Einführung in die Hermeneutik und Abgrenzung zur Exegese
Unser Thema heute Morgen heißt Seminar für Schriftauslegung. Es geht um das, was man in der Theologie Hermeneutik nennt. Hermeneutik ist ein Begriff, der auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung findet und jeweils unterschiedlich gefüllt wird. In der Theologie versteht man unter Hermeneutik jedoch die Lehre vom Verstehen eines Textes. Dabei handelt es sich um die grundlegenden und allgemeinen Regeln, nach denen ein bestimmter Text zu verstehen und auszulegen ist.
Wir können einen Text aus dem dritten Buch Mose nicht einfach genauso auslegen – mit dem gleichen Vorverständnis oder mit dem gleichen Werkzeug – wie einen Text aus der Offenbarung des Johannes. Das sind schon ganz verschiedene Paar Stiefel, und deshalb müssen wir auch unterschiedlich vorgehen.
Hermeneutik, Seminar für Schriftauslegung – es geht hier nicht um Exegese. Exegese oder Auslegung ist etwas anderes. Dabei geht es um die Frage, wie ein ganz bestimmter Text, zum Beispiel Römer 1,1-2, richtig ausgelegt wird. Wie kann ich die griechischen Worte, die dort stehen, die Satzstruktur und die literarische Form richtig zur Entfaltung bringen? Wie hat Gott diesen Text gemeint? Das wäre Exegese.
Schriftauslegung hingegen meint den Umgang mit der Bibel als Ganzes. Die Frage ist: Wie gehe ich richtig mit der Auslegung der Bibel um?
Falsche Methoden der Schriftauslegung
Jetzt muss ich leider mit einem negativen Teil beginnen. Zunächst einmal müssen wir uns vor Augen halten, dass es durchaus falsche Methoden der Schriftauslegung gibt. Als Erstes nenne ich die sogenannte historisch-kritische Methode.
Viele von euch wissen, dass es im Zuge der Aufklärung nicht dabei blieb, dass Philosophie und andere säkulare Disziplinen von diesen Gedanken durchdrungen wurden. Auch die Theologie wurde von der Aufklärung erfasst. Man nannte diese Strömung den Rationalismus. Dieser durchdrang den gesamten Umgang mit der Bibel und deren Auslegung.
In diesem Zusammenhang waren zwei Männer in negativer Weise federführend: Hann Salomo Semmler und Ernst Troeltsch. Sie waren Wegbereiter der historisch-kritischen Methode. Diese Methode besagt, dass man an die Texte der Bibel, besonders des Alten Testaments, sehr kritisch herangehen müsse. Man solle die Texte mit den normalen Regeln der Wissenschaft untersuchen und so den historischen Kern herausarbeiten.
Man wolle so einiges herausfiltern, was sich noch um den Kern herum befinde, zum Beispiel als Hilfe zum Verstehen. Mithilfe dieser historisch-kritischen Methode hat man die fünf Bücher Mose ganz besonders zerpflückt. Das Endergebnis war, dass manche Vertreter dieser Methode in den fünf Büchern Mose nicht weniger als tausend Autoren entdeckten.
Mit anderen Worten: Es hätten tausend verschiedene Schreiber mitgewirkt, um die fünf Bücher Mose zusammenzubringen. Mose war allenfalls derjenige, der den Namen dafür hergegeben hat und vielleicht auch noch ein paar Teile geliefert hat, aber tausend verschiedene Quellen entdeckten sie in den fünf Büchern Mose.
Ihr könnt euch vorstellen, was da übrig bleibt, wenn man mit dieser Methode an die Bibel herangeht. Sie ist rein rational, rein von der sogenannten menschlichen Vernunft geprägt. Man behandelt die Bibel wie jedes andere Buch, zerpflückt sie, schält sie und so weiter, bis nicht mehr viel übrig bleibt.
Zweitens gibt es die existenzielle Schriftauslegung. Dafür stehen der Philosoph Heidegger und der Theologe Rudolf Bultmann. Ich kann jetzt nicht auf all diese Dinge eingehen, das würde zu weit führen. Das sind Extrathemen, sehr spezifisch.
