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Auf den mitternächtliche Lobgesang muss unser Singen gestimmt sein. Dann ist - wie bei Paulus und Silas im Gefängnis - die Mitte der Nacht nicht nur das Ende, sondern die Wende des Tages und der Anfang des neuen Tages. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Wann wird gedankt? Wann wird gelobt? Wann wird gepriesen? Wann ist es Zeit für das Lob Gottes, liebe Gemeinde?

Morgens, wenn wir aufwachen und ein erquickender Schlaf hinter uns liegt, morgens, wenn wir aufstehen und alle Glieder gesund strecken können, morgens, wenn wir aufbrechen und das Tagwerk in Angriff nehmen, dann danken wir: “Aus meines Herzens Grunde, sag ich dir Lob und Dank, in dieser Morgenstunde, dazu mein Leben lang.” Morgens ist es Zeit für das Lob Gottes.

Oder mittags, wenn wir unterbrechen und eine Arbeitspause einlegen, mittags, wenn wir zu Tische sitzen und nach Messer und Gabel greifen können, mittags, wenn wir satt werden und keinen Hunger leiden müssen, dann loben wir: “Lobet den Herrn und dankt ihm seine Gaben, die wir in Gnad von ihm empfangen haben.” Mittags ist es Zeit für das Lob Gottes.

Oder abends, wenn wir fertig sind und die Arbeit aus der Hand legen, abends, wenn wir es geschafft haben und Feierabend winkt, abends, wenn wir zusammensitzen und miteinander den Tag beschließen, dann preisen wir: “Lob, Preis und Dank sei dir mein Gott gesungen, dir sei die Ehr, dass alles wohl gelungen.” Abends ist es Zeit für das Lob Gottes.

Die aber dankten nachts. Die aber lobten um 24 Uhr. Die aber priesen zur tiefsten Schlafenszeit. Paulus und Silas stimmten um Mitternacht das Lob Gottes an. Nun könnte man annehmen, diese beiden Männer hätten eine liturgische Nacht in einer Kapelle verbracht, aber in Wirklichkeit waren sie in einer Zelle untergebracht. Das Danklied drang durch vergitterte Fenster. Das Loblied hallte durch verriegelte Türen. Das Preislied schallte durch den Zellentrakt. In Philippi wurde das Cantate Domino nachts im Bunker gesungen.

Sicher gibt es Lobgesänge morgens daheim, wenn wir das Bett verlassen können, und wir täten gut daran, sie mehr zu singen. Sicher gibt es Lobgesänge mittags zu Tisch, wenn wir vor dampfenden Schüsseln sitzen, und wir täten gut daran, sie mehr zu üben. Sicher gibt es Lobgesänge abends zuhause, wenn wir die Last des Tages hinter uns lassen, und wir täten gut daran, sie mehr laut werden zu lassen. Aber es gibt auch den Lobgesang in der Nacht. Gerade er ist zum Urbild für das christliche Lied geworden. In unzähligen Gesängen aus der Tiefe klingt er auf. Seine Melodie ist gar nie abgerissen.

Wir hören es im Wallfahrtslied des Psalmisten, der nach der Hand Gottes greift, als er ins Bodenlose zu stürzen droht: “Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir, Herr, höre meine Stimme.” Wir hören es im Gemeindelied eines Paul Gerhardt, der in die Saiten greift, als um ihn herum gedroht, gemordet und gebrandschatzt wird: “Ich will den Herren droben, hier preisen auf der Erd, ich will ihn herzlich loben, solang ich leben werd.” Wir hören es im Gefangenlied eines Dietrich Bonhoeffer, der nach Papier und Feder greift, als ihn nazistische Schergen in die Todeszelle sperren: ‘’Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.”

Der mitternächtliche Lobgesang ist der Cantus firmus, auf den all unser Singen gestimmt sein muss. “Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott.”

Was war der Grund? Wer öffnete ihnen den Mund? Wie kamen die Beiden zum Lob aus der Tiefe? Sie wissen um ein Dreifaches:

1. Die Mitte der Nacht ist das Ende des Tages

Paulus und Silas schauen zurück. Man hat ihnen übel mitgespielt. Mit blutenden Köpfen und zerrissenen Kleidern machen sie einen erbärmlichen Eindruck. Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Bei aufgehender Sonne gingen sie wie immer zu dieser Zeit in die Gebetsstunde. Gebetszeiten sind für sie eine Selbstverständlichkeit. Wer auf die Augenblicke wartet, in denen er zum Beten Lust hat, wird nie beten lernen. Wir brauchen Ordnung und Regelmäßigkeit im Gebetsleben. Deshalb zogen sie in der Frühe los.

