Liebe Schwestern und Brüder,
vor einiger Zeit, nach einem Vortrag in einer norddeutschen Großstadt, ging ein Mann auf mich zu, stellte sich vor, und plötzlich fiel mir wieder ein: Das war ein alter Jugendbekannter, den ich immer bewundert hatte. Er hatte unheimlich viel Erfolg. Damals hatte er einen großen Wettbewerb gewonnen. Ich meine, es war ein bundesweiter Wettbewerb für junge Kaufleute.
Er erhielt viele Förderkurse und wurde früh Direktionsassistent. Damals war er Betriebsleiter in einer ganz aufstrebenden Firma. Doch dann verlor ich ihn aus den Augen. Dieses Wiedersehen war wie ein Hallo, wie einst in alten Tagen.
Ich fragte ihn, wie es ihm und seiner Familie gehe. Er erzählte von großer Not, durch die sie hindurchgegangen sind, und von Leid bei seinen Kindern. Dann fragte ich, wie es beruflich laufe. Er antwortete: „Ich habe seitdem eigentlich nur rückwärts gearbeitet und habe nichts Großes mehr vor.“
Plötzlich merkte ich, dass ich einem gebrochenen Menschen gegenüberstand. Von dem Schwung der Jugendjahre war nichts mehr da. Es war, als hätte das Leben diesen Menschen zerbrochen. Wenn er mit mir sprach, sah ich Tränen in seinen Augen. Man spürte, dass er nicht mehr weiterweiß.
Ich fühlte mich furchtbar ratlos, was ich diesem Mann sagen sollte. Was könnte ich ihm zusprechen? Sollte ich ihm sagen, er müsse sich eben noch einmal bemühen oder anstrengen? Es war ein Scherbenhaufen des Lebens.
Die verborgene Not vieler Menschen
Vielleicht sprechen wir manchmal nicht häufig genug über die Tiefen des menschlichen Lebens. Oft kommen wir nicht dazu, die vielen Menschen um uns herum wirklich zu erfassen. Viele von ihnen sind längst an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr weiterwissen.
Sie wissen nicht, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen. Sie stecken in einer Sackgasse in ihrer Ehe oder wissen beruflich nicht mehr weiter. Manche können nicht an die Zukunft denken, was ihre Gesundheit betrifft. Es gibt Streit in den Familien, hin und her, und niemand weiß mehr den Weg.
Das sollte uns groß werden lassen, wie Gott tröstet und Mut macht – ganz anders, als wir es oft ausdrücken. Das beobachten wir in all den Predigten, die wir aus dem Buch Jesaja an diesen Sonntagen hören.
Der zweite Punkt wird sein, wie Gott uns ermutigt. Der dritte Punkt wird das Abendmahl sein, bei dem Jesus selbst uns noch einmal zusprechen will.
Gottes klare Worte über unser Tun
Der erste Punkt, nicht du. Jetzt müssen Sie noch einmal dieses Wort ansehen, wie oft darin „Gott“ gesagt wird. Er rechnet mit den Leuten, nicht mit dir. Du hast mich doch nicht gerufen, du hast mir doch keine Schafe für das Brandopfer gebracht. Ich habe dich auch nicht mit Weihrauch bemüht. Mir hast du ebenfalls nichts gekauft, für mich hast du doch nichts getan. Das ist wie eine kalte Dusche.
Das ist doch so gläubig gesprochen. Die Gläubigen hatten doch so viel für Gott getan. Und es tut uns immer wieder weh, wenn Gott so etwas durchstreicht und sagt: Für mich hast du das alles nicht getan. Mich hast du nicht gerufen. Haben sie denn nicht gebetet? Mich hast du nicht gerufen. In den Tiefen. Unsere Enttäuschung kommt gut an und macht die Enttäuschung perfekt.
Dem müssen Sie standhalten. Wir kommen dann gern mit ein paar Lob- und Ermunterungsworten, richten Leute wieder auf und wollen sie hochpäppeln in den Tiefen der Not. Doch dann kommt Gott und zeigt uns, wer wir wirklich sind, und sagt: Du, du hast mir noch gar nichts gebracht. Aber Herr, ich habe doch schon so schön gebetet, ich habe dir doch schon so treu gedient, ich habe dir doch schon so große Opfer gebracht. Mir nicht.