Wir wissen aber, dass es eine geistesgeschichtliche Strömung gab, den Existenzialismus, gerade in diesem Jahrhundert, durch Heidegger und vor allem auch Sartre. In der Theologie hat sich das bei Bultmann niedergeschlagen. Das ist eine falsche Schriftauslegung, die ich hier aber nicht weiter erklären kann, da sie sehr kompliziert ist.
Dann möchte ich noch eine dritte nennen: die rein allegorische Schriftauslegung. Diese wurde im Altertum von Personen wie Philo, Clemens von Alexandrien oder auch dem Kirchenvater Augustin vertreten. Sie sahen die allegorische Schriftauslegung als etwas sehr Erstrebenswertes an.
Das bedeutet, dass man hinter jeder biblischen Aussage einen tieferen Sinn suchen muss. Wenn zum Beispiel irgendwo steht, dass Mose auf den Berg ging und seine Hände hob und betete, dann müsse man darüber nachdenken, ob nicht ein tieferer Sinn dahintersteckt. Ob der Berg nicht noch etwas bedeutet oder ob er eine oder zwei Hände gehoben hat und was das vielleicht für ein Bild sein könnte.
Zwei Hände könnten zum Beispiel auf zwei Naturen Gottes hinweisen, Vater und Sohn oder Ähnliches. Ihr versteht, es wird immer hinter der Aussage noch etwas Tieferes gesucht.
Ich habe hier ganz bewusst geschrieben: Die rein allegorische Schriftauslegung halte ich für falsch, wenn man hinter jedem Wort noch etwas sucht. Aber ich lehne die allegorische Schriftauslegung nicht völlig ab.
Denn in der Bibel selbst finden wir allegorische Schriftauslegung, also bildhafte Auslegungen, bei denen Gegenstände benutzt werden und auf geistliche Wahrheiten gedeutet werden.
Beispiel für allegorische Schriftauslegung und deren Grenzen
Eine klassische Stelle für allegorische Schriftauslegung findet sich im Galaterbrief, Kapitel 4. Paulus, der übrigens nicht nur dort, sondern generell ein Meister der allegorischen Auslegung war, schreibt in Galater 4,4 von den Frauen Abrahams, nämlich von Sarah und der Magd Hagar.
In Vers 24 erklärt er, dass dies einen bildlichen Sinn hat – eine Allegorie. Diese Frauen stehen für zwei Bündnisse: Eines vom Berg Sinai, repräsentiert durch Hagar, die zur Sklaverei führt. Hagar ist mit dem Berg Sinai in Arabien verbunden und entspricht dem heutigen Jerusalem, das mit seinen Kindern in Sklaverei lebt.
Das andere Jerusalem hingegen ist frei und wird als unsere Mutter bezeichnet. Damit ist Sarah gemeint. Paulus deutet hier die zwei Frauen Abrahams auf geistliche Realitäten. Zu jener Zeit war Jerusalem von den Römern besetzt. Paulus sagt, dieses Jerusalem sei die Magd, die Gefangene, die Sklavin. Das freie Jerusalem aber ist das Geistliche, das im Himmel ist und nicht versklavt ist.
So deutet Paulus Sarah allegorisch. Dies ist ein Beispiel für allegorische Schriftauslegung. Deshalb darf man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und behaupten, es gebe überhaupt keine Deutung bestimmter Bibelstellen. Bestimmte Dinge dürfen gedeutet werden, allerdings mit Vorsicht. Man sollte nicht zu weit gehen und nicht hinter jedem Wort eine tiefere Bedeutung suchen.
Es gibt manchmal seltsame Auswüchse in bestimmten Richtungen, bei denen jedes Wort mehrfach gedreht wird, um etwas dahinter zu finden. Das kann nicht richtig sein. Die Deutung muss sich in den Linien der Bibel bewegen und darf nicht übertrieben werden.
