Einführung in das Thema Radikalität im christlichen Leben
In der ersten Veranstaltung habe ich bereits mitbekommen, dass manche gesagt haben: Bei dem Thema „radikal leben, radikal lieben“ handelt es sich heute um ein sehr missverständliches Thema. Wenn man so fünf Leute zusammensieht, meist junge Menschen, die sich alle radikalisieren wollen, kann einem schon das Stirnrunzeln auf die Stirn kommen.
Wenn wir Christen uns radikalisieren wollen, dann sollten wir am besten die Bibel lesen. Ich erspare mir jetzt den Lateinunterricht, der wahrscheinlich in allen Veranstaltungen heute im ersten Block stattgefunden hat.
Was alle gelernt haben: Radikalisieren kommt von „Radix“, der Wurzel. Also gehen wir an die Wurzel und lesen die Bibel.
Die Heilung in Lystra als Zeichen des Evangeliums
Apostelgeschichte 14, Vers 8: Paulus ist gerade mit knapper Not einer Steinigung in Ikonion entkommen. Ikonion ist heute die Zweimillionenstadt Konya in der Türkei, in Zentralanatolien, etwa 200 Kilometer südlich von Ankara. Von dort musste er weg. Sie ziehen vierzig Kilometer südwestlich und kommen in die Gegend von Lystra und Derbe.
Was dort passiert, lesen wir in Vers 8: Es war ein Mann in Lystra, der hatte schwache Füße und konnte nur sitzen. Er war von Geburt an gelähmt und hatte noch nie gehen können. Dieser Mann hörte Paulus reden. Wir wissen nicht, wie Paulus anfing, zu wem er sprach – waren es viele oder wenige? Womit begann er? Paulus redete einfach, und der Mann hörte ihm zu.
Als Paulus ihn ansah und bemerkte, dass der Gelähmte glaubte, ihm könne geholfen werden, sprach er mit lauter Stimme: „Stell dich aufrecht auf deine Füße!“ Das ist ein interessanter Satz. Wie funktioniert das? Ich habe mir vorgestellt, wie Paulus redet und dabei jemandem ins Gesicht schaut. Er zieht vielleicht die Augenbrauen hoch und fragt: „Wie soll ich das deuten? Glaubst du, dir kann geholfen werden? Wovon? Womit? Wodurch? Du bist doch gelähmt!“
Luther übersetzt das etwas schwach mit „er glaubte, ihm soll geholfen werden“. Im Griechischen steht jedoch ein Wort, das eigentlich bedeutet: „Er glaubte, er könne gerettet werden.“ Man könnte das auch anders auffassen und sagen, Hilfe – man weiß nicht genau, was der Mann verstanden hatte. Was glaubte er in dem Moment, als er Paulus zuhörte? Wie könnte ihm geholfen werden? Sicher lag es nahe: Er konnte ein Leben lang nicht laufen und sehnte sich danach, endlich gehen zu können. Er glaubte, ihm könne geholfen werden. Das könnte sein.
Hatte er schon mehr verstanden? Hatte er mehr gehört? Was bedeutete Rettung für ihn? Laufen zu können war für ihn auch eine Rettung.
Also, was passiert jetzt? Als Paulus ihn ansah und merkte, dass er glaubte, ihm könne geholfen werden, sprach er mit lauter Stimme: „Stell dich aufrecht auf deine Füße!“ Und der Mann sprang auf, rannte und ging umher.
Als das Volk sah, was Paulus getan hatte, erhoben sie ihre Stimmen und riefen auf Lykaonisch – das war die Stammessprache dort, vergleichbar mit Schwäbisch: „Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu uns herabgekommen!“ Sie nannten Barnabas „Zeus“, den Götterchef, und Paulus „Hermes“, den Götterboten, weil er das Wort führte.
Paulus redete, und der Priester des Zeus aus dem Tempel vor der Stadt brachte Stiere und Kränze vor das Tor und wollte opfern – zusammen mit dem Volk.
Als Barnabas und Paulus das hörten, zerrissen sie ihre Kleider, sprangen mitten unter das Volk und schrien: „Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr! Wir predigen euch das Evangelium, dass ihr euch von diesen falschen Göttern zu dem lebendigen Gott bekehren sollt. Er hat Himmel, Erde, Meer und alles, was darin ist, geschaffen.
Zwar hat er in vergangenen Zeiten allen Heiden und Völkern ihre eigenen Wege gehen lassen. Doch hat er sich selbst nicht unbezeugt gelassen. Er hat viel Gutes getan, euch vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben, euch ernährt und eure Herzen mit Freude erfüllt.“
Obwohl sie das sagten, konnten sie kaum das Volk davon abbringen, ihnen zu opfern.
