Gott berufene Organ der Seelsorge. Sie ist der Ort, an dem Lehre, Brotbrechen, Gebet und Gemeinschaft praktiziert werden. Die Gemeinde ist der Raum, in dem Christen einander ermahnen, erbauen und vergeben.
Gott erzieht sein Volk durch die Heilsgemeinde und auch durch die Seelsorge.
Zum anderen gibt es einige Besonderheiten in Luthers Seelsorge, die wir gerade heute in einer Zeit großer Verunsicherung wiederentdecken sollten. Ich werde das gleich erklären.
Ich habe Folgendes mit euch vor:
Zunächst möchte ich sehr einführend und komprimiert vermitteln, welches Seelsorgeverständnis ich überhaupt voraussetze. Ihr wisst, dass es viele konkurrierende Seelsorgeansätze gibt. Deshalb möchte ich kurz erklären, was ich unter christozentrischer Seelsorge verstehe.
Als Zweites werden wir uns mit einigen Besonderheiten der Seelsorge Luthers vertraut machen.
Drittens möchte ich die Seelsorge Luthers auf einige aktuelle seelsorgerliche Herausforderungen im Hier und Jetzt anwenden.
Was ist christozentrische Seelsorge?
Da wir in der Schweiz sind, möchte ich eine Schweizer Untersuchung zitieren, die zwar schon einige Jahre alt ist, aber dennoch aufschlussreich. Sie stammt aus dem Jahr 2004. In dieser Untersuchung wurde versucht herauszufinden, welche aktuellen Trends in der Seelsorge bestehen.
Zunächst stellte man fest, dass Menschen, die Beratung suchen, immer häufiger als Auftraggeber und Kunden betrachtet werden. Um diese Menschen muss man sich kümmern, man muss um sie werben und sie pflegen.
Zweitens gibt es eine Art Seelsorge-Hopping. Das bedeutet, wenn der Ratsuchende mit dem, was der Seelsorger ihm sagt, nicht zufrieden ist, sucht er sich einen anderen Ratgeber.
Drittens breitet sich in der Seelsorge eine Sprache aus, die beschönigt und verhüllt. Zum Beispiel ist der Begriff „Sünde“ verpönt. Man meidet auch Begriffe wie „Ermahnung“. Aus der Selbsttötung ist der „Freitod“ geworden, und Ähnliches.
Viertens werden seelische Leiden immer schneller durch Medikamente behandelt.
Im Resümee heißt es dann, dass man nicht nur eine schnelle Beseitigung seiner Beschwerden und Störungen will, sondern diese Störungen auch mühelos beseitigt haben möchte.
Die Seelsorge hat sich im zwanzigsten Jahrhundert sehr stark in Richtung Lebenshilfe entwickelt. Sie möchte uns Menschen darin unterstützen, das Wohlbefinden zu verbessern. Im Zentrum der seelsorgerlichen Begleitung steht die Steigerung der Lebensqualität oder der „Performance“, wie man heute sagt.
Warum nicht? All das darf ja Bestandteil unserer Seelsorgetätigkeit sein. Dort, wo wir die Möglichkeit haben, Leid zu mindern und Leistung zu verbessern, ist auch die Gemeinde als Seelsorgerin gefragt. Aber reicht das?
Larry Grapp hat ein Buch geschrieben, das wahrscheinlich einige von euch kennen. Es heißt „Gott finden“. Bereits im Vorwort beschwert er sich darüber, dass der Mensch zu sehr – ich möchte es mal so ausdrücken – in den Mittelpunkt der Seelsorge gerückt ist.
Er schreibt: „Uns besser zu fühlen ist wichtiger geworden als Gott zu finden. Noch schlimmer: Wir sind überzeugt, dass Menschen, die Gott finden, sich immer besser fühlen.“
Um diese Schwerpunktverlagerung besser zu verstehen, möchte ich eine Illustration einbauen, die wir aus der Lehre vom Gottesdienst kennen. Dort spricht man von einer horizontalen und einer vertikalen Ebene.
Mit der horizontalen Ebene bezeichnet man alle Gottesdienstelemente, in denen die Kommunikation der Gemeindemitglieder untereinander im Vordergrund steht. Das sind zum Beispiel Gemeinschaft, Bekanntmachungen, Zeugnisse oder das gemeinsame Kaffeetrinken nach dem Gottesdienst.
