Liebe Schwestern und Brüder,
Martin Scheuermann hat es erwähnt: Vor drei Jahren war der letzte normale Christustag. Dazwischen lagen sozusagen unnormale Christustage. Wenn wir auf diese letzten drei Jahre zurückblicken, sehen wir, dass sich unsere Welt sehr, sehr schnell weitergedreht hat.
Wir müssen heute, im Jahr 2016, sagen: Mehr Krise gab es selten. Die meisten von uns können sich wahrscheinlich an keine Zeit mit so vielen Krisen erinnern. Die Älteren vielleicht noch, die die Kriegstage des Zweiten Weltkriegs erlebt haben und die sehr karge, aufgewühlte Nachkriegszeit miterlebten. Sie erinnern sich noch an bewegte Tage. Doch diese Krisenzeit, in der wir uns jetzt befinden, mit ihren riesigen globalen Problemen, fordert uns besonders heraus.
Wir merken alle miteinander, dass unser alter Kontinent Europa, dieser 3000 Jahre alte Kulturkontinent, mittlerweile in einer großen Wendezeit steht. Wir stecken in Krisen, die wir so bisher nicht kannten. Und wir merken immer mehr: Es wird nicht mehr so werden, wie es einmal war.
Alle unsere Erwartungen, irgendwann wieder in den kuscheligen Geborgenheitsmodus europäischer Politik zurückzukehren, werden sich nicht erfüllen. Früher war die wichtigste Schlagzeile oft eine Tarifverhandlung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Diese Zeiten werden wir nicht mehr erleben.
Europa kann sich nicht mehr zurückziehen in ein kuscheliges Nest, in dem der Rest der Welt uns herzlich wenig interessiert. Wir stehen mittendrin in einer Welt, die sich auf den Weg gemacht hat. Eine Welt, in der 220 Millionen Menschen unterwegs sind – aus unterschiedlichsten Gründen von überall her nach überall hin.
Uns ist die Gemütlichkeit und Geborgenheit abhandengekommen.
In einer Welt, die sich ständig verändert, spüren wir etwas sehr Typisches: unsere sogenannte German Angst. Diese Eigenschaft wird uns Deutschen immer wieder zugeschrieben. Wir haben oft besonders schnell Angst und reagieren manchmal etwas hysterischer als andere.
Abgesehen davon, ob wir tatsächlich schneller Angst empfinden als andere, ist die Angst selbst ein unangenehmes Gefühl. Wenn sie da ist, fühlen wir uns fremd und ungeborgen. Es gibt Zustände, die für uns nur schwer zu ertragen sind – sei es im großen, politischen, globalen Rahmen oder in unserem privaten, persönlichen Leben.
Wenn man Angst hat, fühlt man sich ungeschützt. Das ist schwer auszuhalten. Dann kommen Fluchtgedanken auf: Wie komme ich hier wieder raus? Wie kann ich von diesem Zustand wegkommen? Wie kann ich diese Situation möglichst schnell hinter mir lassen?
Solche Gedanken tauchen in persönlichen Krisen auf, etwa bei gesundheitlichen Problemen, Beziehungsproblemen oder wenn uns finanzielle Schwierigkeiten treffen. Genauso verhält es sich bei den großen politischen Krisen, die momentan weltweit auf uns einstürmen.
Unser Bibeltext heute Morgen spricht genau in eine solche Krisensituation hinein. Als der Prophet Jeremia seinen Sendbrief an die verschleppten Juden in Babylon schrieb, befand sich dieses Volk in der größten Krise seiner damaligen Existenz – das ist nicht übertrieben, es war die schwerste Krise in seiner bisherigen Geschichte.
In diese Krise hinein spricht der Brief, den Jeremia im Auftrag Gottes verfasste, und den wir jetzt gemeinsam lesen. Ich habe den Text auch schriftlich vorliegen. Mal sehen, ob alles funktioniert.
Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem an den Rest der Ältesten sandte, die weggeführt worden waren, an die Priester und Propheten sowie an das ganze Volk, das Nebukadnezar, König von Babylon, von Jerusalem nach Babel verschleppt hatte.
