Einführung und biblischer Predigttext
Gottes Wort für diesen Sonntag steht im Propheten Jeremia, Kapitel sieben, die Verse eins bis elf, die sogenannte Tempelrede Jeremias. Dies ist das Wort, das vom Herrn zu Jeremia geschah:
Tritt ins Tor am Hause des Herrn und predige dort dieses Wort. Sprich: Höret das Wort des Herrn, ihr alle von Juda, die ihr zu diesen Toren eingeht, um den Herrn anzubeten.
So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Bessert euer Leben und euer Tun! Dann will ich bei euch wohnen an diesem Ort.
Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: „Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!“ Stattdessen bessert euer Leben und euer Tun. Handelt gerecht miteinander und übt keine Gewalt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen.
Vergießt kein unschuldiges Blut an diesem Ort und lauft nicht anderen Göttern nach zu eurem eigenen Schaden! Dann will ich immer und ewig bei euch wohnen an diesem Ort, in dem Land, das ich euren Vätern gegeben habe.
Aber nun verlasst ihr euch auf Lügenworte, die zu nichts nütze sind. Ihr seid Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige. Ihr opfert dem Baal und lauft fremden Göttern nach, die ihr gar nicht kennt.
Und dann kommt ihr und redet vor mich in diesem Haus, das nach meinem Namen genannt ist, und sagt: „Wir sind geborgen!“ Und ihr tut weiter solche Gräuel.
Haltet ihr denn dieses Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle? Siehe, ich sehe es wohl, spricht der Herr.
Herr, heilige uns in der Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit. Amen!
Vorbereitung auf das Abendmahl und die Situation im Tempel
Liebe Gemeinde, wir werden nachher im Anschluss an diesen Gottesdienst das Abendmahl miteinander feiern. Ich weiß nicht, ob Sie Zeit haben, da zu bleiben oder nicht. Aber ich möchte Sie jetzt bitten, sich einmal vorzustellen, wie es ist, wenn wir das Abendmahl feiern.
Wir werden wie immer mit einer Einleitung beginnen und uns dann zum Sündenbekenntnis erheben. Ich werde dann die Beichtliturgie lesen. Sie kennen diese Worte ganz bestimmt: „Schon lange herrscht im Licht einer Wahrheit die Erkenntnis, dass ich gesündigt habe, in Gedanken, in Worten und Werken.“
Danach, im Anschluss, werde ich Sie wie immer fragen: „Ist dies auch euer Bekenntnis und eure Bitte?“ Sie antworten wahrscheinlich mit „Ja“. Nun werden Sie wie immer darauf warten, dass ich Ihnen im Namen Gottes die Vergebung zuspreche.
„Euch geschehe, wie ihr glaubt: Ich verkündige euch, der allmächtige Gott hat sich über euch erbarmt, und durch seinen Sohn Jesus Christus vergibt er euch alle eure Sünden.“
Stellen Sie sich nun einmal vor, diese Zusage der Vergebung kommt nicht. Sie stehen da, haben vielleicht die Augen geschlossen, denken: Ist der da vorne umgekippt? Ist er ohnmächtig geworden? Ist etwas los? Hat er es auf dem Herzen? Doch es kommt nichts. Sie hören nichts mehr, öffnen die Augen.
Dann kommt etwas ganz, ganz anderes: „Nein, nein, im Namen des Herrn Sebat, eure Sünde ist nicht vergeben. Nicht vergeben! Ihr seid Diebe! Mörder! Ehebrecher! Lügner! Götzendiener! Und kümmert euch nur um euch selbst!“
„Und dann kommt ihr und redet vor mich in diesem Hause und sprecht: ‚Gott, vergib uns, wir sind bei dir geborgen.‘ Aber ihr tut dennoch weiter solche Gräuel.“
Genau so muss man sich das vorstellen, genau so. So war das damals, als Jeremia diese Rede im Tempel hielt.
Die historische und religiöse Situation zur Zeit Jeremias
Das war die Gefühlslage, in die man sich hineinversetzen muss. Es war der Tag eines jener großen Pilgerfeste. In Israel gab es drei große Pilgerfeste, zu denen ganz Israel – oder zumindest sehr viele Israeliten, Juden – nach Jerusalem pilgerten. Tausende und aber Tausende von Israeliten pilgerten zum Tempel, um dort ein gewaltiges Volksfest zu feiern.