Das tut weh, wenn Gott all das durchstreicht, was wir an Großem getan haben. Warum meint er das? Du hast aus der Tiefe deines Herzens noch nie zu mir geschrien. Du hast schon viele Gebete gesprochen, aber mich hast du in der Tiefe deines Herzens noch nie gebraucht.
Da deckt Gott etwas Furchtbares auf: dass man dem Namen nach Gott gehören kann, aber nicht mit dem Herzen. Dass man von ihm etwas will, ihn aber gar nicht ganz will. Das sagt Gott im Volk Israel. Dass es als selbstverständlich galt, nahe bei ihm zu leben und ihm zu dienen – mir hast du nicht gedient, mich hast du nicht gerufen, mir hast du keine Opfer gebracht.
Ich habe das von dir gar nicht gewollt. Was ich wollte, war immer das Opfer deines Herzens und die ganze Hingabe deines Lebens.
Die Herausforderung der Selbstreflexion
Jetzt muss ich mich noch einmal an diese Begegnung erinnern, die ich in einer norddeutschen Großstadt hatte. Wenn man mit Menschen spricht, denkt man immer wieder: Ich darf doch nicht auch noch das harte Wort zu einem Menschen richten.
Doch es gibt keine Ermutigung Gottes, ohne dass wir uns einmal ganz schonungslos selbst sehen. Wir müssen uns selbst sehen. Das sind keine dunklen Schicksalsmächte, die uns so beuteln und herumschlagen. Sondern es ist mein Leben, für das ich große Verantwortung trage. So vieles in meinem Leben, unter dem ich leide und seufze, ist meine eigene Schuld.
Gott spricht auch in den Tiefen unserer Zusammenbrüche von Schuld. Ich halte es nicht für gut, wenn wir heute meinen, wir könnten das ausklammern und dürften das den Menschen nicht mehr zumuten. Sonst gibt es keine Ermutigung und keinen Trost.
Es ist ein Gift in uns, ein ganz langsam, aber verheerend wirkendes Gift, das unseren ganzen Leib und unsere Seele zersetzt. Dieses Gift tragen wir von Kindesbeinen an mit uns. Es ist das Gift, das wir an uns selbst glauben und uns selbst gefallen.
Dieses Gift wirkt sofort auch im frommen Menschen. Kaum sind wir gläubig geworden, sagen wir: Oh, wie schön mache ich doch alles für Gott, wie treu und dienig bin ich ihm, wie groß ist meine Einsatzbereitschaft, und wie lieb bin ich doch. Das ist ein Gift, das uns tötet, weil es uns von der Lebensquelle trennt.
Gott sagt nicht: Du, gar nie du. Darum muss das mit aller Kraft und Stil in uns bekämpft werden. Das ist noch schwieriger, als das Senfgas aus den persischen Verwundeten in unseren Kliniken herauszubekommen. Dieses unheimlich wirkende Gift der Selbstgefälligkeit, bei dem wir von uns eingenommen sind und sagen: Ich bin doch ein ganz anständiger Christ, ich komme doch schon ganz weit.
Darum streicht Gott das durch und sagt: Nein, nein, nein, das hat dir der Teufel eingeredet, und das ist nicht so. Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden. Heute meinte ich, wir sollten das Abendmahl einmal zurückstellen. Wir sind ja nicht an die Formen gebunden. Aber das müssen wir vielleicht vorher vor dem Abendmahl noch klarstellen, wie das bei uns aussieht.
Gott sagt seinen gläubigen Leuten, nicht denen draußen in der Welt, den Gottlosen: Du hast mir fortwährend Schweiß und Mühe gemacht. Und das war nicht nur damals, als Jesus im Garten gerungen hat. Die ganzen letzten Tage, in denen wir unser eigenes Wesen gelebt haben, während Gott gelitten und geseufzt hat.
Das hat Gott kaum ertragen können, wie wir ohne ihn gelebt haben. Darum ist es nicht getan, wenn wir immer wieder als Christen anderen Menschen diese Ermunterung geben: Du musst noch einmal packen, richte dich auf, rapp dich zusammen. Lassen wir doch all diese Ermunterungen.
Schon wir wollen hier eine Schar sein, bei der man sich nicht schämt, davon zu reden: Ich war dem Herrn sehr viel untreu bis zum heutigen Tag. Ich habe dem Herrn täglich viel Not und Arbeit gemacht. Ich bin gar nicht der Christ, den es gar nicht gibt. Es gibt diese Leute nicht, die so fröhlich Jesus nachfolgen.