Wir überspringen einige Einleitungsverse. Dann heißt es in Vers 4: So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin. Pflanzt Gärten und esst ihre Früchte. Nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter. Nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären. Mehrt euch dort, damit ihr nicht weniger werdet.
Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn. Denn wenn es ihr wohlgeht, so geht es auch euch wohl.
Weiter heißt es: So spricht der Herr: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, will ich euch heimsuchen und mein gnädiges Wort an euch erfüllen, sodass ich euch wieder an diesen Ort bringe.
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch Zukunft und Hoffnung gebe.
Ihr werdet mich anrufen, hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden, denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.
Ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstossen habe, spricht der Herr, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.
Was war denn genau passiert? Der babylonische König Nebukadnezar hatte einen Teil des jüdischen Volkes nach Babylon deportieren lassen. Das war in der antiken Welt üblich. Herrscher gingen bei aufmüpfigen Völkern so vor: Beim ersten Mal gab es eine Strafe, beim zweiten Mal eine härtere, und beim dritten Mal wurden die Menschen verschleppt. Sie wurden exiliert, mit Mann und Maus irgendwohin gebracht, damit sie nicht mehr aufbegehrten.
Babylon war für die Juden nicht nur ein fremdes, feindliches und heidnisches Land. Für sie war es ein unreines Land. Ein Land, in dem Gott, der Gott Israels, an den sie seit den Zeiten ihrer Väter glaubten und den sie verehrten, nicht sein konnte. Gott war dort fern, weit weg. Jeder Jude dachte: Hier ist Gott nicht, und hier soll ich leben? Hier kann ich nicht leben, wenn Gott nicht da ist.
Der alttestamentliche Glaube war von einem ganz bestimmten Denken geprägt. Der Jerusalemer Tempel war der heiligste Ort auf Erden. Dieser Tempel war sozusagen das Wohnzimmer Gottes, und dort konnte man Gott begegnen. Es war der heiligste Ort. Die Heiligkeit nahm in konzentrischen Kreisen ab – für Schwaben wie eine Zwiebel, bei der die Zwiebelschalen nach außen hin dünner werden.
Das Allerheiligste war der Ort der größten Heiligkeit. Dann kamen die verschiedenen Tempelvorhöfe. Je weiter man nach außen ging, desto weniger wurde die Heiligkeit. An den Grenzen des Landes Israel verlor sich diese Heiligkeit. Jenseits der Grenzen Israels gab es kein heiliges Land mehr.
Dort konnte man Gott nicht begegnen – das war der Glaube. Und in Babylon, so glaubten die Juden jedenfalls, konnte man Gott nicht begegnen. Dort waren sie fern von Gott. Dort konnte man kein heiles, kein friedvolles Leben führen. Dort konnte man eigentlich gar nicht leben. Deshalb musste man weg.
Abgesehen von der äußeren Not, dem Hunger und der Feindschaft der Babylonier konnte man hier nicht leben, weil Gott nicht da war. Es war alles zum Davonlaufen. Mehr Krise gab es nie.
In diese Situation hinein schreibt Jeremia im Auftrag Gottes diesen Brief. Der Grundton dieses Briefes ist ein seelsorgerlicher Rat.
Ich habe versucht, diesen Rat in drei Punkte zusammenzufassen.
Der erste Ratschlag: Nimm an, was du nicht ändern kannst.
Jeremia macht seinen Adressaten in Babylon in diesem Brief deutlich, dass sie siebzig Jahre in Babylon bleiben werden – siebzig Jahre. An eine rasche Heimkehr ist nicht zu denken, an eine schnelle Veränderung der Verhältnisse überhaupt nicht. Das bedeutete, dass fast alle in Babylon auch sterben würden. Sie würden dieses Exil nicht überleben und vorher irgendwie heimkehren. Diese Situation würde sich für die Juden, die jetzt dort sind, nicht mehr ändern.
