Wir kommen jetzt zum 12. Kapitel im Römerbrief. Schlagen Sie Ihre Bibeln auf.
Wir sind ungemein beschenkt worden, wie wir auch in den vergangenen Monaten die Abschnitte des Römerbriefs noch einmal gehört haben. Wir ahnen, wie damals in der Reformation dieser Brief neu gehört wurde.
Ich denke manchmal: In unseren Tagen, wenn die Menschen vor Furcht verschmachten und sich vor den Dingen fürchten, die da kommen sollen, wenn sie doch hören, dass wir um die viel größere Gefahr wissen – den Zorn Gottes, der über der Welt lastet – dann wollen wir die Menschen fragen: Seid ihr in Zeit und Ewigkeit geborgen in Gott? Wenn ja, dann könnt ihr dieser Welt trotzen.
Dieser Sieg, von dem im 8. Kapitel des Römerbriefs die Rede ist – Gott ist für uns. Wer kann jetzt noch gegen uns sein?
Doch wie kann man das ins Leben hinein übersetzen? Gerade in dem Lied, das auch wieder als Gebetsbitte ausgesprochen worden ist. Paulus gibt uns hier viele konkrete Anweisungen, die wir in den nächsten Sonntagen bedenken wollen.
Das Leben als lebendiges Opfer
Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, bei der Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und gottwohlgefällig ist. Das sei für euch der wahre Gottesdienst.
Man kann es auch anders übersetzen. Vielleicht steht in eurer Bibel sogar „vernünftiger Gottesdienst“. Stellt euch nicht dieser Welt gleich! Das sind harte Mahnungen an Christen – auch in der Moderne.
Heute heißt es: Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes. So könnt ihr prüfen, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene.
Ich sage nun jedem unter euch durch die Gnade, die mir gegeben ist: Niemand soll höher von sich denken, als es sich gebührt. Sondern jeder soll maßvoll von sich denken, so wie Gott jedem das Maß des Glaubens zugeteilt hat.
Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben – die Hand hat nicht die Funktion der Nase –, so ist es auch in unserem Körper. Wir sind viele in Christus ein Leib, aber als Einzelne sind wir füreinander Glieder und haben verschiedene Gaben, je nach der Gnade, die uns gegeben ist.
Ja, gib uns Einsicht in dein Wort, dass wir es verstehen. Amen.
Die Bedeutung des Gottesdienstes im Alltag
Liebe Schwestern und Brüder,
immer wieder kommen Leute und sagen: „Euer Gottesdienst ist so karg, da fehlt so manches.“ Dann möchte man gleich sagen: Wahrscheinlich sind sie nicht bei den Württembergern aufgewachsen, denn die lieben es so in ihrem Gottesdienst.
Aber ich verstehe das. Wenn andere sagen, in dem Gottesdienst fehlen viele Stücke, kann man den Gottesdienst nicht ein wenig anreichern? Dann kommen Vorschläge, wie man das musikalisch noch schöner machen kann oder durch eigene Beiträge ergänzen.
Doch vielleicht verstehen wir diese Stunde jetzt falsch. Das ist ja ein Stück Bibelstunde, ein Stück Hören des Wortes Gottes. Der Gottesdienst läuft nachher weiter. Wenn wir zu Hause am Tisch sitzen, geht der Montag weiter. Wenn wir im Geschäft sind, läuft er durch bis zum Samstagabend. Das ganze Leben soll ein Gottesdienst sein – unser ganzes Leben. Leben soll Gott dargebracht werden.
Paulus gibt uns dazu ein paar Ratschläge. Das erste: Gib das Opfer deines Lebens und deines Leibes. Man kann nicht Gottesdienst für Gott machen, ohne seinen ganzen Körper, seine ganze leibliche Existenz mit einzubeziehen. Das ist für Paulus selbstverständlich.