Dann kamen Juden aus Antiochien und Ikonion dorthin, überredeten das Volk und steinigten Paulus. Sie schleiften ihn zur Stadt hinaus und meinten, er sei gestorben.
Als ihn aber die Jünger umringten, stand er auf und ging in die Stadt zurück.
Am nächsten Tag zog er mit Barnabas weiter nach Derbe. Dort predigten sie das Evangelium und machten viele zu Jüngern.
Dann kehrten sie zurück nach Lystra, Ikonion und Antiochia. Sie stärkten die Seelen der Jünger, ermahnten sie, im Glauben zu bleiben, und sagten: „Wir müssen durch viel Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen.“
Herausforderungen beim Einstieg in die Evangelisation
Der erste Punkt ist die Frage: Wie sollen wir einsteigen? Wo sollen wir anknüpfen? Das ist immer die erste Frage, die sich stellt, wenn man irgendwo anfangen will. Dieses Problem haben wahrscheinlich viele, außer David. David weiß es immer. Gott hat ihn besonders ausgestattet. Deshalb schickt Gott ihn auch immer wieder in Abschiebehaft und schickt ihm die richtigen Leute. Dann geht es immer rund.
Bei David ist es nämlich immer so: Der Geist Gottes sagt ihm, wie er anfangen soll. Paulus hatte eigentlich ein Standardprogramm. Wo immer er hinkam, schaute er zuerst, ob dort eine jüdische Gemeinde war, ob sie am Schabbat Gottesdienst feierten und ob es eine Synagoge oder einen Versammlungsplatz gab. Dort ging er hin. Als Jude ging er am Schabbat immer zum Gottesdienst. Er wusste, wie sein Gottesdienst ablief. Am Schluss fragte der Leiter des Gottesdienstes: „Ist noch jemand da, der etwas sagen will?“ Das war in der Liturgie so vorgeschrieben.
Meist wollten alle nach Hause zum Mittagessen und niemand wollte etwas sagen. Aber immer, wenn diese Frage kam, meldete sich Paulus und sagte: „Ich.“ Dann stand er auf, nahm die Schriftrolle, entfaltete sie und erzählte die Botschaft von Jesus, dem Messias, der in der Heiligen Schrift angekündigt war. Er erklärte, was es bedeutet, dass Jesus gekommen ist und wie wir jetzt wissen können, wie alle, die Juden, aber auch die aus den Völkern, mit Gott versöhnt werden und zum Vater kommen können.
Das war sein Standardprogramm. Aber in Lystra gab es offensichtlich keine jüdische Gemeinde und auch keine Synagoge. Wo hat er dort angefangen? Wir wissen es nicht. Es wird ganz unvermittelt berichtet, dass Paulus in Lystra und Derbe predigte. Dort war ein Mann in Lystra, der gelähmt war. Wahrscheinlich war er der Einzige.
Wir hörten Paulus zu. Ich wüsste so gerne, wie Paulus in dieser Stadt angefangen hat, wo sein Standardprogramm überhaupt nicht funktionierte. Wie hat er dort angefangen zu reden? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Paulus während seiner Rede den gelähmten Mann ansah.
Wenn jemand einem zuhört, erkennt man das daran, dass die Leute einen anschauen. Paulus sah auf das Gesicht des Mannes. Der Heilige Geist öffnete ihm die Augen, sodass er tiefer blicken konnte. Es wurde nicht alles erklärt, aber Paulus erkannte, dass der Mann Vertrauen und Glauben hatte, dass ihm geholfen werden kann. Vielleicht hatte Paulus von Jesus erzählt, vielleicht schon mehr. Wir wissen es nicht. Vielleicht war es am Anfang erst, vielleicht hatte er schon vom Gekreuzigten erzählt.
Am Schluss des Berichts lesen wir, dass es Jünger in Lystra gab, die auf dem Müllplatz um Paulus standen, der dort wie eine Leiche lag, und schauten, ob er wirklich tot war. Das heißt, es müssen schon Leute zum Glauben gekommen sein. Der Bericht ist sehr knapp und verkürzt erzählt. Paulus hat also schon erklärt, was Glaube, Erwartung und Vertrauen bedeuten.
Dann weiß Paulus: Zu diesem Mann kann ich sagen: „Stell dich auf, schnell, steh fest!“ Und der Mann springt auf und kann gehen.