Alle Fluchtgedanken, alles Heimweh und alle Hoffnungen auf ein schnelles Ende mussten sie sich abschminken. Jeremia sagt: Etabliert euch dort, wo ihr seid. Baut Häuser, nehmt euch Frauen, zeugt Söhne und Töchter, führt ein ganz normales Leben in Babylon. Richtet euch ein, macht es zu eurem Zuhause, macht Babylon zu eurer Heimat. Bleibt nicht auf den Koffern sitzen, richtet euch ein!
Die Grundaufgabe ihres Lebens war es jetzt, das anzunehmen, was sie nicht mehr ändern konnten und was sich nicht mehr ändern würde. Die Grundaufgabe war es, diese Lebenssituation als eine Berufung Gottes anzunehmen. Und zu begreifen, dass auch hier, in dieser dramatischen Lebensführung, eine geheime Pädagogik Gottes stattfindet. Ein geheimer Erziehungswille Gottes ist am Wirken, der auch mit ihnen ist, da wo sie dachten, Gott sei gar nicht da oder könne nicht da sein. Gott ist da und er geht einen Weg der Berufung mit diesem Volk – selbst am unmöglichsten Ort.
Das heißt, dass diese fürchterliche Situation Gottes Hand überhaupt nicht entzogen ist. Das, was die Juden in Babylon erlebten, war kein Fatum eines blinden Schicksals, keine willkürliche Laune eines unberechenbaren Gottes, sondern die vom Gedanken des Friedens, vom Schalom geprägte Führung Gottes. Er möchte seinem Volk Zukunft und Hoffnung geben – gerade dort, an diesem unmöglichen Ort Babylon, wo man das Leben als völlig unmöglich empfand.
Es gibt viele Christen – und ich sage es ganz offen, ich gehöre auch dazu – die nicht glücklich sind mit den politischen Entwicklungen in unserem Land in den letzten Jahren, die dieses Land durchgemacht hat und durchmacht. Ich bin nicht glücklich mit der zunehmenden Missachtung von Ehe und Familie in unserem Land. Bin ich glücklich über die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Ungeborenen, Neugeborenen und gegenüber dem jung heranwachsenden Leben? Bin ich glücklich, dass wir dieses Geheimnis des Lebens im Wahnsinn einer Genderideologie missachten? Denn das Geheimnis des Lebens besteht nicht im Gleichmachen von Mann und Frau, sondern gerade in der Unterschiedlichkeit von Mann und Frau.
Ich bin nicht glücklich, dass wir es in unserem Land nicht schaffen, christliche Flüchtlinge vor Verfolgung und Gewalt zu schützen. Ich finde das einen Skandal. Ich bin nicht glücklich über die religiöse Inkompetenz von Politik und Gesellschaft. Wir reden von Toleranz und meinen damit, dass religiöse Äußerungen doch bitteschön in der Privatsphäre bleiben sollen – in abgeschlossenen Räumen, am besten in Kirchenräumen oder sogar noch in der Privatstube.
Die Wahrheit ist aber, dass eine freie und offene Gesellschaft eine aktive religiöse Mission braucht, damit sie frei und offen bleiben kann. Ohne aktive Mission kann eine Gesellschaft nicht frei und offen bleiben. Die heute so penetrant und militant gepredigte politische Korrektheit unterbindet gerade Freiheit und Offenheit, indem sie schon vorher festlegt, was man Menschen zumuten darf und was nicht.
Die missionarische Verkündigung erweitert die Freiheit des Menschen, indem sie ihm die Möglichkeit eröffnet, auch anders zu glauben, anders zu denken und anders zu leben. Ob ein Mensch diese Möglichkeit annimmt oder nicht, das ist seine Sache, seine ganz freie Entscheidung. Aber wenn man ihm diese Möglichkeit gar nicht eröffnet, dann untergräbt das die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums.
Diese modernen Gesinnungspolizisten, die das religiöse Zeugnis – ich formuliere das mal ganz bewusst sehr weit, und das gilt natürlich für alle Religionen – die das religiöse Zeugnis als etwas Gefährliches kriminalisieren wollen, untergraben gerade eine freiheitliche und offene Gesellschaft. Anders formuliert will ich es kurz auf den Punkt bringen: Eine freie und offene Gesellschaft braucht missionarische Christen, wenn sie frei und offen sein will.