Aber wenn wir das Wort „Opfer“ hören, wie empfinden Sie das? Das ist doch etwas Unangenehmes. Beim Gottesdienstopfer ist es noch nicht das Schlimmste, auch wenn einer von mir ein Opfer verlangt. Das tut doch weh. Sie kennen das doch aus unserer politischen Diskussion: Die Regierung verlangt beim Sparen Opfer von der Bevölkerung. Wem gefällt das schon? Und dann kommen die Interessenverbände und sagen: „Ausgerechnet bei uns fängt man an!“ Die Opfer tun weh, da erbittert man sich. Man will keine Opfer bringen.
Bei den Gedanken Gottes ist es immer genau umgekehrt, als wir mit unserem normalen Verstand es begreifen können. Die Gedanken Gottes sind höher als unsere Gedanken. Darum muss man verstehen, was hier gemeint ist.
Das Opfer, das wir einbringen, ist nicht gemein. Es ist nicht so, dass einer mit großer gönnerhafter Geste sagt: „Ich möchte für Gott auch noch etwas darbieten.“ Man hat Ihnen hin und wieder im Gottesdienst gesagt: Wenn Sie meinen, Sie müssen Gott noch so ein Stückchen geben, lassen Sie es lieber. Sie sind zu keiner Gabe, auch zu keiner Geldgabe verpflichtet. Auch zu keinem zeitlichen Opfer sind Sie verpflichtet. Als ob Gott auf unseren Dienst angewiesen wäre!
Wenn hier davon steht, dass wir unser Leben als Opfer einbringen sollen, wird ja ein Opfer Jesu erinnert. Jesus hat sein kurzes irdisches Leben dargebracht – als eine Gabe, die Gott benützt hat. Über dem kurzen Leben hat Gott etwas von seiner ewigen Herrlichkeit aufschimmern lassen.
Du darfst dein Leben einbringen wie Jesus. Das ist ein irdisches Leben. Jetzt steht das Wort „heilig“ da. Wie kann ich denn das machen, dass mein Leben heilig ist? Es ist doch voller Mängel.
Gott möchte unser wirklich kompliziertes, schwieriges und oft auch notvolles Leben noch einmal benützen, um daraus etwas zu machen, das mithilft, die Pläne Gottes in dieser Welt zu verwirklichen. Dein Leben soll ein heiliges Opfer sein. Gib mir dieses Opfer.
Wir singen in den Weihnachtstagen so gern das Lied von Paul Gerhardt: „Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s Wohlgefallen.“
Es ist sicher einer der Tricks des Teufels gewesen, dass er diesen entscheidenden Schritt im Christenleben verdunkelt oder gar unter Polemik gestellt hat. Viele Christen sagen heute: Ich möchte diesen Schritt nicht vollziehen. Ist das nicht etwas, was mir auferlegt wird? Ist das nicht etwas erzwungenes Pietistisches?
Und wieder müssen Sie in der Bibel lesen: Es ist der schönste und befreiendste Schritt, den man gehen kann, wenn man sein Leben ganz Jesus überschreibt. Ob das war, als Jesus Jünger seine Nachfolge gerufen hat, oder ob Sie es bei Paulus lesen wollen: Ich komme nur in die Freude des Christenlebens hinein, indem ich mich ganz mit allem, was ich bin, Jesus zu eigen gebe.
Ich verstehe nicht, warum in unserer evangelischen Kirche dieser Schritt der Entscheidung für Jesus etwas Fremdes, Ungewohntes oder Außerordentliches ist, wo doch dieser Schritt in der Mitte des Evangeliums steht: „Gebt eure Leiber hin als ein Opfer.“
Nicht als dieses Opfer, das man ungern und mit gönnerischer Miene tut. So gibt es ihn, wie Jesus es Gott gebracht hat. Nehmt euer leibliches Leben so, wie ihr es habt. Sie haben vielleicht einen kranken Leib, der angeschlagen ist, nicht mehr die Jugendkraft.
Ob das junge Menschen sind, die können ihre Jugendkraft Gott darbringen. Da bringen sie ein Opfer für Gott.