Die vertikale Dimension hingegen beschreibt die Kommunikation zwischen Gott und seiner Gemeinde beziehungsweise umgekehrt. Eine gute Liturgie im Gottesdienst legt zum Beispiel bei der Eröffnung das Gewicht auf Gott selbst. Wir schauen auf die Größe und die Herrlichkeit Gottes, weil wir wissen, dass wir uns als Menschen und als seine Kinder nur im Angesicht Gottes richtig verstehen können.
An anderer Stelle betonen wir dann die horizontalen Aspekte. Wenn wir dieses Bild auf die Seelsorge übertragen, können wir leicht erkennen und verstehen, dass die Seelsorge der Gegenwart die horizontalen Aspekte sehr stark hervorhebt. Die vertikalen Aspekte hingegen werden in den Hintergrund gedrängt, wenn sie überhaupt noch Berücksichtigung finden.
Ich könnte euch jetzt einige interessante Beispiele erzählen, lasse das aber aus Zeitgründen.
Seelsorge kann nicht nur darum gehen, unsere Leistungsfähigkeit zu verbessern oder uns im Angesicht der Gebote Gottes beraten zu lassen, damit wir uns besser fühlen. Vielmehr kommt es darauf an, dass wir in der Seelsorge Gott finden.
Die Aufgabe des Seelsorgers ist es, Menschen zu Christus zu führen und Christen dabei zu helfen, die Gemeinschaft mit Christus zu vertiefen. Christozentrische Seelsorge will also Ratsuchenden helfen, die Gemeinschaft mit Jesus Christus selbst zu pflegen und ein Leben zur Ehre Gottes zu führen. Seelsorger sind dafür da, diese Entwicklung zu unterstützen.
Die horizontalen Elemente gehen dabei nicht verloren, aber der Schwerpunkt – das merkt ihr hoffentlich – ist ein anderer.
Ich komme immer stärker zu der Überzeugung, dass positive Selbstwahrnehmung, Freude und Zuversicht – all die Dinge, nach denen wir uns so sehnen – nicht unmittelbare Ziele unserer seelsorgerlichen Begleitung sind. Sie sind vielmehr Früchte eines Lebens, das zur Ehre Gottes geführt wird.
Ein guter Seelsorger weiß, dass die Ressourcen für ein gottwohlgefälliges Leben nicht im Ratsuchenden liegen und auch nicht im Berater, sondern in Jesus Christus zu finden sind. In ihm sind die Schätze des Lebens verborgen. Er regt dazu an, die Lösungen für die Nöte der Gegenwart in Jesus Christus zu suchen.
Damit kommen wir zum zweiten Teil: Martin Luthers Seelsorge – Seelsorge als Trost. Für Luther ist Seelsorge nicht nur eine pastorale Aufgabe, sondern der Kern der Theologie selbst. Er verstand seine gesamte Theologie als Seelsorge.
Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einer prominenten christlichen Lebensberaterin. In der Diskussion sagte sie mir, dass sie in ihrer Beratung mit der Bibel und mit biblischer Lehre überhaupt nichts anfangen könne. Das brauche sie nicht mehr. Dafür benötige sie andere Quellen.
Für Luther war hingegen klar, dass die ganze Theologie etwas mit Trost für die Seele zu tun hat. Wer den Heidelberger Katechismus kennt, weiß, dass dies so ist und kennt auch die Argumente dafür.
Luthers autobiographische Verzweiflungserfahrung angesichts eines unerreichbaren, gerechten und heiligen Gottes führte in der Seelsorgelehre zu einem Perspektivwechsel. Nicht mehr der defizitäre Mensch mit seiner Fähigkeit zu Reue und Buße steht im Mittelpunkt, sondern der schenkende, der vergebende Gott in Jesus Christus.
Dieser Perspektivwechsel begründet den Trostcharakter der Seelsorge. Nach Luther überschüttet Gott seine Kinder reichlich mit Gnade. Der Reformator wollte das Geschenk der Sündenvergebung vom Beichtstuhl entkoppeln und es zur Alltagserfahrung machen.