Ich könnte noch vieles andere aufzählen, und Sie könnten auch noch vieles andere aufzählen, was uns Mühe macht. Aber das eine will ich vor allem sagen: Dieser Brief Jeremias an die Juden in Babylon ist auch an uns geschrieben. Gott lässt uns ausrichten: Zieh dich nicht zurück in das Schneckenhaus deiner Angst und Frustration. Zieh dich nicht zurück aus dem öffentlichen Leben, das dir gerade überhaupt keinen Spaß mehr macht.
Sieh dich nicht zurück vor der bösen Welt, sondern nimm an, was zunächst einmal so ist, wie es ist. Akzeptiere die Tatsachen, schließe Frieden mit der Situation. Es ist doch auch im Raum des Politischen nicht anders als in unserem persönlichen Leben. Wenn Krisen kommen – eine gesundheitliche Krise, eine familiäre Krise, eine Ehekrise, eine wirtschaftliche Krise – dann werde ich nur weiterkommen, wenn ich erst einmal die Tatsachen annehme, wie sie sind.
Wenn wir uns der Krankheit, der Ehekrise oder der finanziellen Situation nicht stellen, sie nicht offen und ehrlich ansprechen und thematisieren, wenn wir sie nicht wahrnehmen wollen, dann werden wir diese Dinge nicht lösen können. Dann werden wir nicht weiterkommen. Erst wenn wir unsere momentane Lebenssituation, die wir nicht einfach beliebig ändern können, als eine Berufung Gottes entdecken, können wir in ihr auf einmal einen Sinn entdecken.
Wenn wir aber einen Sinn in ihr entdecken können, dann können wir auch Frieden mit ihr schließen und sie annehmen – nicht im Sinne einer kritiklosen Akzeptanz, nicht im Sinne von „Alles ist gut“. Nein, sondern als eine Aufgabe für unser Leben und unser Handeln, einen Auftrag, als eine Berufung für uns als Gemeinde.
Nur wer sich und seine Lebenssituation mit allen Schwierigkeiten annimmt, kann sich mit sich selbst und mit diesem Leben, wie es ist, versöhnen. Und nur wer sich mit sich selbst versöhnt hat, kann sich versöhnen mit seinen Eltern, mit seiner Schule, mit seiner Arbeit, auch mit dem Land, in dem er lebt, und mit der politischen Situation dieses Landes und eines ganzen Kontinents.
Menschen, die sich mit sich selbst und ihrer Situation, auch der politischen Situation, nicht versöhnen, benehmen sich in aller Regel auch unversöhnlich. Unversöhnlichkeit führt aber nie in die Zukunft. Der Schlüssel für die Zukunft ist immer die Versöhnung mit sich selbst und mit all den Lebensumständen, in denen wir stecken.
Wir verriegeln uns und anderen das Leben, wenn wir die Dinge nicht annehmen, die wir zunächst einmal nicht ändern können. Und es gibt so vieles, was wir nicht auf die Schnelle ändern können, und manches, was wir vielleicht gar nicht ändern können.
Wenn unsere Studierenden in Liebenzell mit dem Studium fertig sind, fragen wir sie, was sie sich beruflich vorstellen könnten. Wenn sie eine Offenheit für die Weltmission haben, fragen wir sie, wo es denn hingehen könnte. Dann fragen wir, was sie sich vorstellen können und was nicht.
Wir fragen sozusagen auf gut Neudeutsch nach den sogenannten No-Go-Areas. Sie kennen das aus manchen Stadtvierteln von Großstädten, wo es No-Go-Areas gibt, in die man nach Einbruch der Dunkelheit oder vielleicht auch schon vorher besser nicht gehen sollte, wenn man heilbleiben möchte.
So fragen wir auch unsere Studierenden: Was wäre für dich eine No-Go-Area? Dann sagen sie zum Beispiel: Japan mit dem Fisch geht gar nicht, Afrika ist viel zu heiß, Bangladesch viel zu voll und so weiter.