Power Evangelism und die Rolle der Heilung
Vor einigen Jahren nannte man das in Deutschland Power Evangelisation. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern war das weit verbreitet. Es kam aus den USA, und es gibt immer wieder solche Wellen, die auch in Deutschland ankommen. Damals war Power Evangelism das große Thema.
Das Konzept war ganz klar: Die Leute werden nur neugierig darauf, von Jesus zu hören, wenn zuerst Heilungswunder geschehen. Das steht in der Bibel, ja, so steht es da, und so ist es auch passiert. Die ganze Stadt war aus dem Häuschen. So hat es ja auch in Jerusalem angefangen: Petrus und Johannes hatten einen Gelähmten vor dem Tempeltor. Er wurde geheilt, und alle waren aus dem Häuschen. Große Aufmerksamkeit, ja, wunderbar!
Also hieß es Power Evangelism: Ihr müsst nicht nur Reden halten und Musik machen, sondern ihr müsst wirklich die Leute heilen, damit sie zum Glauben kommen. Dafür bin ich voll begeistert und freue mich über jeden, der die Gabe der Heilung hat und in der Vollmacht von Jesus spricht. Menschen stehen auf aus ihren Rollstühlen und können gehen.
Nicht so lustig finde ich es, wenn Leute das versprechen und eine Sensation ankündigen, und am Ende müssen die Leute in Rollstühlen wieder rausfahren. Dann wird ihnen gesagt, sie hätten wohl nicht richtig geglaubt. Am Prediger habe es nie gelegen. Das nenne ich Betrug.
Er sagt: Klar, Gesundheit ist die Hauptsache im Leben, und damit kannst du heute auch alle mitlocken, wenn du Heilung versprichst. Aber es geht nicht darum, Heilung zu versprechen. Er hat nicht versprochen, sondern gewusst, dass Jesus das jetzt tun wird. Als ein Zeichen des Messias wird er das tun.
In seinem Namen spreche ich das jetzt. Wer die Gewissheit hat, soll es sagen. Diese Gewissheit wird dadurch bestätigt, dass es geschieht. So ist es.
Die religiöse Umwandlung des Evangeliums in Lystra
Was ist die Folge? Nun denkt man, jetzt bricht die Erweckung aus. Natürlich brach in Lystra die Erweckung aus. Zeus und Hermes hatten eine Erweckung.
Denn was passiert hier? Das ist der zweite Punkt: die religiöse Umwandlung des Evangeliums. Die Leute sind total begeistert. Das, was sie religiös kannten und gewohnt waren – ihre alte, griechisch bestimmte Religion – war wahrscheinlich bodenständig, aber auch irgendwie verformt. Damals galten die griechischen Götter als Oberfläche, und darunter war das, was man vor Ort glaubte. Das war weit verbreitet.
Das alte Zeug – wer weiß, vielleicht lief es im Zeus-Tempel nicht mehr so gut. Die Leute zahlten zwar ihre Kirchensteuern und kamen zu den Festen, aber im Grunde glaubte das kaum noch jemand richtig. Jeder hatte seine eigenen esoterischen Lösungen.
Plötzlich aber gab es eine Erweckung der Spiritualität und Religiosität. Alles, was alt und bodenständig war, wurde plötzlich lebendig! Lystra feierte Weihnachten, denn Zeus war der Chef vom Götterclan, und Hermes war der Götterbote – und diese ganze Mischung!
Man kann lesen, dass dort viel los war: Es gab Ehebruch, pausenlos Streit und Kloppereien, Eifersucht, und auch säuferische Götter waren dabei. Das war ein ziemlich turbulentes Leben, deshalb mochten die Leute das zu allen Zeiten. Volles Programm von Fasching oder Karneval war eigentlich immer angesagt.
Jetzt sagten sie, dass diese Götter Menschen werden. Das lag in der Religiosität durchaus nahe, das kannte man traditionell – und jetzt hatte man es. Die Zuordnung war genial gelungen: Der Bote redet, und im Hintergrund stand majestätisch und still der andere. Barnabas wurde zum Chef befördert, er war Zeus, und Paulus war Hermes. Die ganze alte Religiosität kochte hoch und stand in Flammen – Erweckung.
So ist das immer: Der Mensch ist unheilbar religiös. Dann gibt es Impulse, und plötzlich kocht diese Sehnsucht hoch. Ich meine, in Deutschland feiert man auch Weihnachten – dass die Götter Menschen werden wie wir. Bei uns wird an Weihnachten mehr vom Weihnachtsmann geredet als von Jesus.