Er schreibt davon, dass wir im Haus, auf dem Feld und im Garten überall Trost und Rettung finden, weil Jesus Christus unter uns ist.
Jürgen Ziemer, ein Dozent für Seelsorgelehre, hat drei Schwerpunkte von Luthers Seelsorge beschrieben.
Erstens: Für Luther ist Seelsorge kein menschliches Handeln, sondern ein Werk Gottes. Die Begründung dafür findet sich wie immer im Skript.
Zweitens: Luthers Seelsorge ist realitätsbezogen. Der Reformator rechnete mit der Sünde und dem Bösen. Die Macht des Bösen, der Satan, der alte böse Feind, ist für Luther kein Phantasieprodukt, sondern eine reale Erfahrung. Zwar ist er durch Christus besiegt, doch er ist noch am Werk und kann unsere Seele immer wieder in Ungewissheit stürzen.
Drittens: Luthers Seelsorge ist in der Gemeinde verortet. Er hat die Seelsorge vom Bussakrament der katholischen Kirche befreit. Dabei hat er die Buße als freiwillige Buße nicht abgelehnt, jedoch das Sakrament zurückgewiesen. Er betonte das Priestertum aller Gläubigen. Allen Christen ist die Vollmacht gegeben, zu lösen und zu binden. Seelsorge ist für ihn also eine Funktion der Gemeinde.
Es gibt noch eine vierte Besonderheit, die bei Ziemer nicht zu finden ist, die ich aber für sehr prägend für Luthers Seelsorge halte: Luther tadelt das Selbstvertrauen. Das ist heute eine tödliche Botschaft. Wer zum Beispiel einmal eine Predigt von Rob Bell zu diesem Thema gehört hat, wird feststellen, dass Bell das genau umkehrt. Er definiert Glaube als Selbstvertrauen.
Luther hingegen tadelt das Selbstvertrauen. Er kritisiert den Glauben an sich selbst und setzt ganz auf eine fremde Gerechtigkeit, die allein den Menschen selig macht – nicht nur im Sinne von Rettung.
Ein Zitat von Luther dazu: „Denn Gott will uns nicht durch unsere eigene, sondern durch fremde Gerechtigkeit und Weisheit selig machen, durch eine Gerechtigkeit, die nicht aus uns kommt, nicht aus uns erwächst, sondern von anderswoher zu uns kommt.“
Daher passt es, dass Luther sehr darum bemüht war, die Menschen aus ihrer Selbstverkrümmung heraus zu befreien. So hat er die Sünde definiert: Der Mensch ist in sich auf sich selbst hin verkrümmt.
Er riet seinen Beichtkindern nicht zu mehr Wertschätzung der eigenen Gefühle. Stattdessen trieb er sie dazu an, am Wort Gottes festzuhalten und sich selbst im Lichte dieses Wortes zu deuten.
Rolf Sons Lange, Rektor des Bengelhauses in Tübingen, hat ein empfehlenswertes Buch über Luthers Seelsorge geschrieben. Darin stellt er korrekt fest, dass Luther das menschliche Ich nicht sich selbst überlässt, sondern es bindet.
In der Bindung an Gott wird das Ich paradoxerweise frei von sich selbst. Dadurch wird es fähig, Gott und seine Nächsten zu lieben. Dies ist eine Antwort auf die seelsorgerlichen Herausforderungen der Gegenwart.
Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass Luther besonders die vertikalen Aspekte der Seelsorge betont. Der Mensch ist auf Gott hin bezogen; er lebt vor Gott. Gerade als Seelsorger stehen wir oft unter dem Eindruck einer psychologisierten Beratung, sodass wir Gott in der Seelsorge kaum noch suchen.
Für Luther hingegen ist die Fixierung auf den Menschen und die Geworfenheit des Menschen auf sich selbst eher ein Problem als ein Ausweg. Er sucht und findet die Antwort auf die quälenden Fragen, indem er unseren Blick auf Christus lenkt und uns bei ihm in die Schule gehen lässt.
Dabei verliert er die horizontalen Aspekte nicht aus den Augen. Ich glaube, dass uns Luthers Seelsorge ein gewaltiger Beistand sein kann bei den Herausforderungen, die wir heute in den Gemeinden seelsorgerlich haben.