Wenn wir diesen Brief von Jeremia nehmen, dann hat Gott sein Volk in eine No-Go-Area geschickt. In ein Land, in eine Stadt, in eine Region, wo man sich überhaupt nicht vorstellen konnte hinzugehen. Wo die Juden sagten: Das geht gar nicht. Aber genau an diesem Ort, dieser No-Go-Area, hat Gott seine Heilsgeschichte vorbereitet.
Nach siebzig Jahren war diese Gefangenschaft vorüber. Schon vorher durften Juden wieder zurück ins Land Israel, aber viele gingen überhaupt nicht zurück. Die allermeisten blieben in Babylon wohnen und wuchsen dort zu einer großen jüdischen Diaspora über die kommenden Jahrhunderte hinweg.
Vom babylonischen Exil an gingen viele Juden ganz freiwillig in die gesamte damalige antike Welt hinein. Sie siedelten von Spanien über Italien und Griechenland bis nach Nordafrika – diesen gesamten Bereich. Die Mehrzahl der Juden zur Zeit Jesu lebte gar nicht in Israel, sondern in diesem riesigen hellenistisch-römischen Weltreich.
Es waren die Juden in Babylon, die zwangsweise in eine No-Go-Area verschleppt worden waren, die zum Anfang des Diaspora-Judentums wurden. Und dieses Diaspora-Judentum war später der Träger der frühchristlichen Mission. Es waren die Diaspora-Juden-Christen, die das Evangelium in die Welt hinausgetragen haben.
Das ist Gottes Geschichte. Diese Juden in Babylon, die in diese No-Go-Area verschleppt worden sind, wurden zu einem Teil seiner Geschichte – was sie noch nicht wussten, was sie noch nicht wollten und was sie noch nicht sehen konnten.
Fünfhundert Jahre später wurden ihre Nachkommen zu Trägern des Evangeliums von Jesus Christus, die dieses Evangelium in der gesamten damaligen Welt verbreitet haben. Ohne die Nachkommen dieses Diaspora-Judentums wäre die frühchristliche Mission so nicht denkbar gewesen.
Und genau das ist die Erfahrung vieler unserer Studierenden, die dann manchmal in so eine No-Go-Area gehen. Jahre später sagen sie: „Mensch, ihr habt mich da nach Bangladesch geschickt, das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Gott hat es gut gemacht, er hat gesegnet. Mein Dienst am Anfang war schwer, aber hier ist das Evangelium gewachsen und ich bin mit dem Evangelium gewachsen. Gott hat gesegnet.“
Nimm an, was du nicht ändern kannst. Nimm an, was du nicht ändern kannst.
Der erste Schritt zum Frieden ist die Annahme unserer Lebenssituation – auch unserer politischen Situation. Ja, man darf schimpfen, man darf klagen, meckern und murren, aber man darf nicht stehenbleiben. Sonst kommen wir nicht zum zweiten Schritt.
Verändere, was du ändern kannst, verändere, was du ändern kannst. Dieser Brief steckt voller Überraschungen. Jeremia schreibt den Juden im Exil nicht nur, dass sie dort 70 Jahre lang irgendwie aushalten, die Zähne zusammenbeißen und sich einmummeln sollen. Er fordert sie vielmehr auf, dieses Weltreich Babylon, die größte Macht der damaligen Zeit, mitzugestalten.
Da steht der bekannte Vers: „Suchet der Stadt Bestes.“ Mit „Stadt“ ist Babylon gemeint. „Da habe ich euch wegführen lassen, das ist eure No-go-Area. Sucht das Beste dieser No-go-Area und betet für sie zum Herrn, denn wenn es ihr wohl geht, so geht es auch euch wohl.“
Das griechische Wort für Stadt heißt Polis. Von diesem Wort leitet sich unser deutsches Wort Politik ab. Man könnte diesen Vers deshalb übertragen mit: „Suchet die beste Politik für Babylon.“ Das heißt: Forscht nach der besten Politik für Babylon. Setzt euch an einen Tisch mit den heidnischen Behörden, die euch hierhergebracht haben. Sucht eine Dialogplattform mit euren Feinden. Macht mit ihnen eine sinnvolle Politik.