Die Ermahnung zur Hingabe aus Barmherzigkeit
Paulus kleidet seine Ermahnungen oft in Formulierungen, die man genau betrachten muss, um zu verstehen, was er meint. Ermahnungen können auf uns manchmal erdrückend wirken. Wir wissen, wie allergisch wir reagieren, wenn andere etwas von uns wollen. Gleichzeitig wissen wir auch, wie wenig Ermahnungen oft fruchten.
Darum sagt Paulus: „Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes.“ Nun möchte ich Ihnen ein Beispiel geben, um das ganz klar zu machen.
Im Jahr 1914 war der spätere Evangelist Hans Brandenburg mit seinen Eltern in Berlin. Die Familie stammte ursprünglich aus Riga und hatte russische Pässe. Der Krieg mit Russland war ausgebrochen, und plötzlich wollte man die guten Deutschen, die in Riga lebten, internieren. Das war eine große Notlage. Nach langem Hin und Her und Verhandlungen gelang es ihnen schließlich, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten.
Am Bahnhof in Berlin standen sie dann und wussten nicht, wie sie zurück nach Riga kommen sollten. Der Vater war Kaufmann und musste zurück, denn plötzlich konnten sie nicht mehr über ihr Geld verfügen – es herrschte Kriegszustand. Hans Brandenburg erzählt in seinen Lebenserinnerungen, dass ein jüdischer Kaufmann aus Lutsch, der den Vater kannte, am Bahnsteig stand und sagte: „Da haben Sie ein paar Tausend Mark, die kriegen Sie von mir. Mit denen kommen Sie durch. Über Finnland kommen Sie heim.“
Der Vater antwortete: „Ich kann das doch nicht annehmen.“ Doch der Fremde drängte: „Nehmen Sie das, ich will Ihnen etwas Gutes tun.“
So meint es Paulus, wenn er sagt: „Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes.“ Es geht um euer Leben. Dass in einer angekränkelten Ehe endlich die Barmherzigkeit Gottes durchbricht und das neue Leben beginnt.
Nehmen Sie das in Ihren bedrängten Berufsalltag hinein. Sie dürfen Ihr Leben für Jesus als Opfer leben, das sich inmitten der Werktagsverpflichtungen zeigt. Die Gegenwart Jesu soll ein Gottesdienst sein, eine Hingabe für ihn als ein Opfer, das heilig ist und ganz für Gott dargebracht wird. Wohlgefällig vor Gott, damit Gott Freude an unseren Familien, an unseren Gedanken und an unserem Leib haben kann.
Man macht sich morgens ja viel Mühe, bis man seine Haare in Ordnung gebracht hat, sich richtet und vor dem Spiegel steht, um seinen Leib zu pflegen. Welche Mühe wenden Sie darauf, dass Ihr Leib für Gott ein Opfer wird? Dass Ihre Gaben zur Entfaltung kommen, so wie Gott sie geschaffen hat, wie er sie haben will und wie er aus Ihrem Leben etwas Großes machen möchte?
Unser Alltagsleben soll nicht voller täglicher Reibereien sein. Paulus sagt: „Ich habe euch nun gesagt, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei.“ Darunter geht es nicht. Das ist der Gottesdienst – ein ganzes Leben in der Woche für Gott und mit ihm.
Die Erneuerung des Sinnes als Voraussetzung
Eine zweite Sache möchte ich nun herausgreifen: Wo liegen ihre Interessen?
Es ist deshalb so schwierig, im Alltag Verpflichtungen für Gott zu leben. Was hindert uns daran? Merkwürdigerweise ist es nicht unser Leib, wie wir oft meinen. Das ist bei Christen sicher ein falsches Denken, wenn sie glauben, unsere Veranlagung oder unser Geschaffensein sei gar nicht in der Lage, für Gott zur Ehre zu leben. Alle Gaben, die uns Gott gegeben hat, können zu seiner Ehre eingebracht werden. Paulus nennt einen Hindernisgrund, dem wir nachgehen wollen: "Euch durch Erneuerung eures Sinnes".
