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Was bleibt von Weihnachten? Johannes machte eine großartige Entdeckung, die ihm von Weihnachten geblieben ist und die uns auch bleiben soll: Gott bleibt. Jesus bleibt. Das Wort bleibt. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Was bleibt, wenn der Christbaum nadelt und die Kerzen herunterge­brannt sind? Was bleibt, wenn der Christstollen aufgezehrt und wieder Dreikornbrot serviert wird? Was bleibt, wenn das Christkind den heiß ersehnten Spielcomputer gebracht hat, der aber am zweiten Feiertag schon defekt war? Was bleibt vom Christtag am Werktag?

“Wir waren in den Bergen”, so erzählen die einen. “Zu Weihnachten gehören für uns schneebedeckte Gipfel und eine hohe Wacht der klaren Sterne. Am Heiligen Abend stapften wir noch einmal hinaus und streiften durch die Krüppelfichten. Wir hätten uns bestimmt nicht gewundert, wenn wir dem leibhaften Knecht Rupprecht begegnet wären, so weihnachtlich verzaubert war die Welt. Vom Tal herauf luden die Glocken zur Christmette ein. Solche Eindrücke begleiten einen durch das ganze Jahr. Was uns von Weihnachten blieb? Eine schöne Erinnerung.” So erzählen die einen.

“Und wir waren auf Besuch”, so erzählen die andern. “Zu Weihnachten gehören für uns liebe Freunde und Bekannte. Einmal im Jahr wird nicht auf die Uhr geschaut, sondern bei einem edlen Tropfen und herrlichem Gebäck sich unterhalten. Nur diesmal kamen wir sehr schnell auf die Politik zu sprechen. Es gibt wahrlich glücklichere Themen als Landtagswahl, Quellensteuer,; Null-Lösungen und SDI, aber genau darüber kamen wir hintereinander. Jeder beharrte auf seiner Überzeugung, als ob er den Stein des Weisen verschluckt hätte. Frühzeitig, schon um 23 Uhr, lösten wir den unfeierlichen Debattierclub auf. Was uns von Weihnachten blieb? Eine böse Ernüchterung.” So erzählen es die andern.

“Und wir waren daheim”, so erzählen die Dritten. “Zu Weihnachten gehören für uns Kinder und Enkelkinder. Seit die zwei Töchter aus dem Haus sind, ist es in unserer Stube sehr still geworden. Aber zum Fest kreuzen sie auf mit Mann und Maus, mit Katz und Hund. Schon lange haben wir den Tisch ausgezogen, das Festgeschirr hervorgekramt und einen Prachtskerl von Christbaum mit unzähligen Glaskugeln hochgerüstet. Und dann kam das Telefon, dass die Kinder in beiden Familien erkrankt seien und der Besuch ins neue Jahr verschoben werden müsse. So aßen wir zwei Alten mutterseelenallein am Tisch mit 12 Plätzen. Was uns von Weihnachten blieb? Eine bittere Enttäuschung.”

Liebe Freunde, was bleibt uns von Weihnachten? Jeder könnte doch der schönen Erinnerung, der bösen Ernüchterung oder der bitteren Enttäuschung noch eine nette Begegnung oder eine schlimme Erfahrung hinzufügen. Aber lassen wir diesen Johannes berichten, der sich mit seinem Brief an die frühen Christen in der römischen Provinz Asia wendet. Natürlich hätte er auch Erinnerungen auf Lager, wie sie gemeinsam Christgeburt feierten und die uralten Christushymnen anstimmten. Natürlich machte ihm auch Ernüchterung zu schaffen, weil junge, hoffnungsvolle Christen der Gemeinde den Rücken kehrten. Natürlich ist ihm auch Enttäuschung widerfahren, als geisterfüllte Prediger sich plötzlich als Schwarmgeister entpuppten. Aber dies alles ist ihm nebensächlich geworden. Daran will er jetzt gar nicht mehr denken. Solche Dinge sind für ihn ohnehin vergessen. Johannes machte mit seinen Freunden eine großartige Entdeckung, die ihm von Weihnachten geblieben ist und die uns auch bleiben soll. In ihrer dreigliedrigen Aussage ist sie leicht behältlich, nämlich

1. Gott bleibt

Es gibt Besucher, die zu kurz bleiben. Sie sind immer auf dem Sprung und lassen sich kaum hereinbitten. Am liebsten reden sie zwischen Tür und Angel und geben nur ihre Päckchen oder Blumen ab. Solche Stippvisiten befriedigen nicht. Dann gibt es Besucher, die einfach zu lange bleiben. Schon bei der Ankunft lassen die vielen Koffer Böses ahnen. Nach drei Tagen sind die Gesprächsstoffe und nach fünf Tagen die Nerven am Ende. Man verfährt nach der alten Regel aus dem Kloster Allensberg: “Ihr sollet gegen jedweden Gastfreundschaft üben, doch wenn der Gast länger als drei Tage verweilet, könnet ihr mit der Freundlichkeit langsam nachlassen.” Schließlich ist alle Geduld weg und man fragt: “Wann geht ihr lieber Zug?”