Können Sie sich die Reaktionen der Juden vorstellen, die beim Verlesen dieses Briefes dachten, sie seien im falschen Film? Wie bitte, Politik für Babylon, für den Erzfeind? Für die Heiden, für die Götzendiener? Sich mit denen an einen Tisch zu setzen? Die sind ja auch unrein. Wenn ich denen die Hand gebe, werde ich ja auch unrein. Geht’s noch? Mit denen politische Kompromisse aushandeln? Das war auch eine theologische No-go-Area. Da machte man sich nicht nur die Hände schmutzig, sondern auch die Seele. Da musste man Kompromisse mit Heiden schließen.
Aber Gott meint es ernst, ja. Genau so macht er es. Er schickt sein Volk in politische Gremien, in politische Prozesse, in das Machtgerangel, in Debatten, in das Ringen um Kompromisse und Lösungen. „Suchet der Stadt Bestes“, denn wenn es der Stadt, dem Kreis, dem Land, dem Staat wohlgeht, dann geht es auch euch wohl. Wenn es Europa gut geht, dann geht es auch uns gut.
In diesem Brief findet eine Rehabilitierung der Politik statt. Nicht im Sinne, dass die Politik dieser Welt immer nach Gottes Willen wäre, aber im Sinne, dass Politik immer ein Raum ist, in dem es Christen gut ansteht, sich zu engagieren – wenigstens als Beter.
Das Gebet für die Obrigkeit war übrigens in allen antiken Religionen selbstverständlich, nicht nur in der christlichen Gemeinde. Alle antiken Religionen beteten zu ihren Göttern für das Wohl der Obrigkeit, aus dem Wissen heraus: Wenn der Obrigkeit Weisheit geschenkt wird, dann geht es uns gut.
Deshalb wird im Neuen Testament auch immer wieder zum Gebet für den Kaiser und die Obrigkeit aufgefordert, sogar im ersten Petrusbrief. In keinem Brief kommt das Wort „Leiden“ so oft vor wie im ersten Petrusbrief. Dort leidet die Gemeinde unter der Obrigkeit – und trotzdem wird zum Gebet für den Kaiser aufgerufen.
Es gibt keine Alternative zum Gebet für die Obrigkeit, zum Gebet für Regenten und Regierungen. Wie oft schimpfen wir über Politiker, und wie oft beten wir für sie? Wenn wir Politiker nur schlechtmachen und nicht für sie beten, wie soll es uns dann gut gehen?
Meine Tochter war fünf Monate in den USA, in der Schule, und war zu Hause bei einer sehr reizenden christlichen Gastfamilie. Wenn abends im Fernsehen die Nachrichten kamen und Präsident Obama erschien, machten sie den Fernseher aus. Wenn wir Politiker verachten, mit denen wir nicht einverstanden sind, werden wir keine besseren bekommen. In Amerika muss man das vielleicht schneller lernen, als man denkt.
Aber es geht in diesem Brief Jeremias nicht nur um Politik. Es geht im Grunde um eine positive Mitgestaltung der ganzen Gesellschaft auf allen Ebenen: in der Politik, in den Kommunen, in der Wirtschaft, im kulturellen und sportlichen Geschehen.
Der VfB bräuchte einen guten Präsidenten. Es wäre toll, wenn sich mal ein Christ dort engagieren würde – vielleicht kriegt er das noch besser hin. (Klammer zu.) Das gehört alles zur Polis, das gehört alles zur Stadt.
Betet für die Politik. Wenn es dem Staat, dem Land und der Stadt gut geht, wenn es Ihrer politischen Gemeinde gut geht, dann geht es uns gut. Betet für die Schulen Ihrer Kinder. Wenn es der Schule gut geht, geht es Ihren Kindern gut.
Betet für die Medienmacher in unserem Land. Wenn Wahrhaftigkeit in Presse und Medien einzieht, ist das ein Segen für ein Land. Wenn die Lüge regiert, ist es ein Fluch für ein Land.