Aber beim Schönwetter blieb es nicht. Als sie unterwegs einer Besessenen den bösen Geist austrieben, war im wahrsten Sinne der Teufel los. Alle Bürger der Stadt tobten vor Wut. Wie ein Gewitter entlud sich der Volkszorn über diesen Betbrüdern. Dunkel wurde es, als man sie kurzerhand festnahm und unter dem Gejohle der Menge durch die Gassen zerrte. Hass und Gemeinheit war nicht mehr zu bremsen. Nacht wurde es, als man sie auf den Marktplatz stellte und einer entsetzlichen Lynchjustiz überließ. Recht und Gerechtigkeit war selbst für den herbeigekarrten Kadi nicht mehr durchzusetzen. Stockfinster wurde es, als man sie im Revier einbuchtete und in den Stock legen ließ. Schmerzende Glieder, blutende Wunden, klaffende Striemen, zum Heulen ist’s, aber sie loben. In der Rückschau sehen sie nämlich niemand außer ihren Herrn allein. Jesus wurde auch festgenommen und durch die Straßen gezerrt. Jesus wurde auch geprügelt und ungerecht behandelt. Jesus wurde auch eingesperrt und in Fesseln gelegt. Dieser Herr, der wirklich mitfühlen kann und ihre Lage kennt, hat sie durch dunkle Stunden hindurchbegleitet und dem schrecklichen Tag ein Ende gesetzt.

Es gibt keine Tage, und seien sie noch so voller Grausamkeiten und Entsetzlichkeiten, es gibt keine Tage, an denen er keinen Punkt setzt. Es gibt keine Stunden, und seien sie noch so voller Rätsel und Undurchdringlichkeiten, es gibt keine Stunden, an denen er nicht Schluss macht. Es gibt keine Augenblicke, und seien sie noch so voller Zweifel und Verzweiflungen, es gibt keine Augenblicke, die nicht mit einem Schlag aufhören. “Es muss ja alles kommen / zu seinem End und Ziel.” Deshalb konnte auch eine Marie Durand, die als Hugenottin jahrelang im Tour de Constance in Aigues-Mortes eingekerkert war, betend sagen: “À votre disposition, Seigneur!” “Ganz zu deiner Verfügung, Herr!” Und wenn ich geschlagen und gebeutelt werde: “À votre disposition, Seigneur.” Und wenn ich geschustert und gemaßregelt werde: “À votre disposition, Seigneur.” Und wenn ich gekränkt und geängstigt werde: “À votre disposition, Seigneur.” “Ganz zu deiner Verfügung, Herr.”

Es wird nicht ewig gestraft. Es wird nicht ewig gestäupt. Es wird nicht ewig gelitten. Es wird auch nicht ewig gestorben, aber es wird ewig gelobt werden. Die Mitte der Nacht ist das Ende des Tages.

Das ist das eine, was Paulus und Silas wissen, und das andere:

2. Die Mitte der Nacht ist die Wende des Tages

Paulus und Silas schauen sich um. Man ging in ihrem Fall auf Nummer sicher. Mit festgeschraubten Füßen haben sie keine Chance. Im fahlen Kerzenlicht wandern ihre Augen durch den engen, armseligen Raum: diese dicken, kalten Mauern, diese verriegelten, hölzernen Türen, diese unbarmherzigen, eisernen Gitter, diese harten, dreckigen Pritschen, diese wackligen, wurmstichigen Hocker, diese zerbeulten, rostigen Blechschüsseln. Man muss vielleicht Luise Rinsers Erzählung “Daniela” lesen, um einen Eindruck von der Trostlosigkeit im Zellentrakt zu bekommen. “Ich sterbe hier, ich sterbe hier!”, lässt sie eine Inhaftierte klagen.

Aber Paulus und Silas loben. In der Umschau sehen sie nämlich nichts außer ihrem Herrn allein. Jesus hat versprochen, dass wo zwei oder drei im Gebet zusammen sind, er auch dabei ist. Jesus hat zugesagt, dass wo Gefahr im Verzug ist, er die Schutzmacht übernimmt. Jesus hat verheißen, dass wo der Tod regieren will, er den Meister zeigen wird. Dieser Herr ist auch im Gefängnis Herr im Haus. Um richterliche Haftbefehle kehrt er sich nicht. Um polizeiliche Sicherungsmaßnahmen schert er sich nicht. Um verschärfte Haftbedingungen kümmert er sich nicht. Während des mitternächtlichen Lobgesangs fährt ein Erdstoß durchs Gemäuer, dass die Türen aus den Angeln und die Ketten aus den Halterungen springen. Die Wende ist da. Und sie wird immer wieder da sein, wenn sich Menschen lobend an Gott wenden.

Die Wende wird immer wieder da sein, wenn sich Menschen lobend an Gott wenden.

“Alle rechtschaffenen Knechte haben den Herrn nicht zuerst angerufen, sondern gelobt”, schreibt Martin Luther, “denn niemand wird vom Bösen dadurch befreit, dass er auf das Übel sieht, sondern dass er auf die Macht Gottes schaut. Versuche es nur und greife zum Lob Gottes, wenn dir nicht wohl zumute oder angst ist.” Denn seit dieser Herr nicht nur die Kerkertür von Philippi, sondern auch die Grabestür von Jerusalem aus den Angeln gehoben hat, gibt es gar keine Gefängnistür mehr, die er nicht auch sprengen könnte.

