Im schönen Thüringer Land, dem Heimatland unserer jungen, singenden Gäste, liegt das schmucke Städtchen Schmalkalden. Vor einiger Zeit konnte ich es besuchen und die alte Stadtkirche besichtigen. Dort hatten sich im Jahre 1537 die protestantischen Fürsten versammelt, um eine gemeinsame Linie für die bevorstehende Kirchenversammlung in Mantua zu finden. Auch Martin Luther war angereist und hatte auf Bitten des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich ein Thesenpapier vorbereitet, die sogenannten Schmalkaldischen Artikel, die als gemeinsames Glaubensbekenntnis diskutiert werden sollten. Leider wurde Luther krank und konnte nur vom angrenzenden Turmzimmer aus die Gespräche verfolgen. Als der erste Redner die Kanzel bestieg, soll er vom Krankenlager aus hinübergerufen haben: "Machs Maul auf, sag's grad raus, hör schnell auf." Sicher ein unechtes Lutherzitat, aber für jeden Prediger beherzigenswert. Am Schluss dieser Kirchenversammlung gab es kein einmütiges Votum für die schmalkaldischen Artikel, trotzdem haben sie weite Verbreitung und steigendes Ansehen gefunden. Und darin heißt es zum Artikel Kirche: "Das weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist." Im 16. Jahrhundert war das also klar: "Das weiß ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist."
Ob das nach 450 Jahren heute auch noch so klar ist: "Das weiß ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist"? Ein Siebenjähriger weiß, was die Stiftskirche ist, der große Bau' zwischen Königstraße und Schillerplatz, zwischen Hertie und Breuninger. Aber das ist nur ein Kirchenbau, nicht die Kirche. Ein Siebzehnjähriger weiß, was der Oberkirchenrat ist, der Arbeitsplatz für Beamte und Angestellte auf der Gänsheide. Aber das ist nur eine Kirchenverwaltung, nicht die Kirche. Ein Siebenundzwanzigjähriger weiß, was die Synode ist, das Wahlgremium für den neuen Bischof im Hospitalhof. Aber das ist nur ein Kirchenparlament, nicht die Kirche. Ein Siebenunddreißigjähriger weiß, was das Fähnlein der letzten Aufrechten ist, das sich noch sonntags im Gottesdienst trifft und das Lied anstimmt: "Liebster Jesu wir sind vier." Aber das ist eine Karikatur der Kirche, nicht die Kirche.
Der siebenundfünzigjährige Paulus weiß es besser. In seinem Brief an die Korinther gibt er es schriftlich. Jeder soll es wissen: Die Kirche ist ein Bau. Damit wir aber nicht gleich an den Königsbau oder den Wilhelmsbau oder Friedrichsbau denken, fügt er hinzu, dass es ein geistlicher Bau sei. Architekten haben ihn nicht konzipiert. Bauleute haben ihn nicht hochgezogen. Handwerker haben ihn nicht ausgebaut. Gott selber hat sich die Hände schmutzig gemacht und einen Bau erstellt, der sich mit keinem andern Bauwerk dieser Erde messen lässt. Die Kirche ist ein Bau.
Damit wird nicht weiterhin an ein Kirchengebäude oder an eine Kirchenverwaltung oder an ein Kirchenparlament denken, fügt er hinzu, dass es ein Menschenbau ist, genauer die Erbauung von Menschen. Wenn wir tot sind, ist die Kirche tot, und wenn wir lebendig sind, ist die Kirche lebendig. Die Kirche ist ein Bau. Damit wir nicht immerfort mit Steinen auf andere werfen, fügt er hinzu, dass wir uns als lebendige Steine zur Verfügung stellen sollen. Genau das meint auch Luther, wenn er in den schmalkaldischen Artikeln fortfährt: "Kirche sind die Gläubigen und die Schäflein, die ihres Herrn Stimme hören." Die Kirche ist ein Bau. Dabei fallen drei Baumerkmale auf, die bis zum heutigen Tag baubestimmend sind, nämlich der Grundstein, der Grundriss und der Grundbau.
1. Der Grundstein
Reisen Sie mit mir nach Jerusalem. Vom Ölberg aus geht unser Blick hinüber zum Tempel. Der Apostel erweist sich als kundiger Reiseführer und erklärt: Diesen gewaltigen Bau hätte man auch auf einer Sandbank und einer Geröllhalde erstellen können, nur wäre er dann keine 50 Jahre alt geworden. Die Bauleute suchten deshalb nach einem tragfähigen Fundament und stießen dabei auf einen gewaltigen Brocken. "Der taugt bestimmt nicht!", urteilten die Fachleute und ließen ihn mit dem Bauschutt abfahren. An der Südostecke wurde der sperrige Koloss kurzerhand abgekippt. Aber genau dort blieb das über 10O-Tonnen-Ding nicht nutzlos liegen, sondern wurde überraschenderweise zum Grundstein des mächtigen Tempels. Heute noch ist er in der 28. Steinlage zu erkennen. Er bildet den Grund. Er setzt das Maß. Er ist gleichsam strukturbestimmend.