Im Vorhof des Tempels, wo die Opfer dargebracht wurden und der große Gottesdienst zum Pilgerfest gefeiert wurde, drängten sich die Menschen. Tausende von Menschen waren versammelt, um am Gottesdienst teilzunehmen. Wie immer betete das ganze Volk im Wechsel mit einem Priester, einem Liturgen, die Eingangsliturgie im Tempel.
Eine dieser Eingangsliturgien finden wir zum Beispiel in den Psalmen. In Psalm 24 steht ein Wechselgebet, das als Eingangsliturgie bei einem dieser großen Feste gefeiert wurde. „Wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“, fragte der Liturg am Anfang. Dann antworteten die vielen Tausend Juden, die versammelt waren: „Wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört.“
Darauf antwortete der Liturg, der Priester, mit den Worten: „Der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils.“ Diese Verse kannte jeder Israelit auswendig – so wie heute viele Teile unserer Liturgie auswendig kennen, wenn sie halbwegs regelmäßig einen Gottesdienst besuchen. Die Juden damals kannten diese Verse auswendig. Jeder Pilger konnte sie im Schlaf aufsagen.
So warteten sie alle an diesem großen Festtag auf diese normale Eingangsliturgie. Doch plötzlich hörten sie etwas ganz anderes. Die Eingangsliturgie fiel aus. Das, was sie gewohnt waren und erwartet hatten, kam nicht. Stattdessen hörten sie etwas ganz anderes.
Der Liturg dieses Tages war ein junger Priester aus Anatot, einem kleinen Dorf nicht weit von Jerusalem. Sein Name war Jeremia. Er war nicht nur Priester im Tempel, sondern auch Prophet. Gott hatte diesem Jeremia eine ganz besondere Botschaft für diesen Festtag gegeben.
Anstelle der normalen Tempelliturgie sollte er eine harte Bußpredigt halten: „Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich bei euch wohnen an diesem Ort. Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: ‚Hier ist des Herrn Tempel.‘“
Statt einer Eingangsliturgie hielt Jeremia eine überraschende und harte Predigt. Es war eine Predigt, in der es um den Glauben Israels und um die Verheißungen Gottes ging.
Die Gefährdung des Glaubens und die Gefahr der Heuchelei
Und darum geht es auch in dieser Predigt. Das Erste, was ich mit Ihnen bedenken möchte: Unser Glaube ist und bleibt gefährdet. Ihre und meine, unser Glaube ist und bleibt gefährdet.
Es waren keine gottlosen Leute damals, die sich im Tempel trafen. Es waren keine gottlosen Menschen, denen Jeremia diese Predigt hielt. Im Gegenteil: In Juda und Jerusalem gab es damals ein blühendes Gemeindeleben, volle Gottesdienste und lebendige Feste. Es war erst dreizehn, vierzehn Jahre her, dass es durch die Reformen des alten Königs Josia zu einer echten Erweckung in Juda gekommen war. Von dieser Erweckung lebte man noch – mit vollen Gottesdiensten, aktiven Gemeindekreisen, missionarischer Jugendarbeit und vielem mehr.
Es war damals wie heute: Da, wo geistliches Leben blüht, ist immer auch die Versuchung am größten. Da, wo geistliches Leben blüht, ist Satan immer auf der Matte, der Versucher ist präsent. Wo lebendiger Glaube entsteht, da entsteht immer auch Heuchelei.
Wissen Sie, wo geistlicher Tod herrscht, da braucht niemand mehr zu heucheln. Wo alles am Boden liegt, da muss man niemandem mehr etwas vormachen. Dort sieht man, dass nichts mehr da ist. Heuchelei entsteht immer dort, wo Menschen den Anspruch haben, ein lebendiges Glaubensleben zu führen. Heuchelei entsteht immer da, wo Menschen es ernsthaft wagen wollen, mit Gott zu leben. Heuchelei entsteht dort, wo Gott gesucht und gewollt wird.