Anhand von drei Beispielen möchte ich Luthers Medizin empfehlen.
Das erste Beispiel: Glaubensgewissheit anstelle von Glaubenszweifeln. Der Zweifel ist nichts Neues, das wissen wir. Er taucht bereits im dritten Buch Mose auf. Unsere Kultur ist jedoch in ganz intensiver Weise vom Zweifel durchdrungen. Er ist inzwischen in sämtlichen Lebensbereichen zu finden.
Der polnisch-jüdische Soziologe Sigmund Bauman, der am 9. Januar 2017, also vor wenigen Tagen, verstorben ist, sprach in seinen Büchern gerne von einer Makroungewissheit. Alles ist vom Zweifel durchzogen, nichts bleibt mehr verschont. Die Grunderfahrung des spätmodernen Menschen ist der Verlust: Verlust von Gewissheit, von Ordnung, von Einheit und von Sicherheit.
So hat sich in der westlichen Welt – und das ist nicht überraschend – der Zweifel auch über den Gottesglauben gelegt. Fast scheint es so, als ob sich der Zweifel besonders auf den christlichen Glauben konzentriert. Wie ein Sauerteig breitet er sich aus und legt sich über das Gottvertrauen. Das Einzige, was heute kaum mehr in Zweifel gezogen wird, ist der Unglaube. Der Unglaube wird nicht mehr hinterfragt.
Bei so viel Unglauben ist es kein Wunder, dass diese Kultur des Zweifels auch in die christlichen Gemeinden hineinschwappt. In den letzten Jahren sind etliche Bücher erschienen, in denen Christen ausführlich ihre Abkehr beschreiben – wie sie sich also vom christlichen Glauben abgewandt haben. Meines Erachtens ist es ein Indiz für die Selbstsäkularisierung der Frommen, wenn solche Bücher dann auch noch in christlichen Verlagen erscheinen und ganz prominent auf Buchmessen beworben werden.
Ich selbst treffe fast regelmäßig auf Menschen, die von ihren Zweifeln aufgefressen werden, und das ist keine angenehme Erfahrung. Wie Rost am Metall nagt und es zersetzt, kann der Zweifel den Glauben des Menschen zersetzen. Jakobus beschreibt in seinem Brief einen solchen Menschen als jemanden mit einer gespaltenen Seele, unbeständig und haltlos auf all seinen Wegen.
Es ist richtig, Raum zu schaffen – auch in Gemeinden, in der Studentenarbeit und so weiter –, damit Zweifel ausgesprochen und beantwortet werden können. Ich habe aber gelegentlich den Eindruck, dass der Zweifel inzwischen auch attraktiv geworden ist. Er bekommt besonders viel Wertschätzung. Es ist „cool“, zu zweifeln. Manchen erscheint der auf der Bibel gegründete Glaube als etwas für einfach gestrickte Leute. Authentischer Glaube braucht möglichst viele Zweifel.
Ihr merkt, dass ich in emergenten Kreisen unterwegs war. Wenn wir vor Menschen sitzen, die Gott nicht mehr vertrauen können, entdecke ich oft einige Übereinstimmungen, einige Ähnlichkeiten. Viele vertrauen auf ihre Gefühle – das ist ganz interessant. Das Einzige, was sie nicht mehr hinterfragen, ist das, was sie fühlen. Das scheint echt zu sein, es ist unmittelbar.
Bei all der Zerrissenheit, die sie spüren, verlassen sie sich auf das, was sie fühlen. Das Zweite ist, dass sie die Überwindung des Zweifels suchen, indem sie eine Gewissheit jenseits des Wortes Gottes anstreben. Sie erwarten ein unmittelbares Reden Gottes, das sich in ihrem Emotionshaushalt manifestiert.
Ich denke da an eine junge Frau, die ich noch gut im Gedächtnis habe. Sie saß bei uns zu Hause, meine Frau war beim Gespräch ebenfalls dabei. Die junge Frau las durchaus noch ihre Bibel. Doch wenn man genau hinhörte, was sie darüber dachte, war die Bibel für sie ein Buch, das erstens sehr trocken war und zweitens sehr dick. Es braucht viel Arbeit, um zu verstehen, was in diesem Buch steht. Und wenn man es überhaupt verstehen kann, dann sind das allgemeine Prinzipien.