Dann gibt es Besucher, die man am liebsten gar nicht mehr ziehen lässt. Sie füllen das Haus mit Freude und machen jeden Tag zum Fest. Mit ihrer Anwesenheit ist die Einsamkeit vorbei und in ihrer Gegenwart ist einem wohl zumute. Solche Besucher sollten Bewohner werden, die immer bleiben.

Genau dazu zählt der lebendige Gott selbst. An Weihnachten hat der alte Zacharias gesungen: “Gelobt sei der Herr, der Gott Zebaoths, denn er hat besucht sein Volk.” Gott hat den Himmel verlassen und ist in Jesus Christus auf Besuch gekommen, das ist keine Stippvisite, die sich zwischen Tür und Angel abspielt. Das ist kein Überfall, den wir schweigend erdulden müssen. Das ist keine Hausbesetzung, die wir nicht beenden können. Der Gottesbesuch füllt das Haus mit Freude und macht jeden Tag zum Fest. Und dies wird mit dem 27. Dezember nicht beendet. Er packt keine Koffer und wünscht ein gutes Neujahr zum Abschied. Dieser Hausbesucher will zum Hausbewohner werden, auch dann, wenn der weihnachtliche Firlefanz längst wieder verstaut ist. Gott bleibt in Jesus. Deshalb bleibt er in Rufweite. Seine Tröstungen und Mahnungen sind unüberhörbar. Ohne dieses “Fürchte dich nicht”, das in immer neuen Wiederholungen und Bekräftigungen auf uns zukommt, müssen wir nicht mehr leben.

Gott bleibt in Jesus. Deshalb bleibt er in Hörweite. Mein Rufen und Schreien ist ihm nicht verborgen. Für alles, was bedrückt und belastet, hat er ein offenes Ohr. Gott bleibt in Jesus. Deshalb bleibt er in Sichtweite. Seine Gegenwart erlaubt uns einen Blick bis in den Himmel, denn “wer mich sieht”, sagt Jesus, “der sieht den Vater”. Es gibt keinen Raum mehr, wo wir mit uns alleine wären, überall hat er schon Quartier bezogen. Im Wohnzimmer, wo wir oft übers Kreuz miteinander kommen, im Arbeitszimmer, wo wir die Fülle der Anforderungen nicht mehr erledigen können, im Krankenzimmer, wo wir Leiden und Schmerzen haben, im Sterbezimmer, wo die Schatten immer länger und dunkler werden, in allen Zimmern auf der Sonnen- und auf der Schattenseite unseres Lebenshauses soll es aufklingen: “Freude, Freude über Freude, Christus wehret allem Leide. Wonne, Wonne über Wonne, Christus ist die Gnadensonne.” Gott bleibt in Jesus.

Und das Zweite der johanneischen Entdeckung:

2. Jesus bleibt

Sicher eine theologische Richtigkeit, aber was bedeutet sie konkret? Bleibt Jesus so wie eine Krippenfigur, die ihr wohl verpacktes Plätzchen hat und einmal im Jahr zu besonderen Ehren kommt? Oder bleibt er so wie ein Kruzifix, das die Ecke zum Herrgottswinkel macht und zuweilen Ehrfurcht auslöst? Oder bleibt Jesus so wie ein Bild, das der Großvater ins Zimmer und der Vater in die Kammer gehängt hat? Manche denken, Jesus bleibe als guter Gedanke in unserem Kopf; man müsse nur daran denken, dann sei all unser Denken geistlich. Manche denken, Jesus bleibe als innere Stimme in unserem Gewissen; man müsse nur darauf achten, dann sei der richtige Weg nicht zu verfehlen. Manche denken, Jesus bleibe als heller Funke in unseren Herzen; man müsse nur hineinblasen, dann sei es hell genug in allen Dunkelheiten. Jesus-gefüllt die ganze Welt. Jesus-geschwängert das ganze Haus, Jesus-geladen das ganze Leben. Jesus überall!

Liebe Freunde, das ist die Lüge, die nicht aus der Wahrheit kommt. Das ist die Lüge aller Lügen, die die Gemeinde in ihrem Kern zerstört. Das ist die Meisterlüge schlecht­hin, die mit absoluter Sicherheit tödlich wirkt. Jesus Christus, der sich an Weihnachten in die Krippe einer elendigen Karawanserei hineinlegen ließ, der sich am Palmsonntag auf den Rücken eines elenden Esels hinaufsetzen ließ, der sich am Karfreitag an den Querbalken eines elenden Kreuzes festschlagen ließ, dieser Jesus Christus ließ sich an Pfingsten in das elende Wort hineinbinden. Dieses Hineingehen in schwaches Menschenwort, dieses Hineinschlüpfen in fehlerhafte Menschensprache, diese “Erniedrigung zweiten Grades”, wie einer formulierte, hat er im Gehorsam gegen seinen Vater auf sich genommen. “Der Geist hat sich ans Wort gebunden” lehrte Martin Luther. Keiner hat Extraworte vom Himmel. Niemand hat Sondermeldungen von der Ewigkeit. Wir alle sind auf das Bibelwort gewiesen, das richtig und erschöpfend den Weg den Weg zur Seligkeit weist. Jesus bleibt im Wort.