Zumindest heißt ein Paketdienst, der Weihnachtsgeschenke bringt, Hermes. Insofern ist das alles sehr naheliegend. Man könnte sagen, Stuttgarter und Lystra sind nicht so weit voneinander entfernt.
Die menschliche Sehnsucht nach Bestätigung und die Umdeutung des Evangeliums
Was ist hier eigentlich los? Woher kommt es, dass hier Leute das Evangelium verkündigen, das von Jesus handelt, und die Menschen darauf positiv und begeistert reagieren? Gleichzeitig bauen sie das Evangelium in ihre herkömmliche, alte Religiosität und Weltanschauung ein. Woran liegt das?
Das hat mindestens zwei Ursachen. Erstens: Die Erwartung, die wir an Religion haben, ist, dass sie uns bestätigt. Das Leben ist schwer, es gibt viele Verunsicherungen, und man weiß oft nicht, wie es vorne und hinten läuft. Wir alle haben eine große Sehnsucht danach, bestätigt und bestärkt zu werden – das Gefühl zu hören: Du bist okay.
Beim Zuhören saugen wir alles auf, was uns bestätigt, weil wir diese Sehnsucht so stark spüren. Gleichzeitig filtern wir alles heraus, was uns in Frage stellt, denn das mögen wir nicht. Wenn wir eines hassen, dann ist es Veränderung. Wir sind in dieser Hinsicht zutiefst konservativ, auch wenn wir uns nicht so bezeichnen würden. Wir möchten in dem, was wir fühlen und denken, bestätigt werden, und Kritik wird herausgefiltert.
„Du bist okay“ – das ist heute das Wichtigste, was Menschen brauchen. Viele sind so krank, voller Hass und Unsicherheit, dass sie nichts Heilenderes bekommen können als eine solche Bestätigung. Viele sagen: Das ist das Evangelium, der Kern des Evangeliums. Gott sagt uns: „Ich liebe dich, ich habe dich geschaffen, ich habe dich erhalten, ich habe dich gewollt, ich brauche dich, ich bin für dich am Kreuz gestorben.“
Ja, sagen sie, das sei das ganze Evangelium: Du bist gewollt, du bist angenommen. Wir hören: „Ich bin okay, ich bin okay.“ Und sie behaupten, das sei das Evangelium. Sie sagen: Gott nimmt dich an, wie du bist. Das sei das Evangelium.
Sie warnen davor, sich einreden zu lassen, man sei falsch oder ein Sünder. „Die wollen dich nur klein machen. Wenn sie dich klein gemacht haben, können sie dich beherrschen.“ Das sei der alte Trick der Machthaber: Sie wollen dich klein und schlecht machen. „Lass dich nicht klein machen. Du bist okay – das ist das Evangelium“, sagen sie.
„Bleib, wie du bist, das ist das Evangelium“, sagen sie. Denn du hast Angst vor Veränderung und bist überfordert davon. Alle wollen, dass du dich veränderst – aber nein, bleib, wer du bist, sagen sie. Das sei das Evangelium. Und glaube nicht, dass du einen Erlöser brauchst.
Sie sagen, dass das Bild von Jesus, der am Kreuz blutig stirbt, brutal und gewaltverherrlichend sei. Das passe überhaupt nicht in unsere menschliche Welt. Und doch behaupten sie, das sei das Evangelium.
Versteht ihr, dass die normale Religiosität, die in uns Menschen steckt, unausrottbar ist? So wie damals in Lystra. Das ist heute in Stuttgart, Kassel oder Berlin genau dasselbe: die Sehnsucht zu hören „Ich bin okay, bleib, wie du bist, Gott ist so lieb, und das wird schon alles gut gehen.“
Die Radikalität der heutigen Zeit und die Selbstbezogenheit
Wenn es heute eine Form von Radikalität gibt, dann ist es eine, die oft nicht geliebt wird. Das liegt daran, dass wir bei Radikalität oft an Gewalt oder Intoleranz denken. Doch es gibt ein Kennzeichen unserer Zeit, in dem wir tatsächlich sehr radikal sind. Dieses Kennzeichen ist das Grunddogma unserer Zeit: Glaube nur an dich selbst.
Wenn du wissen willst, was gut ist, dann höre auf dein Herz, auf die Stimme deines Gefühls. Gut ist, wenn du dich gut fühlst. Lass dir von niemand anderem reinreden, was du tun sollst oder sein sollst. Höre nur auf dich selbst.