Der Tempel Gottes ruht auf einem Stein, und das ist beim Bau Gottes nicht anders. Sicher hätte man ihn auch auf Sandbänken kluger Gedanken oder auf Geröllhalden frommer Gefühle erstellen können, nur wäre er dann längst vom Erdboden verschwunden. Die Apostel suchten deshalb nach einem tragfähigen Fundament und stießen dabei auf den, der gewaltig predigte und lehrte und heilte. "Der taugt bestimmt nicht!", urteilten die religiösen Fachleute und ließen ihn mit zwei Verbrechern kalt abfahren. Auf der Müllkippe Jerusalems, draußen auf Golgatha, wurde er um die Ecke gebracht. Aber genau dort blieb dieser Jesus nicht hängen, sondern wurde von Gott überraschenderweise zum Grundstein des mächtigen Baus gemacht. Heute noch ist er in jeder Lage zu erkennen. Er bildet den Grund, auch wenn immer wieder andere Gründe genannt werden. Der Schwärmer Thomas Münzer sprach vom inneren Licht. Der Philosoph Immanuel Kant sprach vom kategorischen Imperativ. Der Anthroposoph Rudolf Steiner sprach vom reinkarnierten Menschen. Heute sprechen sie vom prophetischen Wort, vom pfingstlichen Geist, von der neuen Vision, aber Jesus, nur Jesus bildet den Grund.
Und er setzt das Maß, auch wenn immer wieder andere Maße gesetzt werden. Im 16. Jahrhundert wurde die Kirche an der Macht bemessen. Im 18. Jahrhundert wurde sie an der Vernunft gemessen. Heute wird sie an Frieden, Gerechtigkeit und bewahrter Schöpfung gemessen. Aber wir vermessen uns, wenn wir nicht beim Maß Jesu bleiben, nämlich bei der unermesslichen Barmherzigkeit Gottes im Tod seines Sohnes am Kreuz. Jesus, nur Jesus setzt das Maß. Und er ist strukturbestimmend, auch wenn immer wieder andere Strukturen bestimmen wollen: die Vereinsstruktur oder die Gesellschaftssatzung oder das Initiativstatut. Aber Kirche ist kein frommer Verein, keine geschlossene Gesellschaft, keine Bürgerinitiative zur Erhaltung frommer Fassaden. Jesus und nur Jesus ist strukturbestimmend. Er trägt alles, er hält alles, er bestimmt alles. Einen andern Grundstein kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
2. Der Grundriss
Bleiben Sie mit mir in Jerusalem. Vom Ölberg aus geht unser Blick immer noch hinüber zum Tempel. Der Apostel als kundiger Reiseführer fährt in seiner Erklärung fort: Diesen gewaltigen Bau hätte man auch kleiner erstellen können, aber dann wäre es nur eine Kapelle für Superfromme geworden. Nun aber war der Grundriss so großräumig ausgelegt, dass es viele Steine brauchte, um solchen Raum für die Gottesdienste zu schaffen. Schauen Sie sich diese Bausteine an. Irgendwo lagen sie in der Gegend herum, ohne Wert, ohne Funktion, wahrscheinlich sogar ein Hindernis. Und dann kam einer, hat diese Nichtse eingeladen, sie liebevoll behauen und gerichtet, sie verständnisvoll eingefügt und eingepasst, sie als Bausteine wertvoll gemacht. Jeder hat seine Funktion. Der dort gehört zur Umfassungsmauer und schützt den Platz. Wenn er fehlen würde, hätte die Mauer ein Loch. Und der gehört zu den Stufen und bildet die Treppe. Wenn der fehlen würde, könnte niemand auf die Empore steigen. Und der gehört zum Pfeiler und trägt die Dachlast. Wenn der fehlen würde, bräche das ganze Gewölbe zusammen. Jeder noch so kleine Stein hat seine große Bedeutung. Im Verbund miteinander wird er vom andern getragen und trägt andere.