Sie erwartete das Reden Gottes, die Antwort auf ihre Not, im Gefühl. Sie hoffte, dass gefühlte Eindrücke ihrem Leben eine neue Richtung geben.
Was können wir von Luther in solchen Herausforderungen lernen? Luther selbst hat viele Zweifel erlebt und verzweifelte geradezu an der fehlenden Gnadengewissheit. Doch was er später über Zweifel und Glauben schrieb, kann uns wirklich helfen.
Das Interessante ist, dass für Luther die Festigkeit im Glauben und im eigenen Herzen nicht vom Menschen selbst kommt, sondern aus dem Evangelium. Er hatte die zerstörerische Kraft des Skeptizismus erkannt und wusste genau, dass die Klarheit, die dem Leben Halt gibt, nur aus der Schrift kommen kann. Die Schrift ist gewiss, leicht zugänglich und offen. Sie richtet und erleuchtet alle Menschen, bringt Licht und Festigkeit in unser Leben.
In seiner Auslegung zu Psalm 78 schreibt er, dass nicht glauben zu wollen, also alles in Zweifel zu ziehen und ständig nach einer anderen Lehre zu suchen, die schlimmste Versuchung ist, die der Herr schicken kann. Er warnt: Hüte dich, Mensch, lerne in Demut weise zu sein und überschreite nicht in deiner Neuerungssucht die Grenzen, die deine Väter gesetzt haben.
Seinem Freund Erasmus, der den Zweifel liebte, sagte er fast prophetisch zu: Lass uns Zeugen der Wahrheit sein, uns um Wahrheitsbezeugungen bemühen und uns daran erfreuen. Halte du es nur mit deinen Skeptikern und Akademikern, bis Christus auch dich ruft. Der Heilige Geist ist kein Skeptiker.
Luther lenkt den Blick weg von den eigenen Gefühlen hin zu Gott. Er wusste, dass die Wahrheit nicht im Menschen zu finden ist – entgegen dem postmodernen Menschenbild, das die Wahrheit in uns sieht. Luther verweist die Ratlosen und Zweifelnden nicht auf sich selbst, sondern fordert sie heraus, ihr abgründiges Herz von Gottes Wort durchleuchten zu lassen.
Für Luther ist der Zweifel das Zeichen eines Menschen, der nicht glauben oder verstehen will. Was dem Zweifelnden Halt und Weisung gibt, ist das Wort Gottes. Deshalb wird Luther nicht müde, das Wort Gottes in Gesetz und Evangelium als Seelsorger zu verkünden. Er war vor allem auch ein Briefseelsorger.
Die Gewissheit kommt von außen. Sie wird dem unruhigen Herzen von außen geschenkt. An einer Stelle sagt er: Unsere Theologie ist gewiss, weil sie uns außerhalb unseres Selbst versetzt. Ich muss mich nicht auf mein Gewissen, meine sinnlichen Wahrnehmungen oder meine Werke stützen, sondern auf die göttliche Verheißung und Wahrheit, die nicht enttäuschen kann.
Diese Erkenntnis gilt es gerade in einer Zeit allgemeiner Verunsicherung wiederzuentdecken. Wenn wir das Haus unseres Lebens nicht auf Fels bauen, werden Stürme und Fluten es zum Einsturz bringen.
Lebendigkeit entsteht nicht, wenn wir nur bei unseren Gefühlen bleiben. Unsere Gefühle sind nicht die Quelle der Erneuerung, sie selbst brauchen Erneuerung. Durch das Wort, das aus dem Munde Gottes kommt, wird Lebendigkeit gestiftet.
Wenn unsere verunsicherten und vertrockneten Herzen das Evangelium hören und wir diesem Evangelium glauben, kehren Festigkeit und Freude in unser Leben zurück.
Zweites Beispiel: Glaubensrechtfertigung anstelle von Selbstrechtfertigung.
Wir leben in einer Kultur der Selbstrechtfertigung und Selbstoptimierung. Fast jeder ist ständig damit beschäftigt, ein gutes Bild von sich selbst zu erzeugen. Ich möchte sogar noch stärker behaupten: Ich glaube, wir leben in einer geradezu narzisstischen Gesellschaft.