Ich lese gerade den Bestseller von Yuval Noah Harari „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“. Harari, der Atheist, schreibt darin über die Zukunft. Er sagt: Es gibt nur eine absolute gültige Wahrheit – höre auf die Stimme deines Herzens, höre auf dein Gefühl. Alles, was nicht von dort kommt, hat nichts mit Wahrheit zu tun. Es gibt keine Wahrheit, außer sie kommt von innen aus dir.
Dann schaue dich um und frage dich, was gilt, was du denkst. Fremdbestimmung ist das Schlimmste. Wir lassen uns doch nicht von anderen vorschreiben, was wir tun sollen, keine Gebote. Höre auf dich selbst. Wenn du mit deiner eigenen Stimme in Übereinstimmung bist, dann bist du auf dem richtigen Weg.
Das ist das tiefste Empfinden, das sich in Lystra ausbreitet. Die Menschen dort haben es gespürt. Das bestätigt sie in dem, was Paulus sagt, auch wenn sie ihm gar nicht wirklich zugehört haben. Paulus erzählt die gleiche Geschichte von Jesus – dem Gekreuzigten und Auferstandenen –, wie wir sie in den Evangelien lesen. Die Leute haben gehört: „Du bist okay.“ Als Paulus Heilung anbot und sie geschah, reduzierten sie alles auf diesen Satz: „Ich bin okay, du sollst okay sein.“
Und jetzt ist das die große, große Gefahr: Eine Umdeutung des Evangeliums geschieht, ohne dass irgendjemand auch nur eine Anstrengung unternimmt, sie zu verhindern.
Die scharfe Reaktion der Apostel auf die falsche Verehrung
Wie reagieren die Apostel darauf? Die Reaktion des Paulus ist hier ziemlich schroff. Eigentlich hätte er doch dankbar sein sollen. Muss man nicht anerkennen, wenn die Verkündigung des Evangeliums, wenn unser Dienst in Kirche und Gesellschaft, in christlichen Gemeinschaften und Organisationen so positive Reaktionen auslöst? Solche Begeisterung, bei der Leute endlich mal sagen: Das ist toll, das können wir feiern, und jetzt geht es los.
Okay, sie integrieren das jetzt ein bisschen in ihr Denken, so wie sie es bisher gewohnt sind. Aber immerhin: Zunächst sind Paulus und Barnabas ja schon die großen Nummern. Sie sind gesellschaftlich in Lystra relevant. Sie sind angekommen und haben die Herzen gewonnen. Was wollen wir Evangelisten denn anders? Was will ich als Evangelist? Ich möchte doch, dass die Leute mir zuhören, dass ich sie gewinne und dass sie sagen: Das ist gut.
Und da sind wir natürlich absolut verführbar, absolut verführbar. Wer Leute gewinnen will – und das ist ein oberstes Gesetz – wird begeistert reagieren, wenn die Begeisterung ausgedrückt wird und man sagt: Toll, das sind die Götter Zeus und Hermes! Lasst uns eine Party feiern und Opfer bringen. Wir können Opfer bringen und schmücken sie. Sie sind groß, wir sind angekommen, wir wollen ankommen, wir wollen Leute gewinnen.
Man kann das später gut weiterentwickeln, wenn da ein Fehler drin ist. Man muss aber erst einmal gesellschaftlich relevant werden – so heißt das heute. Dann kann man später vielleicht noch darüber nachdenken, was man noch korrigieren muss. War vielleicht nicht alles ganz richtig verstanden, das mit Zeus und Hermes. Vielleicht haben wir da mit Jesus doch noch etwas anders. Das kriegen wir später.
Kann man diesen Ansatz nicht würdigen? Muss man dem nicht am Anfang erst einmal mit Respekt begegnen, in der Hoffnung, man könnte es später weiterentwickeln und nachbessern?
Nun, hier in Lystra reagiert Paulus zusammen mit Barnabas ziemlich schroff. In Athen haben sie sich ein bisschen höflicher benommen. Dort, als sie zur Rechenschaft gefordert werden, auf dem Areopag, sagt Paulus: „Männer von Athen, ich habe gesehen, wie ihr die Götter überall so verehrt.“ Aber dann ist auch schon Schluss mit dem Fischfang vor Komplimenten und Höflichkeit. Er konfrontiert sie mit der Wirklichkeit des Schöpfers, der sich offenbart hat in Jesus. Er sagt, dass Gott einen Tag des Gerichts festgesetzt hat für alle und jetzt zur Umkehr ruft und Glauben anbietet an den auferstandenen Jesus.
Hier in Lystra hat Paulus nicht so viel Zeit, eine lange erklärende Rede zu halten. Es wird sehr, sehr turbulent. Er verliert ganz schnell die Sympathie hier.