Der Tempel Gottes besteht aus vielen Steinen, und das ist beim Bau Gottes nicht anders. Sein Grundriss ist so großräumig ausgelegt, dass es viele lebendige Steine braucht, um solchen Bau zu schaffen. Man muss sich das einmal wieder vergegenwärtigen. Irgendwo hängen sie in der Gegend herum, ohne Wert, ohne Funktion, oft genug ein Hindernis für andere. Der Mensch allein ist nahezu ein Nichts. Und dann kommt einer, der dieses Nichts einlädt, ihn liebevoll von Sünde reinigt und befreit, ihn verständnisvoll in seinen Bau einfügt und einpasst, ja ihn als lebendigen Stein wertvoll macht. Jeder hat seine Funktion. Dieser Bub gehört zum CIS und singt Sopran. Wenn der fehlen würde, gäbe es einen ganz miesen Gesang. Dieser Mann gehört zum Gemeindedienst und trägt die Blätter aus. Wenn der fehlen würde, bräche der Kontakt in die Häuser ab. Diese Frau gehört zur Nachbarschaftshilfe. Wenn die fehlen würde, wäre die Einsamkeit noch größer in der Stadt. Jeder noch so kleine Mensch hat seine ganz große Bedeutung. Vielleicht fühlen Sie sich gegenwärtig unter Wert verkauft. Vielleicht bedrückt Sie Ihre bescheidene Rolle im Geschäft. Vielleicht bedrängt Sie Ihr nutzloses Dasein im Heim. Vielleicht leiden Sie daran, dass man in Zeiten der Rezession 20 oder 25 total übrig ist: kein Studienplatz, kein Ausbildungsplatz, kein Arbeitsplatz. Hören Sie, bei Gott sind Sie nie übrig. Bei Gott sind Sie nie nutzlos. Bei Gott sind Sie nie unter Wert verkauft. Er will Sie in seinen Bau mit dem großen Grundriss einfügen. Ohne Sie hat seine Gemeinde ein Loch. Und dort werden Sie merken, dass Sie von andern getragen werden und Sie die Kraft bekommen, andere zu tragen und zu ertragen. Einen andern Grundriss kann niemand legen, als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
3. Der Grundbau
Bevor wir von Jerusalem wieder abreisen noch ein letzter Blick hinüber zum Tempel: Der Apostel als kundiger Reiseführer schließt seine Erklärung mit einem interessanten Hinweis ab. Dieser gewaltige Bau hätte mit seinen späteren Anbauten auch andern Zwecken dienen können. So verwechselten es die einen mit einer Kaufhalle, wo sie Obst, Gemüse und Federvieh feilboten und ihren Gewinn machten. So verwechselten es die andern mit einer Kunsthalle, wo sie Säulen, Leuchten und Räucherbecken bestaunten und ihr Interesse befriedigten. So verwechselten es die dritten mit einer Liederhalle, wo sie Sänger, Chöre und Instrumentalisten zuhörten und ihren Genuss hatten. Der Grundbau aber war einzig und allein als Diensthaus Gottes für die Gottesdienste des Herrn gedacht: Verkündigt all mein Tun!
Der Tempel Gottes ist ein Diensthaus, und das muss der Bau Gottes immer bleiben. Kirche ist keine Kaufhalle, wo sich jeder wie im Supermarkt bedienen kann. Kirche ist keine Kunsthalle, wo sich jeder an einem andern Exponat ergötzt. Kirche ist keine Musikhalle, wo nur hoch Genuss gefragt ist. Kirche ist seit der Reformation wieder Diensthaus Gottes für den Gottesdienst des Herrn, wo wir miteinander, Sänger, Organist, Besucher und Pfarrer, Gott dienen wollen und er uns dient: mit seiner Zusage, dass er mit uns gehen will, nach Häslach, ins Remstal, nach Thüringen, auch wenn wir einen schweren Weg vor uns haben. So dient er uns, mit seinem Trost, dass er uns die Tränen abwischen will, auch wenn wir vor Schmerzen nur noch weinen können. So dient er uns, mit seiner Vergebung, dass er unseren Schuldschein durchstreichen will, auch wenn er randvoll beschrieben ist. So dient er uns, mit seiner Hoffnung, dass er im letzten Augenblick meines Lebens mir beisteht und sagt: "Ich lebe und du sollst auch leben." Einen andern Grundbau kann niemand legen, als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
Liebe Gemeinde, am Schluss der Kirchenversammlung in Schmalkalden war Luther gesundheitlich so weit hergestellt, dass er aufstehen und in der Kirche ein Schlusswort sagen konnte. Der fast 57-jährige Reformator sagte dort: "Dies sind die Artikel, auf denen ich stehen muss und stehen will bis in meinen Tod, so Gott will. Ich weiß daran nichts zu ändern." Ich möchte dies im Blick auf den Grundstein, den Grundriss, den Grundbau, im Blick auf den Grund des Baues Gottes, den niemand anders legen kann, nämlich Jesus, auch so sagen: Dies ist der Grund, auf dem ich stehen muss und stehen will bis in meinen Tod, so Gott will. Ich weiß daran nichts zu ändern.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]