Der Begriff Narzissmus stammt aus dem Mythos von Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Ihr kennt die Geschichte. Narzissmus bezeichnet eine übertriebene Selbstliebe. Ein krankhafter Narzissmus beginnt dort, wo wir Menschen gebrauchen, Menschen benutzen, um das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren.
Narzisstische Menschen sind von sich eingenommen, sie verlangen Bewunderung und gestalten Beziehungen ausbeuterisch. Dirk Rebensdorff hat einmal gesagt, dass unser postmoderner Zeitgeist narzisstische Qualitäten besitzt. Er nennt vor allem das Nicht-Einlassen auf tiefe Beziehungen und die Idealisierung von Medienfiguren.
Das Problem liegt jedoch aus biblischer Sicht viel tiefer: Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder sogar Bewunderung ist Ausdruck einer tief empfundenen Minderwertigkeit oder Bedürftigkeit – ein Begriff, der mir besser gefällt. Dieser Hunger, der aufgrund unserer Bedürftigkeit entsteht, ist auch in unseren Gemeinden zu finden. Er hat etwas mit Evangeliumsarmut zu tun.
Was meine ich damit? Ein Narzisst bedient sich der Selbstrechtfertigung. Wenn einem Menschen die Gewissheit fehlt, durch den Glauben gerechtfertigt zu sein, ist er gezwungen, Rechtfertigungsgründe für sich selbst zu schaffen. Das bedeutet aber, dass er sich selbst und den Menschen gefallen muss.
Wenn dir die Gewissheit fehlt, dass Jesus Christus Ja zu dir gesagt hat, dann brauchst du viele Menschen, die Ja zu dir sagen. So wird die Antriebskraft, die Wertschätzung, zu einer maßgeblichen Motivation und vielleicht sogar irgendwann zu einer Abhängigkeit. Ich bin abhängig von der Zustimmung anderer Menschen.
Für Luther ist jemand, der sich selbst zu rechtfertigen versucht, zum Scheitern verurteilt. Er begründet das theologisch damit, dass wir als Menschen von Gott so geschaffen sind, dass eine Offenheit für Gott mitgestiftet ist. Unser Herz ist so geschaffen, dass wir die Beziehung zu Gott brauchen.
Wenn die Beziehung zu Gott nicht da ist, dann werden wir unser Herz an etwas hängen, das außerhalb von uns selbst liegt. Erst wenn wir Gott finden, kommt das Herz wirklich zur Ruhe.
Deshalb stiftet allein das Evangelium eine Kultur der Gnade, die uns im Blick auf uns selbst und auf andere von Leistung und Anerkennung befreit. Versteht mich bitte nicht falsch: Ich predige hier nicht den völligen Abbruch der Selbstbeobachtung. Aber ich halte dagegen: Dort, wo wir von uns wegschauen und über die Gnade Gottes staunen, dort wachsen wir.
Im Gegensatz dazu ist Selbstbespiegelung eine Bestärkung unserer Selbstverkrümmung. Selbstvergessenheit mit dem Blick auf Christus befreit uns von dem Fluch der Selbstrechtfertigung.
Ich komme zum dritten und letzten Beispiel. Ich habe noch fünf Minuten, meine Uhr geht nach, hat mir jemand gesagt. Ich weiß nicht, da hinten, die kann ich nicht sehen.
Glaubenskampf anstelle von Ausflucht – Glaubenskampf anstelle von Ausflucht. Das Zeitwort oder Tunwort, wie Martin sagt, „anfechten“, kommt von „fechten“ und ist urverwandt mit einem lateinischen Wort, das wir mit „kämpfen“ übersetzen, ursprünglich sogar mit „mit der Faust kämpfen“.
Ich war mal Boxer, früher, also als ich noch kein Christ war. Ich war Leistungssportler und Boxer, deswegen haben manche Leute noch heute Angst vor mir. Der christliche Sprachschatz kennt allerlei Kampfbegriffe, denn das christliche Leben ist ein täglicher Kampf. Es gibt einen echten Widersacher. Der Satan ficht uns an, und die Frage ist, ob wir zu Recht zurückfechten.