Es gibt Leute, die ihn sehr strapazieren, auch mit ihrer frommen Art. Wir haben Gott viel in den Weg gelegt, was es ganz arg schwer macht.
Gottes Zuspruch inmitten unserer Schuld
Gott sei nicht du, nicht du. Nicht du hast mir gediehen, nicht du hast zu mir gerufen – das ist gar nicht groß von dir.
Dann kommt das Zweite: Nicht du war das Erste, das Zweite bin ich. Und das ruft Gott noch einmal so hinein, wie man es nur in einem Rechtsstreit rufen kann. Ich sage Gott, und er stellt das dagegen – gegen mein eigenes Tun.
Er will doch nichts von dieser Festlichkeit, sondern sagt ganz ähnlich, wie es Jesus gesagt hat: „Ihr habt mich nicht erwählt.“ Doch, doch, ich habe mich doch für dich entschieden, sagen wir. Nein, das war es nicht. Ich habe mich für dich entschieden – das ist der tragende Grund, auf dem du allein leben kannst und der dich allein hält.
Dann spricht Gott dieses Wort so klar: „Ich, ich tilge deine Sünden.“
Wir hatten gestern einen eindrucksvollen Vortrag von Alfred Borchert, einem Judenchristen, in unserem Gemeindehaus drüben. Dort hat er uns ausführlich noch einmal dargelegt, wie das für Juden bis heute ist: dieses Wissen um die Sünde, das selbst ihr verehrter Vater David so schuldig wurde vor Gott.
Und es gibt eigentlich aus diesem Dilemma überhaupt keine Lösung. Da spricht Gott von einer Vergebung – wie soll sie denn geschehen können? Wenn Sie sich einmal überlegen: Wie soll denn Vergebung überhaupt funktionieren? Wie sollen denn die Dinge meines Lebens je in Ordnung gebracht werden können, die ich gar nicht in Ordnung bringen kann?
Menschen sind gestorben, an denen ich mich versündigt habe. Ich kann das gar nicht in Ordnung bringen, weil oft schon zu viel Unheil in Gang gesetzt wurde. Wie soll das wirklich bewältigt und außer Kraft gesetzt werden können? Das geht doch gar nicht.
Und dann rechnet Gott: „Ich, ich tilge deine Missetaten, ich wisch das vom Tisch, ich tue das jetzt weg.“
Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, dass es eigentlich Vergebung nicht gibt. Wir müssen noch einmal in die ganze Tiefe unseres Wesens hinunterblicken, dass da gar nichts ist, was Gott gefallen kann – auch nicht in unserem Herzen und in unserer Seele. Da ist nichts, womit wir irgendetwas bei Gott gewonnen oder gefunden hätten.
Die Zusage ewiger Gnade
Wenn heute in diesem Gottesdienst Menschen sind, die in der Depression an sich selbst verzweifeln, dann verkünde ich ihnen: Ewig gültige Gnade Gottes – um meinetwillen tilge ich deine Sünden. Sag Gott nicht „um deinetwillen“, sondern „um meinetwillen“. Er hat das Recht dazu, und es gebührt allein ihm in seiner Majestät, über Schulden das letzte Wort zu sprechen. Denn sie sind vor ihm getan und können nur von ihm gelöscht werden. Was er tut, ist vollkommen und ganz.
Ich tilge deine Missetaten um meinetwillen, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünde nicht. Ich tue das jetzt weg – ganz raus.
Vor ein paar Tagen fuhr ich mit einem jungen Mann im Auto, der mich mitnahm. Er ist ein fröhlicher junger Christ aus seiner Familie. Dann fragte ich ihn – das mache ich immer gerne, denn es ist interessant, andere zu fragen: Wie bist du zum Glauben gekommen? Und er erzählte, dass er als junger Mensch ganz dem Rauschgift verfallen war. Man hört so etwas ja selten. Eigentlich war er aus Neugier hineingegangen und dann darin gefangen.
Es wurde so schlimm, dass er in die Klinik kam und dort psychotherapeutisch behandelt wurde. Die Ärzte wollten die Ursache herausfinden. Er sagte nur das, was so viele junge Leute heute sagen: „Ich habe gar keine Zukunft. Ich kann nur leben, wenn ich spritze.“ Die Ärzte sagten, dann könnten sie ihm nichts mehr geben, wenn er keine Zukunft habe. Er erzählt, es sei erschütternd gewesen, wie sie ihn allein gelassen haben. Die Ärzte sagten nur, er werde höchstens noch ein Vierteljahr durchhalten.