Die meisten Gefangenen, liebe Freunde, leben ja gar nicht in, sondern außerhalb der Haftanstalten. Da ist die schick eingerichtete Wohnung, in der man sich mit dem Ehepartner nur noch streitet, wie ein Gefängnis. Da ist der gut bezahlte Arbeitsplatz, an dem man sich nur noch mit Ellenbogen behaupten kann, wie ein Gefängnis. Da ist das blitzsaubere Krankenzimmer, in dem man seit Wochen liegen muss, wie ein Gefängnis. Da ist die sonnige Altenstube, in die einen die Kinder abgeschoben haben, wie ein Gefängnis. Aber es muss kein Gefängnis bleiben. Dem Lobenden springen Schloss und Riegel auf.

Ob es nicht doch der 126. Psalm war, den die beiden Arrestanten gesungen haben: “Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen, der Herr hat Großes an uns getan. Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.”

Die Mitte der Nacht ist die Wende des Tages. Das ist das Zweite, was Paulus und Silas wissen, und das Letzte:

3. Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages

Paulus und Silas schauen nach vorne. Man wird sie nicht springen lassen. Mit vorzeitiger Entlassung ist wohl nicht zu rechnen. Gleich werden die polternden Wachleute zur Stelle sein. In solchen Fällen sind sie nicht zimperlich. Es muss gutgehen, wenn nicht mit harten Knüppeln kurzer Prozess gemacht wird. Angstgeschrei geht durch den Bau, aber Paulus und Silas loben. In ihrer Vorschau sehen sie nämlich wieder nichts und niemanden außer ihrem Herrn allein. Jesus hält den Weg frei. Jesus lässt sich seine Befreiungsaktion nicht durchkreuzen. Jesus ist immer erst am Anfang, wenn wir am Ende sind.

Jesus ist immer erst am Anfang, wenn wir am Ende sind.

Dieser Herr tut Wunder, kleine und große. Das kleine Wunder ist, wenn Gefängnistüren aufgehen, das große aber, wenn sich Herzenstüren öffnen. Und das geschieht jetzt. Wir sehen den pflichtbewussten Kerkermeister kopflos durch die Gänge stürmen: lauter aufgesprungene Türen. Er muss den neuen Sachverhalt erst gar nicht in Augenschein nehmen. Als Mann vom Fach weiß er: Kein schräger Vogel wird bei solcher Gelegenheit im Käfig hockenbleiben. Auch wenn ihn, den treuen Staatsdiener, wegen höherer Gewalt keine direkte Schuld trifft, kostet ihn jede Gefangenenbefreiung den angesehenen Posten. Seine ganze Karriere ist dahin. Dem Selbstmord nahe steht er in der Zelle der Missionare. Im Fackellicht kennt er die Männer und er erkennt sich selbst. Nicht nur diese bedauernswerten Gestalten, sondern er selber ist verloren und bedarf eines Retters. Deshalb ruft er nicht: “Was sollen meine Gefangenen tun?” Der Gefängnisdirektor ruft völlig unerwartet: “Was soll ich tun, dass ich gerettet werde?” Messerscharf erkennt er den alles entscheidenden Punkt, und das ist das Wunder: Das Evangelium ist kein Leitfaden für Asoziale, an dem sie sich in eine ordentliche Gesellschaft hinüberhangeln können. Das Evangelium ist keine Erziehungsfibel für Gesetzesübertreter, um sie zu ordentlichen Staatsbürgern zu erziehen. Das Evangelium ist keine Handreichung für Vorbestrafte, die sie vor Rückfall bewahrt. Das Evangelium ist vielmehr das Rettungsseil, das Gott in den trüben Strom der Zeit hineingeworfen hat, um alle zu retten. Alle sollen erkennen, dass sie eines Retters bedürfen, wenn sie nicht rettungslos ihr Leben weitertreiben lassen wollen. Jesus ist der Retter. Glaube ihm! Fasse ihn! Halte ihn!

Doch, so einfach ist das. Er bietet sich an, wie damals in der Dienstwohnung des Kerkermeisters. Dort hat sich die ganze Familie versammelt. Zuerst werden Rücken behandelt und Striemen verbunden Dann findet eine Taufe statt. Anschließend wird der Tisch gedeckt und Kerzen angezündet. Brot und Kelch machen die Runde. Alle schmecken, wie freundlich der Herr ist. Durch die nicht mehr verschließbaren Türen schallt jetzt das Loblied erst recht: “Christ der Retter ist da.” Draußen dämmert ein neuer Morgen heran.

Doch, die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages. Paulus und Silas wissen das alles. Wissen Sie es auch? Gerade in der Mitte der Nacht gilt es: Nicht klagen sollst du - loben!

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]