Das ist das Hindernis – der Sinn, den wir haben. Die Bibel spricht oft vom Trachten des Herzens. In unserem Inneren gibt es eine Kraft, die uns immer wieder von Gott wegzieht. Dabei wäre es falsch zu sagen, sie ziehe uns ins Irdische, denn das Irdische ist ja von Gott geschaffen. Viel tiefer zieht sie uns weg: ins Egoistische, ins Gemeine, ins Hasserfüllte, dorthin, wo wir aus Sorge meinen, wir müssten Güter zusammenhäufen und uns einen Schatz sammeln.
Darum spricht Paulus bei der Bekehrung – und das ist ein Abschnitt von der Bekehrung – von der ganzen Übergabe des Herzens als seinem ersten Schritt und von der Veränderung des Sinns. Es muss in unserem Innersten zu einem Bruch kommen, im Herzen. Unser Herz muss eine neue Art annehmen, sodass wir nicht mehr nach den niederen Dingen trachten, sondern nach den großen Dingen.
Es war bei einer Studentenkonferenz in Amerika, an der der junge John Mott teilnahm, wo der Missionarstadt nur diesen Ruf am Ende seiner Ansprache an die Versammlung junger Menschen richtete: "Trachtest du nach hohen Dingen? Trachte nicht danach, trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit."
Das war dann jene Versammlung, bei der sich anschließend hunderte junger Menschen meldeten und ihr Leben als Opfer für Jesus darbringen wollten.
Doch in mir und in Ihnen widerstrebt selbstverständlich der Sinn. Sie wollen das nicht, mir gefällt das auch nicht. Darum spricht Paulus davon, dass wir uns erneuern sollten, damit wir den Willen Gottes prüfen und uns ganz diesem Willen verschreiben.
Wenn Sie fragen, wie dieser neue Sinn, den wir haben müssen, aussieht, kann man es wirklich nur so zeigen, wie Paulus es im Philipperbrief tut: "Ein jeder sei gesinnt wie Jesus Christus auch war." Der sich nicht an der Gemeinschaft mit Gott erfreuen wollte, sondern der sich erniedrigte und gering wurde.
Ich wollte jetzt eigentlich mit Ihnen im allerkleinsten Kreis weiterreden. Es muss bei uns zum Bruch kommen, dass wir Ja sagen zum Willen Gottes – dort, wo wir gedemütigt werden, dort, wo wir teilhaben an den Leiden Christi, dort, wo andere Menschen uns wehtun und wir es willig tragen, um Jesu willen.
Ich will meinen Mund nicht auftun. Ich will in die Vorstadt des Leidens Jesu treten. Das war sein Sinn. Er hat nicht wieder gescholten, er hat nicht gedroht, obwohl er Tagesschulden erlitt.
Gib mir deinen Sinn ins Herz. Gib mir deinen Heiligen Geist, der meinen Sinn verändert.
Wenn heute Menschen fragen, wie man die Geistesgaben am allerersten merkt, dann merkt man es an der Veränderung des Sinns: dass man nicht mehr hoch sein will, dass es keine Rolle mehr spielt, was andere über uns denken, dass wir auch Kritik ertragen und nicht darüber murren.
Seid gesinnt wie Jesus. Lass das in deinem Innersten ein Bruch werden. Die Übergabe des Herzens war der erste Schritt. Lass es auch zur Veränderung des Sinns kommen, sodass du fröhlich und willig Ja sagen kannst, wie der Herr dich auch führt.
Und dann? Dann können wir nämlich ganz fest auftreten. Wenn wir wissen, was Gott will, brauchen wir nicht die Unterstützung von Menschen. Wir brauchen nicht das Ja von einflussreichen Leuten. Wir wissen: Gott will es. Dann gehen wir diesen Weg, auch wenn es ein schwerer Weg ist. Wir gehen diesen Weg mit ihm.