Und wenn Ihnen Gaben und Zeit geschenkt sind, dann engagieren Sie sich in diesen Institutionen. Machen Sie ihnen Mut, engagieren Sie sich, wenn Sie es sich leisten können, wenn Sie es irgendwie schaffen.
Suchen Sie das Beste Ihrer Stadt und ziehen Sie sich nicht zurück. Wenn wir die schwierigen Dinge erst einmal angenommen haben, können wir sie auch verändern. Dann werden wir immer mehr entdecken, was wir alles ändern und mitgestalten können.
Verändere, was du ändern kannst. Und drittens und letztens...
Finde den Gott, der verändert, indem er annimmt. Was Gott durch seinen Propheten und in diesem Brief seinem Volk sagen lässt, ist im Grunde ein Ausdruck seines Wesens.
Gott hat es mit dieser Welt überhaupt nicht anders gemacht, als er es mit den Juden in Babylon getan hat. Denn diese Welt ist für Gott ebenfalls zu einer fremden Welt geworden. Sie ist nicht mehr seine Welt, sondern eine Welt, die durch die Sünde nicht mehr sein Zuhause ist. Es ist eine Welt, die zum Feind Gottes geworden ist. Man könnte sagen: Diese Welt ist für Gott zu einer No-go-Area geworden.
Was habe ich mit dieser Welt zu tun, die in ihrer Sünde so verkrümmt und verbogen ist? Doch mitten in dieser verbogenen, verkrümmten No-go-Area dieser Welt schickt Gott seinen Sohn. Dieser Sohn erklärt uns auf verblüffende Weise die Liebe Gottes zu dieser ihm feindlich gegenüberstehenden Welt.
Gott hat die Welt geliebt – diese ihm feindlich gegenüberstehende Welt. Er hat sie so geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für diese No-go-Area gab. In Jesus hat Gott diese Welt angenommen, in all ihrer Feindschaft und Fremdheit.
Paulus schreibt, dass die theologische Sensation ist: Gott war in Christus und hat die Welt mit sich versöhnt. Durch seinen Apostel, wie Paulus erklärt, fordert er dann auf: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.
Gott verändert, indem er annimmt. Gott verändert, indem er umarmt – aber nicht kritiklos. Nicht einfach: Ich bin okay, du bist okay, wir sind okay. Nein, sondern indem er sich versöhnend einem Menschen auf dieser Welt zuwendet, so verändert Gott Menschen.
Das Annehmen und Erleiden des Fremden, ja sogar des Feindlichen, ist die Grundlage und Voraussetzung der Veränderung. „Gott wurde arm für uns, damit wir durch seine Armut reich würden“, schreibt Paulus.
Gerade am Kreuz von Golgatha, mit seinem ganzen Grauen und Schrecken, sehen wir, dass Gott Gedanken des Friedens und nicht des Leides über unserem Leben und über dieser Welt hat. Dort kann ich lernen, dass Gott durch erschreckende Wege hindurch Zukunft und Hoffnung schafft.
Ich weiß nicht, mit welchen Lebenssituationen Sie heute hierher gekommen sind, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit welchen Ängsten und Traurigkeiten Sie zu ringen haben, vor welchen No-go-Areas Sie gerade stehen, wo Sie sagen: Da will ich nicht hin, da kann ich nicht hin, und da kann ich auch gar nicht bleiben.
Ich weiß nicht, wovor Sie gerade am allerliebsten weglaufen würden. Aber ich weiß, dass Gott diesen Brief für uns geschrieben hat – für Sie und für mich. Gott hat Gedanken des Friedens und nicht des Leides über Ihrem und unserem Leben.
Er will auch Ihnen und auch mir Hoffnung und Zukunft schenken. Und er wird sich von dir und mir finden lassen – in den unmöglichsten Lebensumständen, an den unmöglichsten Orten und in den schwierigsten Situationen, weil Gott Zukunft will. Für mich, für unser Land.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören. Amen.