Der Satan möchte uns von Gottes Wort und Willen abziehen. Die Frage ist, ob wir uns mit dem Wort Gottes verteidigen. Luther hat das griechische Wort, das sonst mit „Versuchung“ übersetzt wird und auf Lateinisch „Tentatio“ heißt, manchmal mit „Anfechtung“ übersetzt. Er sagt, die Anfechtung gehört selbstverständlich zum Leben des Christen dazu.
Er geht noch weiter: Ein guter Theologe erkennt nicht nur das Gebet und die Schriftbetrachtung, sondern er kennt auch die Anfechtung. Die Erfahrung der Anfechtung ist nach Jakobus sogar ein Grund, sich zu freuen.
Heute kennen wir die Anfechtung oft nicht mehr, weil wir nicht mehr bereit sind zu fechten. Wir sind als Christen nicht nur politisch korrekt geworden, wir sind auch theologisch weich geworden. Anstatt mit dem Schwert des Geistes zu fechten, geben wir nach, wir laufen zurück, wir geben auf.
Dabei sagt Paulus doch ganz klar im Epheserbrief: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit bösen Geistern unter dem Himmel.“
Ich habe kürzlich erst eine Fernsehsendung gesehen über die Zeit, in der Martin Luther auf der Wartburg das Neue Testament übersetzt hat. Ihr kennt die Geschichte: Er wurde entführt von Worms, dann auf die Wartburg gebracht, und dort hat er versteckt in ganz kurzer Zeit das Neue Testament übersetzt.
In dieser Zeit hat er viele Briefe geschrieben. Diese Briefe sind im Original erhalten und dokumentieren, wie sehr Luther in dieser Zeit angefochten war. Er hat ständig darüber geschrieben, was er alles für Anfechtungen erlebt hat.
Der Experte, der diese Briefe erklärt hat, sagte: „Daher wissen wir, dass Luther letztlich noch eine mittelalterliche Gestalt war. Er war noch gefangen im Weltbild des Mittelalters. Heute wissen wir, dass es Teufel und böse Geister nicht gibt. Luther stammt aus einer Zeit, in der man solche Mythen noch glaubte.“
Und, ihr Lieben, falls wir das auch so sehen, dann werden wir nicht nur Luther nicht verstehen, wir werden auch die Bibel nicht verstehen und wir werden auch Jesus nicht verstehen. Diese Erfahrung der Anfechtung, auch der dämonischen Anfechtung, gehört dazu. Sie gibt es wirklich.
Wir müssen lernen, für das Evangelium zu kämpfen. Wenn wir die Maxime der gelingenden Beziehungen über die Wahrheit stellen, kann es sein, dass wir gut Freund mit dem Teufel sind und die Wahrheit verloren haben.
Christen sind Kämpfer. Sie kämpfen den guten Kampf des Glaubens und sie widerstehen in diesem Kampf bis aufs Blut (Hebräer 12,4).
Was können wir von Luther dazu lernen? Das ist jetzt wirklich der Schluss. Er hat 1521 eine Trostschrift geschrieben, in der er jemanden berät, der eine Person begleitet, die sehr starke, was wir heute vielleicht mittelschwere Depressionen nennen würden, hatte. Dort empfiehlt er einige Heilmittel, die ich abschließend kurz weitergeben möchte.
Das erste Heilmittel in dieser berühmten Trostschrift lautet: Vertraue auf das Wort Gottes, vertraue auf das Wort Gottes. Zitat: „Zum Ersten, dass dieselbe Person, also die an Depressionen leidende Person, ja nicht auf sich selbst stehe und nach ihrem Fühlen über sich selbst richte, sondern das Wort fasse und an den Worten der Bibel hange, die ihr in Gottes Namen vorgelegt werden. Sie soll alle Gedanken und das Fühlen des Herzens auf dieses Wort richten.“ Luther betont immer wieder, wie wichtig es ist, Angefochtene zu bestärken, nicht der sichtbaren Wirklichkeit mehr zu vertrauen als dem Wort Gottes.