Die radikale Reaktion der Evangelisten und die Konfrontation mit der Wahrheit
Der dritte Punkt ist hier die radikale Reaktion der Evangelisten. Die Leute sprechen Lykaonisch, eine Sprache, die die Apostel nicht verstanden. Die Apostel sprachen Griechisch, das damals so etwas wie Englisch war. Die Menschen verstanden Griechisch halbwegs. Vielleicht entstanden dadurch Missverständnisse, weil sie nicht alles genau mitbekamen, sondern nur auf Griechisch hörten. Wir wissen es nicht genau.
Als die Menschen untereinander Lykaonisch sprechen, verstehen Paulus und Barnabas nichts. Es dauert einen Moment, bis sie begreifen, was vor sich geht. Dann beginnt die Reaktion. Das ist hier nicht sehr feierlich. Es heißt, sie zerrissen ihre Obergewänder. Fromme Juden tun das immer dann, wenn Gott gelästert wird. Damit zeigen sie, dass das Leben zerstört ist, wenn Gott gelästert wird und ihm die Ehre genommen wird. Es geht ums erste Gebot – da hört der Spaß auf, Schluss mit leisen Tönen.
Sie stürzen sich unter die Leute und schreien. Sie rufen sechs Botschaften im Stakkato. „Wir sind sterbliche Menschen“ – sofort ist der ganze Glanz weg, sofort ist die Versuchung zurück. Das kitzelt doch jeden, wenn die Leute sagen: „Du bist toll!“ Sehr dynamisch, sehr authentisch, das wirkt wie Vollmacht. Aber Paulus sagt: „Alles gelogen. Wir sind sterbliche Menschen, nichts ist besser an uns.“ Sofort ist die Menschenverehrung vorbei.
Und dann sagen sie: „Wir sagen euch das Evangelium.“ Das heißt, sie verkünden eine rettende Botschaft, die man sich nicht selbst sagen kann. Sie kommt nicht aus einem selbst und auch nicht aus der eigenen Tradition. Der Mensch, der gerettet werden soll, ist angewiesen auf eine Botschaft, die von außen kommt. Deshalb nannten die Reformatoren das Evangelium ein verbum externum – ein Wort, das von außen kommt. Das kann man sich nicht selbst sagen.
„Wir sagen euch das Evangelium.“ Worin besteht das Evangelium? „Bekehrt euch von den Nichtsen zu dem lebendigen Gott.“ Luther sagte: Bekehrt euch von den falschen Göttern. Das war ein Klartext. Herr Zeus und Hermes – im religiösen Dialog begegnet man sich erst einmal mit Respekt. Paulus tut das auch in Athen, wo er die Götter ehrt und sagt, sie seien aller Ehren wert.
Hier aber sagt das Evangelium, dass man sich von den Nichtsen zum lebendigen Gott bekehren soll. Und dann erklärt Paulus, wer Gott ist: der Schöpfer der Welt. Er hat die Völker ihre Wege gehen lassen, ohne einzugreifen. Er hat sie ihre eigenen Wege gehen lassen. Er hat sich nicht unbezeugt gelassen, sagte Paulus. Er hat Regen gegeben, Fruchtbarkeit, Nahrung – und diese wunderschöne Formulierung, die den Schluss des abgerissenen Zitats bildet: „Und er hat eure Herzen mit Freude erfüllt.“
Gott gönnt euch etwas. Er hat euch Urlaub geschenkt, schönes Wetter, Erfolg in der Karriere. Ihr habt Häuser, die ihr genießen könnt, schicke Autos, die ihr fahren könnt. Er hat eure Herzen mit Freude erfüllt. Da fragt man sich: Was passiert hier eigentlich? Das ist ja nicht das ganze Evangelium, das hier so abgerissen und stakkatoartig dargestellt wird. Aber Paulus hat ja vorher schon anderes gesagt.
In diesen turbulenten Situationen, schreiend, rufend und springend bei diesem Volksfest, konnte er gar nicht mehr alles sagen. Was er tut, ist, dass er den vor Religiosität Besoffenen – man kann es nicht anders sagen – die Wahrheit der biblischen Offenbarung vor Augen führt. Er konfrontiert sie ganz scharf.
Umgang mit der Wahrheit und der Herausforderung der Evangelisation
Wie soll man das machen? Kann man das immer so machen? Paulus hat das nicht immer so gehandhabt. Er war nicht immer gezwungen, es genau so zu tun. Er ist ganz unterschiedlich eingestiegen. Wie soll man also einsteigen? Wie beginnt man ein Gespräch mit einem Menschen, dem man das Evangelium sagen möchte?