Wenn uns also die Sorge überfällt, was denn im neuen Jahr noch alles über uns komme, dann müssen wir das Matthäusevangelium aufschlagen: “Sorget nicht für den andern Morgen”. Wenn uns die Gedanken quälen, wie wir unsere Aufgaben bewältigen können, dann müssen wir auf den Korintherbrief aufschlagen; “Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.” Wenn uns die Schuld anhängt, die gerade in stillen Feiertagen hochkam, dann müssen wir den Johannesbrief aufschlagen: “Er ist treu und gerecht, dass er uns die Sünde vergibt.” Wenn uns die Angst überkommt, wo denn diese Welt mit ihrem finsteren Himmel und ihrer blutigen Erde noch hinläuft, dann müssen wir die Offenbarung aufschlagen: “Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.” “Das Lagerbuch der Gemeinde Gottes vom Anfang der Welt bis an ihr Ende”, hat es Johann Albrecht Bengel bezeichnet. Und Martin Luther unterstrich: “Wenn wir glauben könnten, dass der Herr selbst darin mit uns spricht, dann würden wir eifriger darin lesen. Wir wären sicher, dass hier unser Lebens­glück geschmiedet wird.” Jesus bleibt im Wort.

Und die dritte der johanneischen Entdeckung:

3. Das Wort bleibt

… ganz im Gegensatz zu unseren Worten. Vielleicht bewahren wir uns einen Gruß auf, der so unerwartet ins Haus flatterte und uns besonders gefreut hat. Vielleicht schneiden wir uns auch eine Weihnachtsgeschichte aus, weil sie unsere Stimmungslage genau getroffen hat. Vielleicht bleiben sogar ein paar Sätzchen im Gedächtnis haften, die uns ein guter Freund am Telefon sagen konnte. Aber alle Grüße, Wünsche oder Botschaften sind letztlich Worte, die in den Sand geschrieben sind. Vom Wind der Geschichte werden sie alle verweht.

Menschenwort ist immer Wort auf Zeit, nur Gottes Wort ist in Ewigkeit. Es bleibt im Dunkel des Zweifels, wenn jede Wahrheit angefochten wird. Es bleibt im Dunkel des Schmerzes, wenn kein klarer Gedanke mehr zu fassen ist. Es bleibt im Dunkel des Abschieds, wenn alle Menschen zurückbleiben müssen. Gottes Wort bleibt in Ewigkeit. Mit diesem Wort sind wir der schrecklichen Spirale von Geburt und Tod entnommen. Durch dieses Wort haben wir die Gewissheit des ewigen Lebens. In diesem Wort wächst das Verlangen nach jenem “schönen Paradeis”, von dem Nikolaus Hermann gedichtet hat.

Er lebte ja in der späten Reformationszeit als Lehrer und Kantor im Bergarbeiterstädtchen Joachimsthal. Doch fiel ihm sein Dienst immer schwerer, weil sein geliebter Sohn von zuhause weggelaufen war und sich irgendwo in der Fremde herumtrieb. Und dann kam das Weihnachtsfest. Nachbarn klopften bei ihm und meldeten: “Dein Sohn ist im Ort gesehen worden.” Der Vater stürzte hinaus und suchte stundenlang alle Straßen ab. Schließlich stieg er mit einem Bergmann in den verlassenen Stollen hinunter. Als die Tür geöffnet wurde, sah er im Licht der Grubenlampe seinen schlaf­enden Sohn. Er hatte dort wegen der Kälte Schutz gesucht und die Tür, die innen keinen Griff hatte, war ins Schloss gefallen. Nikolai Hermann brachte den verlorenen Sohn nach Hause und schrieb noch in der Heiligen Nacht sein schönstes Lied: “Lobt Gott ihr Christen alle gleich in seinem höchsten Thron, der heut schleußt auf sein Himmelsreich und schenkt uns seinen Sohn.” Eine Tür ist aufgegangen. Neues Leben wurde geschenkt. Morgenglanz der Ewigkeit vertreibt alle Dunkelheit. “Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob Ehr und Preis.” Dies Wort einer grandios­en Hoffnung hat Ewigkeitswert.

Liebe Freunde, was bleibt vom Christtag am Werktag? Es ist einfach nicht wahr, dass nichts bleibt. Johannes antwortet behältlich; Gott bleibt in Jesus. Und Jesus bleibt im Wort, und das Wort bleibt in Ewigkeit.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]