Die Mahnung zur Abgrenzung von der Welt
Verändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes. Ich habe zuvor während der Textvorlesung gesagt, dass dies eine strenge Mahnung an Christen ist. Stellt euch nicht dieser Welt gleich.
Natürlich dürfen sie gerne Blue Jeans tragen und Musik hören, wie es ihnen gefällt. Ich sehe darin kein Problem. Viel gefährlicher erscheint mir jedoch der Weltgeist dort, wo wir uns anpassen an dieses Geltungsstreben, an das Verlangen, etwas Besonderes sein zu wollen.
Ich las die Geschichte von einem jungen Akademiker, der als erste Generation bei William Booth in die Heilsarmee eintrat. Er war promovierter Akademiker und dachte zunächst ganz optimistisch, er könne seine Gaben einbringen – sein großes Universitätswissen. Doch das Erste, was William Booth von ihm verlangte, war, die Schuhe der Kadetten zu putzen, der untersten Dienstgrade in der Heilsarmee. Er, der Doktor, musste unten anfangen und die Schuhe putzen.
Das war keine Demonstration, sondern eine Prüfung für uns. Ob wir die Sinnesart Jesu in unserem Christenleben praktizieren. Erneuert euch durch die Veränderung eures Sinnes. Stellt euch nicht der Mode dieser Welt gleich, passt euch nicht an.
Paulus denkt bei Mode nicht an Hüte, sondern daran, dass es in den Christengemeinden lange Diskussionen gab, ob man sich dieser oder jener Mode anpassen durfte. Dabei wurde das Wichtigste vergessen: Stellt euch nicht im Sinn dem Schema dieser Welt gleich, wo man überall etwas gelten will und Ruhm anhäuft.
Erneuert euch durch die Veränderung eures Sinns. Trachtet nicht nach hohen Dingen. Revidiert eure Ziele noch einmal. Es gibt Menschen, die machen sich in ihrem Leben kaputt, weil sie sich zu hohe Ziele setzen. Es muss nicht jeder Abitur machen. Es muss auch nicht jeder die höchste Stufe im Beruf erreichen. Die letzte Sprosse, wenn Gott will, ja – aber es ist nicht das Wichtigste.
So trachtet nach der Gerechtigkeit Gottes und macht es zu eurem Lebensinhalt, mit euren Gaben Gott zu dienen.
Maßvolles Denken über sich selbst
Das Letzte, „jeder nach seinen Gaben“, passt Paulus hier auch noch hinein. Er spricht davon, dass man maßvoll von sich denken soll. Was meint Paulus damit? Ich habe lange darüber gerätselt und fand dann in den alten Kommentaren von Adolf Schlatter die beste Auslegung dazu. Er sagte, es sei in der Urchristengemeinde so gewesen, wie es zu allen Zeiten ist: Die jungen Bekehrten überschätzen oft ihre Möglichkeiten weit.
Eigentlich ist es ja schön, dass Menschen, die eben zum Glauben kommen, so brennend voll Feuer sind. Sie meinen, sie könnten die ganze Welt für Jesus erobern. Aber das führt kurz darauf oft zu einem raschen Zusammenbruch. Wenn sie merken, dass ihre Gaben nicht mit ihrem Willen Schritt halten, müssen sie sich im Christenleben sehr genau an das anpassen, was ihre Gaben tatsächlich sind.
Das ist für sie nicht ungewohnt. Ich möchte das sagen, auch wenn es immer wieder Diskussionen auslöst. Ganz bewusst möchte ich darauf hinweisen, dass wir heute eine gewisse Tendenz haben, dass viele Christen in diesen dürren Zeiten ihre Möglichkeiten überhöhen. Sie flüchten sich in ekstatische Erlebnisse und schwelgen von großen Offenbarungen Gottes. Doch das deckt sich oft nicht mit ihrem tatsächlichen Leben.