Wie auch immer – suche den Einstieg, den der Herr dir in der jeweiligen Situation zeigt. An irgendeinem Punkt ist es jedoch absolut notwendig, wenn Menschen gerettet werden sollen, dass sie mit der Wahrheit des Evangeliums konfrontiert werden.
Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wann soll ich das tun? Vielleicht ist der geeignete Moment, wenn du spürst: Jetzt finden dich alle toll, jetzt sind sie alle begeistert von dem Zugang, den du zu ihnen gefunden hast – so niedrigschwellig, so wenig verstörend, so attraktiv. Wenn das erreicht ist, dann sei misstrauisch. Denn jetzt bist du an dem Punkt, an dem sie dich fast wie Götter verehren, jetzt ziehen sie Grenzen, jetzt bringen sie dir Opfer.
Und das schmeckt dir. Deinem Herzen, deinem gottlosen, arroganten Herzen – das schmeckt dir. Und dann ist man verführt, genau in diesem Ton weiterzumachen.
Wir möchten ja niemanden von heute auf morgen überfordern. Wir sprechen von Beziehungsevangelisation. Wenn ich Beziehungen eingehe, baue ich Freundschaften auf. Und das dauert. Wir möchten, dass Menschen spüren, dass sie wertgeschätzt werden. Wertschätzung zeigt sich darin, dass sie es auch zurückgeben. Sie lassen mich spüren, dass ich ihnen sympathisch bin. Deshalb wird unsere Beziehung immer enger.
Und das ist das verführerische Argument, das ich in meinem Leben immer wieder erlebt habe. Man spielt Fußball, Tischtennis oder boxt mit jungen Leuten in der Jugendarbeit. Über Monate und Jahre baust du Beziehungen auf. Leute, die vorher kein Wort gesagt haben, fangen plötzlich an, vertrauensvoll zu reden. Und dann spürst du, dass sie sagen: „Euer Sportprogramm ist ja toll, eure Freundschaft auch, aber euren Jesus könnt ihr euch in die Haare schmieren.“
Jetzt fängst du an, von Sünde zu reden, oder? Dann merkst du, die Entscheidung steht bevor, und es könnte eine Trennung geben. Und nichts hasse ich so sehr wie Freunde zu verlieren. Dann arbeitet alles in mir dagegen: nicht zu schnell, nicht zu drastisch vorzugehen.
Und dann kommt der Teufel und sagt: „Weißt du, die Zeit ist anders. Schau mal, die Leute haben nur eine einzige radikale Überzeugung: Hör auf dein Herz! Du musst ihr Herz erreichen, ihre Gefühle. Wenn sie nicht selbst spüren, dass es ihnen gut tut, können sie Jesus nicht folgen. Stör sie nicht in diesem Prozess!“
Doch Paulus sagt: „Was macht ihr da?“ Wir sind sterbliche Menschen. Da sind die Leute enttäuscht. Da ziehen sie die Ochsen hinter sich her, die gerade geschlachtet wurden. Die Ochsen waren die einzigen, die froh waren, weil es ihnen an die Kehle ging. Die Blumen verwelkten, die Party kippte. Und es war so eine schöne Stimmung. Und jetzt war plötzlich nichts mehr – nichts mehr.
Die Gefahr des Verlustes von Sympathien und die Bedeutung der Wahrheit
Und das ist ja so schrecklich in dieser Geschichte, wenn man sich das hier anschaut. Es passiert schneller, als man gucken kann. Paulus endet mit dem Satz: „Er hat eure Herzen mit Freude erfüllt.“ Im nächsten Satz heißt es schon, dass die Leute aus Ikonion nachkommen und die Menschen gegen Paulus aufhetzen.
Diese Hetzer und Hasser finden sofort bei den bisherigen Paulus-Fans offene Türen. Die Begeisterung und der Fanjubel kippen um in Feindschaft und Hass. Die Steine fliegen, und sie steinigen Paulus. Er hat ihnen die Party versaut, und deshalb wandelt sich die Begeisterung in Hass.
Genau das erlebt man immer dann bei Religiosität und Spiritualität. Da gibt es immer einen Marktführer. Das sagen heute auch Atheisten, und alle soziologischen Untersuchungen bestätigen es. Es gibt einen Boom an Religiosität und Spiritualität, ein großes Verlangen danach.
Alle evangelistischen Christen sehnen sich danach, wie sie aus dieser Situation Vorteile ziehen können. Jetzt müssen sie nur geschickt in diese Bedürfnisse hineinfinden. Und nirgendwo sind wir so verführbar wie dort.