Zweitens nennt er die Gemeinschaft der Mitleidenden. Die angefochtene Person soll nicht denken, dass sie allein sei. Sie soll solche Anfechtung, die sie in Seligkeit erlebt, vielmehr als etwas erkennen, das auch andere Menschen in der Welt erfahren. Luther reiht den Schwermütigen in die Vielzahl der Menschen ein, die Nöte in dieser Welt erleiden. So lernt der Schwermütige, von sich selbst und seiner Not wegzusehen und erfährt, dass er oder sie im Leid nicht alleine steht.
Drittens empfiehlt Luther die Ergebung in den Willen Gottes. Die angefochtene Person soll keinesfalls begehren, ohne Vorbehalt vom göttlichen Willen erlöst zu werden. Stattdessen soll sie fröhlich sprechen: „Dein Wille, nicht mein Wille, geschehe, lieber Vater.“ Wenn das Kreuz auf diese Weise angenommen wird, hört es auf, ein schweres Kreuz zu sein. Die Hingabe an den Willen Gottes spielt Luther nicht gegen das Gebet um Hilfe im Leid aus. Im Gegenteil: Wir sollen im Leid lernen, zu Gott zu kommen, zu bitten und Hilfe von ihm zu erflehen.
Viertens nennt er das Loben und Beten. Der böse Geist der Schwermut lasse sich nicht mit Betrübnis, Klagen und Ängsten vertreiben, sondern mit dem Lob Gottes, das das Herz fröhlich macht. Ich weiß, dass jemand, der in einer tiefschweren Depression steckt, mit diesem Rat vielleicht wenig anfangen kann. Aber die Grundausrichtung, von sich selbst wegzuschauen und auch im Leid zu loben und zu beten, ist absolut richtig. Luther fordert dazu auf, trotz der Trübsal den Blick von sich wegzuwenden und zu loben, weil das Lob befreit vom Kreisen um sich selbst und den Blick weitet für die Liebe und Größe Gottes.
Fünftens spricht Luther vom großen Gut der Anfechtung. Aus seiner Sicht sollen wir lernen: Dort, wo wir angefochten werden, ist das paradoxerweise auch ein Zeichen der Liebe Gottes. Die Anfechtung ist ein Mittel Gottes, so widersprüchlich das klingt, um unseren Glauben zu stärken. Die Leiden in der Anfechtung sind ein Prüfstein wahren Glaubens. Luther sagt, es sei die größte Anfechtung, keine Anfechtung zu haben. Aus dieser Sicht kann er auch vom Nutzen und der Frucht der Anfechtung sprechen, weil wir lernen, in der Anfechtung unser Vertrauen auf Jesus Christus zu setzen.
Ich habe drei Herausforderungen der Gegenwart kurz angesprochen.
Dem allgemeinen Glaubenszweifel begegnen wir nicht, indem wir auf den Menschen selbst setzen oder ihn auf sich selbst verweisen. Stattdessen verweisen wir den Menschen auf das Wort Gottes. Auf dieses Wort ist Verlass, und wir brauchen eine neue Entdeckung des Wortes Gottes, auch in der Seelsorge.
Zweitens: Der Mensch ist von Gott so geschaffen, dass er Gott ehren soll. Er braucht Gott, um wirklich Mensch zu sein. Die menschliche Seele findet erst dann Ruhe, wenn sie durch das Wort Gottes zu Christus gelangt und durch ihn gerechtfertigt wird. Die Glaubensrechtfertigung ist die Antwort auf die Versuche des Menschen, aus sich selbst heraus sich selbst und die Welt zu finden. Das Evangelium stiftet eine Gnaden-Natur, die uns von dem Blick auf eigene Leistung und Anerkennung befreit.
Drittens: Wir haben oft verlernt zu kämpfen. Zu häufig geben wir den Versuchungen des Teufels feige nach. Deshalb fehlt es uns im persönlichen Leben und in unseren Gemeinden oft am Wachstum in Erkenntnis und Liebe. Wir geben verführerischen Geistern und leerem Raum Raum, die großen Schaden anrichten.
Als Christen sind wir in einen Glaubenskampf hineingestellt. Die Bibel verwendet viele Bilder, die diesen Kampf beschreiben. Wenn wir diese Erfahrung des Kampfes nicht annehmen, geben wir nach. Anfechtung gehört zur Nachfolge dazu. Kämpfen wir mit Leidenschaft und Freude, mit dem Schwert des Geistes, das das Wort Gottes ist.