Der richtige Weg: Historisch-grammatische Schriftauslegung
Was ist nun aber der richtige Weg? Den richtigen Weg nenne ich mit Ernst Meyer, unserem heimgegangenen Bruder, die historisch-grammatische Schriftauslegung. Historisch-grammatisch – sein Namensvetter, auch ein Schwabe namens Meier, der Herr Doktor Gerhard Meier von Tübingen, der jetzige Prälat, hat in seinem Buch über biblische Hermeneutik den Begriff geprägt. Er nennt es biblisch-historische Schriftauslegung.
Ich bleibe jetzt mal bei Ernst Meyer und nenne es historisch-grammatische Schriftauslegung. Das heißt, jeder Text muss in seinem historischen Zusammenhang gesehen werden. Wenn es sich um einen Text handelt, der an das Volk Israel gerichtet ist, dann muss ich mir die Mühe machen, den damaligen historischen Kontext zu erforschen und natürlich zu beachten.
Grammatisch bedeutet „Gramma“ der Buchstabe – also eine wirklich wörtliche Annahme dieses Textes, ein wörtliches Verständnis. In dieser Art von Auslegung geht man wirklich vom sogenannten sensus literalis, also vom wörtlichen Sinn des Textes, aus. Nur dort, wo der wörtliche Sinn absolut irreführen würde oder keinen Sinn macht, löst man sich davon und geht einen Schritt weiter. Dann vergeistlicht man den Text.
Ihr kennt das berühmte Beispiel: Herr Jesus sagt: „Wenn dir deine Hand Ärger nicht schafft, dann hau sie ab.“ Er wollte damit niemals zur Selbstzerstümmelung anleiten. Er wollte damit sagen, dass wir die Dinge, die uns zur Sünde verführen, konsequent und radikal lassen sollen. Das wollte er ausdrücken. Er wollte nicht sagen, wir sollen die Hände abhacken, sonst hätten wir alle keine mehr.
Das ist so ein Beispiel, wo das dann so gehandhabt werden kann und muss. Wir gehen also von der wörtlichen Bedeutung des Textes aus – unter Berücksichtigung seines historischen Hintergrundes. Das dürfen wir nicht wegfallen lassen, sonst würden wir es uns viel zu einfach machen. Das führt auch zu schiefen Auslegungen, wenn wir nicht den historischen Zusammenhang beachten.
Es ist wichtig zu wissen, ob ein Text noch vor der Sintflut geschrieben wurde, ob er im Alten Testament zur Zeit Israels verfasst wurde, in den Evangelien oder in den Paulusbriefen oder wo auch sonst.
Moralische Schlüssel für die Auslegung der Bibel
Nun gehen wir einen Schritt weiter und ich möchte gerne zur Auslegung selbst kommen. Dabei gibt es moralische Schlüssel, die beschreiben, wie wir selbst an die Bibel herangehen sollten, bevor wir mit dem Werkzeug der Auslegung beginnen.
Wir starten bei uns selbst. Wir müssen mit der richtigen Einstellung und Herzenshaltung an biblische Texte herantreten. Den ersten moralischen Schlüssel nenne ich in Anlehnung an Dr. Bruce Miller aus Dallas, der im Auftrag von BAO Hermeneutikkurse vorbereitet und einen Kurs über Hermeneutik aufbaut. Dieser Schlüssel ist die Gottesfurcht.
Wir wissen, was in Sprüche 1,7 steht: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit.“ Unsere Auslegung muss bei Gott beginnen. Er ist derjenige, der das Wort gegeben hat. Das Wort kommt von ihm, es ist Gottes Wort. Hinter diesem Wort steht Gott, der heilige Gott, der uns sein heiliges Wort gegeben hat. Deshalb sollen wir mit Ehrfurcht und Unterwerfung an die Auslegung herangehen. Wir stehen nicht über der Schrift, sondern unter dem Wort. Das ist die richtige Haltung.
Ja, nicht über der Schrift, sondern unter dem Wort. Wir möchten Schüler und Diener seines Wortes sein. Zinzendorf hat sich einmal einen Schüler des ewigen Wortes genannt. In Lukas 1,2 steht der Ausdruck „Diener des Wortes“ – ein wunderschöner Ausdruck. Nicht Meister. Jesus tadelt manche Menschen und sagt: „Ihr wollt der Schrift Meister sein?“ Das ist keine gute Haltung. Wir sollen Diener und Schüler der Schrift sein, aber niemals Meister.