Das sieht man heute ganz deutlich. Die Begeisterung für Religiosität und Spiritualität kippt schnell um, wenn man die Wahrheit des Evangeliums sagt. Die Wahrheit von dem einen Schöpfer, unserer Sterblichkeit und Endlichkeit, von dem Mann am Kreuz, der für uns der einzige Retter ist.
Die Wahrheit von der Sünde, durch die wir in die ewige Verdammnis gehen, wenn wir keine Vergebung bekommen. Und von dem auferstandenen, gekreuzigten Jesus, durch den wir gerettet werden.
Die Wende heißt Bekehrung – weg von den Götzen, vom Geld, von der Selbstverliebtheit. Das ist so schwer. Wenn man so rein verliebt ist, radikal verliebt, und das Herz einem sagt, etwas sei richtig und gut, und man nur auf das hört, was das Herz sagt, dann ist die Bekehrung von diesem Götzen zum lebendigen Gott das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann.
Ich beobachte heute viele Bemühungen in der Evangelisation, diese Krise zu vermeiden. Glaubt nur ja nicht, dass es noch nie einen Trick gab, diese Krise zu umgehen.
Deshalb erlebt jeder, der das Evangelium weitersagen will, dass man ganz schnell Sympathien verliert, wenn man die Wahrheit sagt. In Deutschland verliert man nicht das Leben – das passiert in Pakistan, in Indien, in arabischen und islamischen Ländern.
Hier und da hören wir heute mit Erschrockenheit, dass das Schlimmste, was uns in Deutschland passiert, ein Shitstorm im Internet oder das Angeprangertwerden in den Zeitungen ist.
Man kann mal zwei Pfarrer in Schorndorf und in Hegnach fragen, wie sich das anfühlt, wenn man in der Tageszeitung, in der Stuttgarter Zeitung, „gekreuzigt“ wird. Was in den letzten Wochen in diesem Schwabenländle passiert ist, erscheint vielen als das Schlimmste, was uns passiert.
Viele Menschen denken schon, so nervös und verwöhnt wie wir sind, dass das die Kreuzigung selbst ist und das Schlimmste, was passieren kann. Nein, wenn wir die Bibel lesen – unsere Quelle –, dann sagt sie uns: „Nur getrost, es kommt noch schlimmer. Nur getrost, es kommt noch schlimmer.“ Es ist ganz normal.
Wir wollen nämlich keine Kunden gewinnen, sondern Menschen retten. Denn Kunden sind immer König. Kunden kannst du nur bedienen mit dem, was sie mögen.
Wenn du das Evangelium von Jesus als Ware betrachtest, wenn es darum geht, dass du selbst Ansehen hast, dass deine Gemeinde wächst und dass du gesellschaftlich relevant wirst, dann wirst du Kunden suchen und dich nach den Königen richten.
Aber das Evangelium ist dafür da, Sünder von der ewigen Verdammnis zu retten und zu einem gelingenden Leben zu führen. Deshalb ist immer der entscheidende Punkt: die ganze Wahrheit, die ganze Wahrheit.
Darauf haben die Menschen einen Rest. Nur Jesus rettet.
Ermutigung zum treuen Zeugnis trotz Widerständen
Ich möchte euch Mut machen. Hoffentlich bleibt euch allen erspart, dass ihr Preise zahlen müsst, wie es manche unserer Geschwister heute hier in diesem Haus erzählen. Sie haben in Verhältnissen gelebt, in denen es sehr, sehr kostspielig war, für Jesus einzustehen. Ich wünsche euch, dass euch all das erspart bleibt.
Uns Christen in Deutschland ist über Jahre und Jahrzehnte fast alles an Beschwerden erspart geblieben, wenn wir Jesus in Wahrheit und Klarheit bezeugt haben. Das Einzige, was wir heute so schwer ertragen, ist, dass wir Sympathien verlieren.
Sind wir das so gewohnt? Dass unsere Seele sich nähert, weil du gewollt bist, geliebt wirst und der „Gefällt mir“-Daumen nach oben geht? Nein! Die Entscheidung an diesem Tag ist immer eine große Chance. Herr, hilf mir, dass ich von Herzen dir folge und von Herzen die Wahrheit an mein Leben heranlasse.
Lass uns darum beten: „Herr, weck uns auf aus der Besoffenheit unserer eigenen Religiosität, stell uns in die Wahrheit, die du bist, und mach uns zu Zeugen der Wahrheit, die rettet.“