Dann erzählte er, wie es nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in Frankfurt weiterging. Eine Frau, eine Christin, die Rauschgiftsüchtige missioniert, erzählte ihm von einem Wunder: Jesus macht frei, nimmt ein so zerstörtes und wertloses Leben an und schenkt das wunderbare, große Geschenk einer Neugeburt, eines neuen Lebens.
Er sagte, bei ihm sei es merkwürdig gegangen, so wie bei wenigen anderen. Er konnte von heute auf morgen brechen – in der Kraft Jesu. Er hat sein Leben ihm übergeben. Ihr wisst gar nicht, was das für Christen sind. Das habt ihr nie erlebt: Wenn Jesus einem wieder den Raum gibt, dass man weiß: „Ich kann leben, da ist mir Zukunft geöffnet, ich weiß, wohin mein Weg geht. Ich darf mich in seine Arme werfen und brauche nichts an meiner Vergangenheit beschönigen. Das alles habe ich ohne ihn gelebt.“ Ich tilge deine Missetaten.
Die Kraft der Vergebung für das ganze Leben
Und dass sie jetzt nicht nur die einzelnen Schulden ihres Lebens darniederlegen, sondern ihren gesamten zerbrochenen, lebendigen Scherbenhaufen – bis in unsere Todesstunde hinein.
Ist das das, was wir rühmen, was wir glauben und was wir erkennen? Er hat meine Sünden weggenommen. Ich will deiner Sünden nicht mehr gedenken.
Das ist eine Absichtserklärung Gottes: Ich will nie mehr daran denken, auch nicht am jüngsten Tag. Ich will niemandem mehr daran denken. Er will dir in den letzten Tagen keine Vorhaltungen mehr machen, nicht immer wieder den kleinen Stupser geben und sagen: „Naja, das ist ja bei dir die schwache Stelle.“ Er will nicht mehr daran denken, er will es machen, als wäre es nie gewesen. Er will alles neu machen, er will dich überschütten mit seinen Gaben und einen neuen Menschen aus dir machen – ich will um Meinetwillen.
Dieses „um Meinetwillen“ kann man auch anders auslegen. Es ist nicht nur der Grund der Vergebung, dass es allein durch das Opfer Jesu möglich ist, weil er Schuld durchstreichen kann, weil er sein Blut dafür vergossen hat. Man kann es auch so verstehen: Das ist die Ehre Gottes, nicht wegen dir. Sondern Gott will seinen Ruhm vor der Welt aufrichten.
Seinen Ruhm, dass sie keine spießbürgerlichen Christen sind, sondern seinen Ruhm. Da legt Gott seine Ehre hinein. In dieser Welt sind solche gescheiterten Gestalten wie jener fixer, der die Gnade Gottes rühmt.
Und dann gibt es heute niemanden in unserer Kirche, der nicht sagen muss: Das ist meine Lebensgeschichte. Ich habe nicht zu Gott gerufen, es war nicht mein Beten und nicht mein Eifer. Und sogar nach meiner Bekehrung war es das nie.
Sondern es war überwältigend, wie Jesus mir nachgelaufen ist und mich gesucht hat in seiner riesengroßen Treue. Und dann hat er mir seine große Vergebung so wichtig gemacht und alles weggewischt – alles weggewischt.
Die einzige Quelle der Hoffnung
Und wenn ich jetzt den Mund aufmache, dann möchte ich seine Gnade rühmen, die ich erfahren habe – seine Güte an mir.
Was sollen wir denn sonst reden? Von allem anderen? Lass die anderen Moral predigen. Lass die anderen predigen, wie man eine Welt neu gestaltet.
Mir ist Erbarmung widerfahren – Erbarmung, deren ich nicht wert bin. Die Kraft meines Lebens, die Ideen und Pläne für mein Leben und das, was möglich ist, beziehe ich nicht von mir, nicht von ihm, nicht von dir, sondern von ihm.
Ich möchte, dass sie es zu Hause auf einen Zettel schreiben, an ihren Spiegel kleben und sagen: Gott spricht nicht zu dir, zu mir, zu dir. In ihrem Leben will er wirken.
Und Größeres gibt es gar nicht mehr, als dass Menschen sich ganz und völlig Jesus in die Arme werfen. Nicht du, sondern er.
Amen.