Wenn wir mit der Haltung der Gottesfurcht rangehen, also mit wirklicher Ehrfurcht vor dem Wort Gottes, dann müssen wir, bildlich gesprochen, beim Aufschlagen der Bibel wie Mose die Schuhe ausziehen, denn wir stehen auf heiligem Land. Es ist das heilige Wort Gottes.
Die nächste richtige Haltung ist Demut. Ihr kennt die Stelle: „Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.“ Wir müssen vorsichtig sein mit dem Gedanken: „Ich habe Recht mit meiner Auslegung, mein Verständnis eines Textes ist richtig, und alle anderen liegen falsch.“ So zu denken ist gefährlich. Ich habe Recht, ich habe es erkannt, und es kann gar nicht anders sein. Das ist eine messerscharfe Schlussfolgerung, die nichts anderes zulässt.
Wie oft mussten wir uns schon selbst korrigieren? Wenn ich siebzehn Jahre zurückdenke, wie oft war ich fest überzeugt, das richtige Verständnis eines Textes zu haben. Einige Jahre später musste ich mich revidieren und sagen: Nein, ich kann das jetzt so nicht mehr sehen. Ich habe neues Licht vom Gesamtverständnis der Bibel bekommen und musste mich korrigieren.
Wer sagt uns, dass wir nicht auch bei Dingen, die wir heute als ganz felsenfest erkannt haben – ich meine nicht, dass Gott Wirklichkeit ist und dass Jesus auferstanden ist, da werden wir uns niemals korrigieren müssen – bei anderen Fragen, etwa zur Endzeit, Terminologie oder bestimmten Gemeindefragen, nie mehr eine Korrektur brauchen? Wir sollten nicht voreilig sagen: „Da haben wir jetzt die Weisheit mit Löffeln gefressen, und eine Korrektur wird wohl nie mehr nötig sein.“
Demut bedeutet, wirklich diese Einstellung zu haben: Ich möchte von jedem gläubigen Schriftausleger lernen. Niemals sollten wir sagen: „Was will der mir noch sagen? Was könnte ich von dem noch lernen?“ Auch von einem ganz einfachen Bruder oder einer einfachen Schwester kann ich unter Umständen ganz neue Erkenntnisse über Gottes Wort bekommen.
Wenn ich diese Haltung habe, wirklich zu sagen: „Ich bin vorläufig mit meiner Erkenntnis, meine Erkenntnis ist Stückwerk“, wie Paulus schreibt, und ich will weiter dazulernen, dann ist ein weiterer Schlüssel bei der Auslegung die Liebe.
Auch die Auslegung der Schrift kann sehr lieblos, hart und unbarmherzig geschehen. Das ist aber nicht die richtige Haltung. Die Auslegung der Schrift soll in Liebe geschehen. Paulus schreibt an Timotheus in 1. Timotheus 1,5: „Das Endziel der Weisung aber ist Liebe aus reinem Herzen.“ Das Endziel der ganzen Weisung Gottes ist Liebe. Alles zielt auf Liebe hin. Alles kommt aus Liebe und zielt auf Liebe.
Unsere Auslegung der Schrift soll Liebe demonstrieren, nämlich unsere Liebe zu Gott. Es ist schön, wenn man bei einem Ausleger der Schrift spürt, dass er Gott liebt. Dann kommt die Liebe zu seinem Herrn und zu seinem Wort zum Ausdruck, aber auch die Liebe zu den Menschen, die vor ihm sitzen. Wenn er die Menschen liebt, wird er niemals auf sie einpeitschen, auf sie einhämmern und ihnen harte Dinge um die Ohren hauen, um sie kleinzumachen. Das wird er nicht tun, wenn er die Menschen wirklich liebt.
In 1. Korinther 16,14 steht: „Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.“ Das ist ein ganz wichtiges Wort – alle eure Dinge, auch die Auslegung der Schrift.