Oft sind es seelisch kranke Menschen oder solche, die im Beruf versagen, deren Ehe auseinandergegangen ist. Diese Menschen suchen eine große Nähe und überhöhte, sinnliche Erfahrungen in ekstatischer Weise. Christen hingegen sind nüchterne Leute, die ihre Gaben kennen. Wir müssen uns auch unserem brüchigen Leben stellen. Wir wissen, dass wir einen müden und kranken Leib haben. Deshalb wollen wir nicht dauernd nur Halleluja rufen, sondern uns auch unter das stellen, dass jeder maßvoll von sich halte.
Paulus will wohl, dass wir am Sieg teilhaben, aber in dem Maß, wie es uns gegeben ist. Wir sollen das in unserer brüchigen Existenz realisieren. Jeder kann es nur so tun, wie er es vermag. Wenn unsere Frau Kammer jetzt in Basel liegt und es ihr so schlecht geht – sie hat uns oft von ihrem Leiden erzählt – dann kann sie die Gabe Gottes in ihrer Krankheit deutlich machen. Nur so, das ist ihr Zeugnis für uns alle. So wie ich nur mit meinen Gaben darbringen kann.
Vielfalt der Gaben und Gemeinschaft der Glieder
Paulus sieht, dass die Gaben der Christen ganz verschieden sind und in der Gemeinschaft zusammenwirken. Ohne Gemeinschaft funktioniert das nicht. Gerade deshalb müssen wir zusammenhalten.
In unserer heutigen Zeit gibt es einen Irrtum, den Wahn der Gleichheit. Diesen haben die Gottlosen erfunden, als ob alle Menschen gleich wären. Das sind sie jedoch nicht. Ganz bestimmt sind sie nicht gleich. Kein Mensch ist dem anderen gleich, nicht einmal in den Gaben.
Es gibt große und kleine, begabte und unbegabte, gescheite und weniger gescheite Menschen – alle sind grundverschieden. Aber Gott nimmt jede Gabe und verteilt sie jedem nach der Gabe, die er gegeben hat. Deshalb muss ich niemals einen anderen kopieren.
Gott hat uns in Deutschland unsagbar viel gegeben, Gaben anvertraut in der Tradition unserer Christenheit. Die Frage ist, ob wir diese Gaben überhaupt richtig nutzen können. Was hat er uns persönlich gegeben? Wir haben seit Jahrzehnten Frieden – jeden Tag neu und unverdient. Was schenkt uns Gott an materiellem Wohlstand?
Oft schäme ich mich, wie wenig wir in die Welt einbringen, trotz der Gabe, die wir empfangen haben. In einer christlichen Gemeinde darf es nicht den Versuch geben, alle zu einem Einheitsbrei zusammenzumodellieren. Das Schöne ist, dass wir grundverschieden sind.
Der eine hat eine kritische Art, der andere eine optimistische. Das gehört zusammen. So leben wir nicht in einem Pluralismus, der der biblischen Lehre widerspricht, sondern in den Formen und Gaben, die uns Gott gegeben hat.
Keiner soll höher von sich denken, als ihm gebührt – auch der Theologe nicht. Er ist nicht über den anderen gestellt. Das Wort „Laien“ ist schon fast eine Beleidigung, denn Gott lehrt jeden nach seinen Gaben.
Wir gehören zusammen, die Jungen und die Alten, denn nur gemeinsam können wir das tun, was Gott in unsere Mitte gelegt hat. Paulus spricht vom Leib mit vielen Gliedern. Unsere Verbundenheit besteht nur im Sein in Jesus, wenn jeder sein Leben als Opfer für Jesus darbringt.
Wenn wir so leben, dann haben wir Einheit der Christen, und zwar ohne große äußere Formen. Der Theologe Kehlach hat immer wieder ein Gebet gebetet: „Hilf, aus den Gedanken ins Leben hinein zu wanken, dein Eigen zu sein.“
Armin.