Viertens noch ein vierter Schlüssel: Heiligkeit. Wer Gottes heiliges Wort auslegen und verkündigen will, steht in der Verantwortung, auch ein heiliges Leben zu führen. Es kann nicht sein, dass man nur mit rein intellektueller oder akademischer Qualifikation die Berechtigung hat, das Wort zu predigen und weiterzugeben, weil man eine bestimmte Ausbildung durchlaufen hat. Das wäre viel zu wenig und qualifiziert uns nicht.
Wer das Wort Gottes verkündigen will, das heilige Wort, muss mit seinem Leben dahinterstehen. Nicht in Perfektion oder Vollkommenheit, aber es muss sein Anliegen sein. Es muss spürbar sein, dass es sein Anliegen ist, nach diesem Wort zu leben und diesem Wort zu gehorchen.
Wenn solche, die das Wort Gottes verkünden und vorne stehen, in offenkundiger Sünde leben, dann streicht das erstens die Glaubwürdigkeit der biblischen Botschaft. Viele Christen werden entmutigt, weil sie denken: „Wenn schon die, die vorne stehen, das nicht leben können, was sie predigen, soll ich es dann, ich kleines Würmlein, leben können?“ Das entmutigt.
Aber ein glaubwürdiges Leben kombiniert mit einer glaubwürdigen Botschaft – das ist die richtige Sache und ermutigt.
Mir ist aufgefallen, dass Paulus in 2. Korinther 3, bevor er von den Dienern des neuen Bundes spricht – der Ausdruck kommt danach –, zuvor davon schreibt, dass wir ein Brief Christi sind, der von allen Menschen gelesen wird. Das möchte ich betonen: Erst muss unser Leben stimmen.
Wir sollen ein Brief Christi sein, mit Tinte geschrieben, mit lebendiger Tinte. Das muss uns klar sein, wenn wir das Wort weitergeben.
Heiligkeit: Was sollen die Leute an uns lesen? Nicht Perfektionismus, aber Echtheit, Heiligkeit und Gottergebenheit.
Auch an Timotheus schreibt Paulus, dass er sich bewährt darstellen soll und dann das Wort in rechter und gerader Richtung schneiden soll. Bevor er von der Auslegung spricht, sagt er, Timotheus soll sich bewährt darstellen.
Das ist ein durchgängiges biblisches Prinzip: Zuerst muss das Leben stimmen, dann kann jemand vorne stehen und verkündigen.
Hier haben wir vier moralische Schlüssel – so möchte ich sie einfach nennen –, die unsere Haltung betreffen und unser ganzes Glaubensleben, unsere Einstellung zu Gott, zu den Mitmenschen und zu seinem Wort.
Hermeneutische Schlüssel: Das Handwerkszeug der Bibelauslegung
Dann nenne ich als Nächstes vier hermeneutische Schlüsse. Jetzt kommen wir zu dem Handwerkszeug. Das ist mir auch sehr wichtig: Der Teil, der jetzt kommt, sind vier hermeneutische Schlüssel. Diese habe ich von meinem verehrten Lehrer Lienhard Pflaum gelernt. Er hat sie uns wirklich für unser Leben eingeprägt. Und sie sind sehr gut – vier hermeneutische Schlüssel, also Schlüssel, wie wir die Bibel auslegen können, die Heilige Schrift.
Das klingt uns banal oder selbstverständlich, ist es aber gar nicht. Der Heilige Geist erschließt die Heilige Schrift. Schauen wir uns die Stelle kurz in 1. Korinther 2 an. Das heißt nämlich: Nicht der menschliche Geist erschließt die Schrift, sondern der Heilige Geist. Ohne den Heiligen Geist können wir die Bibel nicht wirklich verstehen.
Da sitzen wir wie Spatzen auf der Überlandleitung. Unten rauschen 40 Volt durch, und den Spatzen kribbelt es nicht mal an den Füßen, wenn wir den Heiligen Geist nicht haben. Also, 40 Volt steht hier symbolisch für den Heiligen Geist.
In 1. Korinther 2, Vers 10 heißt es: "Uns aber hat Gott es geoffenbart durch den Geist; denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes. Wir wüssten nichts von Gott, wenn es der Geist uns nicht mitteilen würde. Denn wer von den Menschen weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? So hat auch niemand erkannt, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes. Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, damit wir die Dinge kennen, die uns von Gott geschenkt sind."
Davon reden wir auch: nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist, indem wir Geistliches durch Geistliches deuten.
Und dann sagt er noch: "Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird. Der Geistliche dagegen beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemandem beurteilt. Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, dass er ihn unterweisen könnte? Wir aber haben Christi Sinn."
Der Heilige Geist erschließt uns die Heilige Schrift – nicht der eigene menschliche Geist, nicht philosophisch brillante Gedanken und auch nicht hermeneutische Technik. Sondern der Heilige Geist schließt uns die Schrift auf.
Jesus Christus als Zentrum der Schrift
Zweitens: Fundamentaler Grundsatz – Jesus Christus und sein Werk sind die Mitte der Schrift.
Wir haben diesen Abschnitt gestern Abend im Hauskreis bei uns behandelt, Johannes Kapitel 5. Dabei haben wir auch Johannes 5,39 gelesen, wo es heißt: „Ihr sucht in der Schrift und meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist es, die von mir zeugt.“ Jesus sagt, dass die Schrift – damals das Alte Testament – von ihm zeugt.
Auch im Alten Testament ist Jesus die Mitte, nicht Abraham, nicht Mose, nicht David. Jesus steht im Zentrum des Alten Testaments. An diesem Punkt sind die Zeugen Jehovas gescheitert, bereits beim ersten Grundsatz, aber vor allem auch beim zweiten. Sie sehen Jesus nicht zentral in der Mitte, sondern kommen nur von Jehova her und wollen angeblich seine Zeugen sein.
Jesus Christus und sein Werk sind die Mitte der Schrift. Das bedeutet, die gesamte Auslegung muss immer auf Christus hinzielen, auch wenn alttestamentliche Texte ausgelegt werden. Dabei darf man nie nur stehen bleiben bei der Frage, was der Text damals für Israel bedeutete oder für Jonathan oder irgendeinen anderen.
Wenn wir über alttestamentliche Texte sprechen, sollten wir immer eine Linie ziehen – hin zu Christus und zu uns heute, die wir in der Gemeinde sind. Jesus Christus ist die Mitte der Heiligen Schrift.
Der rote Faden der Heilsgeschichte
Drittens: Der rote Faden der Heiligen Schrift ist die Heilsgeschichte. Das ist ein enorm wichtiger Punkt. Der rote Faden der Schrift ist die Heilsgeschichte. Auch daran scheitern die Zeugen Jehovas, denn sie haben nicht erkannt, dass sich durch die Heilige Schrift ein unsichtbarer roter Faden zieht. Dieser ist Gottes Heilsgeschichte – Gottes Geschichte zur Rettung der Menschen.
Wenn man das erkannt hat, sieht man, dass am Anfang eine vollkommene Schöpfung stand. Doch dann geschah der Sündenfall. Der gefallene Mensch lebte eine Zeit lang in einer Phase des Gewissens, ohne Gesetze, ohne das alttestamentliche Gesetz. Er lebte allein nach seinem Gewissen.
Wenn man weiter betrachtet, sieht man, dass Gott nach dem Turmbau zu Babel etwas ganz Neues begann: die Erwählung Abrahams. Er rief sein Volk Israel heraus, sein alttestamentliches Bundesvolk. Dieses Volk lebte unter bestimmten Gesetzmäßigkeiten, erhielt ein Gesetz, die Tora, die fünf Bücher Mose, und hatte Propheten.
Im Alten Testament finden sich viele Weissagungen auf Christus. Man erkennt, dass das Alte Testament noch nicht die Erfüllung darstellt, sondern eine Vorbereitung auf den Einen ist, der kommen sollte. Alle Linien laufen auf ihn zu. Johannes der Täufer bezeichnet ihn als Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt.
Das Neue Testament zeigt, dass es die Erfüllung des Alten ist. Im Alten ist das Neue verborgen, im Neuen ist das Alte offenbar – so hängt alles zusammen, wie Augustin sagte.
Weiter sehen wir, dass mit Golgatha, der Auferstehung, der Himmelfahrt und Pfingsten etwas ganz Neues in der Welt begann: die Zeit der Gemeinde, der Leibesgemeinde Jesu Christi, deren Glieder wir sind. Diese besteht aus gläubigen Juden und Heiden und bildet einen Leib.
Diese Gemeinde lebt unter ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als das Volk Israel. Es handelt sich um zwei ganz verschiedene Basisebenen, was für die Auslegung sehr wichtig ist und beachtet werden muss.
Ebenso ist zu beachten, dass diese Zeit zu Ende gehen wird und Israel noch eine Zukunft als Volk hat. Israel wird noch erleben, wie das Reich auf dieser Erde aufgerichtet wird – das Reich für Israel, von dem die Propheten immer gesprochen haben. Jesus hat es damals nicht aufgerichtet, auch Johannes der Täufer nicht. Es wird erst aufgerichtet, wenn unser Herr wiederkommt und die Gemeinde vorher entrückt wird.
Dann wird Jesus hier auf der Erde sein Reich für Israel aufrichten.
Wer diesen roten Faden der Heilsgeschichte nicht sieht, wird die Auslegung völlig falsch machen. Zum Beispiel werden prophetische Stellen in Jesaja, die vom tausendjährigen Reich sprechen, auf die Kirche, also die Gemeinde Jesu Christi, umgedeutet. Man sagt, das habe sich jetzt in uns erfüllt. Wir seien jetzt Gottes neues Volk auf der Erde.
Wenn in Jesaja 2 von einem Friedensreich die Rede ist, verstehen es viele Theologen heute so, dass dieses Friedensreich jetzt kommen soll. Deshalb müsse man alles daran setzen, Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu praktizieren – wie es erst für das tausendjährige Reich verheißen ist.
Viele Theologen meinen, das könne man jetzt erreichen, weil sie nicht sehen, dass diese Verheißung für Israel gilt und sich noch buchstäblich erfüllen wird.
Man sieht, wie wichtig es ist, den roten Faden der Heilsgeschichte zu beachten.
Die Schrift legt sich selbst aus
Und dann noch ein letzter, ganz entscheidender Punkt: Die Heilige Schrift legt sich selbst aus. Schon die alten Lateiner sagten: Scriptura sui interpres – die Schrift legt sich selbst aus.
Dabei bedürfen klare Stellen der Bibel keiner weiteren Erklärung durch andere Stellen. Klare Stellen, die so deutlich sind wie Klossbrühe, werden nicht durch andere Stellen verbogen, sondern bleiben bestehen. Dunkle Stellen hingegen müssen von den hellen Stellen her beleuchtet werden.
Auch hier muss ich wieder als Beispiel die Zeugen Jehovas nennen. Sie nehmen ganz seltsame Stellen aus dem Buch Prediger, die wirklich schwer auszulegen sind, und bauen auf diese Stellen Lehren auf. Dabei zwängen sie klare neutestamentliche Aussagen in diese Lehren, die auf Aussagen im Buch Prediger basieren. Ihre ganze Lehre vom Schlaf, vom sogenannten Seelenschlaf nach dem Tod, beruht auf einer einzigen Stelle im Buch Prediger. Darauf darf man jedoch keine Lehre aufbauen, denn im Neuen Testament finden wir dazu entscheidende Aussagen. Diese werden dann so verdreht, dass sie in ihr System passen.
Das ist nicht redlich, das ist kein ehrlicher Umgang mit der Heiligen Schrift. So wird alles schief, und man kann die seltsamsten Lehrgebäude errichten.
Die Schrift legt sich selbst aus. Das heißt: Ich brauche nur die Schrift. Ich brauche keine Zusatzbücher, kein Buch Mormon und keine anderen Bücher, um die Bibel zu verstehen. Sie legt sich selbst aus. Die klaren Stellen geben Licht, und die dunklen Stellen müssen von den klaren her beleuchtet werden. Das ist ein ehrlicher Umgang mit der Bibel.
Pause
So, jetzt haben wir den ersten Teil gemeinsam behandelt. Ich möchte hier eine kurze Pause von etwa fünf bis zehn Minuten machen. Danach setzen wir mit einem etwas schwierigeren Abschnitt fort.