Nichts ist so gefährdet, nichts wird so leicht zum Zerrbild seiner selbst wie lebendiger Glaube. Und das Schlimme ist: Nach außen hin ist das zunächst gar nicht sichtbar.
Wenn in einem Betrieb die Motivation fehlt, merkt man das irgendwann an der Geschäftsbilanz. Wenn die Mitarbeiter nicht miteinander können, wenn es Reibungsverluste gibt oder Mobbing, zeigt sich das an der Bilanz. Wenn es in einer Fußballmannschaft nicht mehr rundläuft, sieht man das am Tabellenplatz. In einer Gemeinde ist das anders.
Der persönliche Glaube eines Menschen ist zunächst einmal unsichtbar. Das, was in Ihrem Herzen geschieht, das, was zwischen Ihnen und Gott in Ihrem Herzen passiert, ist für mich unsichtbar. Ich kenne manche von Ihnen besser, manche weniger gut, aber ich kenne Ihr Herz nicht. Und Sie kennen meines nicht. Was zwischen Gott und mir tief im Innersten, im Herzen geschieht, darüber kann keiner urteilen.
Deshalb habe ich zum Beispiel bei Beerdigungen nie das Recht, ein letztes Urteil über einen Menschen zu fällen. Ich sehe sein Herz nicht, das sieht nur Gott. Ich weiß nicht, welchen Raum Gott in einem Herzen hat. Das alles ist meinen Augen verborgen.
Deshalb bleibt auch eine Glaubenskrise, die Sie möglicherweise durchmachen, ohne es selbst zu wissen, für mich heute Morgen unsichtbar. In einer Gemeinde mag es noch viel frommen Aktivismus geben, der nach geistlichem Leben aussieht. Doch in Wahrheit ist der Glaube oft schon längst leer und hohl geworden – eine hohle, leere Form. Eine schöne Form, aber leer.
Nirgendwo lässt sich so viel verbergen, und nirgendwo lässt sich so viel Schein wahren wie im Christsein. Einen Fußballspieler sieht man sehr schnell, wenn er außer Form gekommen ist – er schießt keine Tore mehr. Bei einem Betrieb merkt man bald, wenn es nicht stimmt, weil es bergab geht. Im Christsein dagegen lässt sich auf einem relativ hohen Niveau der Schein leicht wahren.
Das nennt die Bibel Heuchelei. Nirgendwo kann ein Mensch unter dem Vorwand, es gehe ihm ausschließlich um die Ehre Gottes, sich selbst so sehr in Szene setzen wie im Christsein. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich hier rede.
Man kann auf so einer Kanzel unglaublich fromm predigen und ganz unter dem Talar innen drin unendlich weit weg sein von Gott – unendlich weit. Am schlimmsten ist es, wenn man es selbst gar nicht mehr merkt. Wenn man nicht mehr wahrnimmt, dass die Beziehung zu Gott nur noch äußerlich ist und eine lebendige Verbindung abgestorben ist.
Dann meint man, zu haben, was man längst nicht mehr hat. Man meint zu leben, aber es lebt überhaupt nichts mehr. Das Einzige, was noch gedeiht, ist die fromme Heuchelei.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich wählen müsste, ob ich in einem gottlosen Haus wohnen müsste oder in einem Haus, in dem fromme Heuchelei regiert, wüsste ich nicht, was ich wählen würde. Ich wüsste nicht, wofür ich mich entscheiden sollte.
Heuchelei macht unser Christsein, unsere Ehen und unsere Familien genauso kaputt wie die offene Missachtung von Gottes Willen. Heuchelei kontaminiert unsere Beziehungen. Das ist wie radioaktive Strahlung: Man kann sie zunächst gar nicht sehen, weil der Schein gewahrt bleibt. Man kann sie nicht sehen, aber langsam und sicher stirbt das Leben ab. Beziehungen sterben ab, Gemeinden sterben ab, der Glaube stirbt ab.
Ich habe im Bengelhaus und im CV-Landesverband mit vielen jungen Menschen zu tun. Ich habe mit vielen verletzten jungen Menschen zu tun, weil sie Elternhäuser erlebt haben, weil sie Gemeinden erlebt haben, in denen nach außen viel Schein gewahrt wurde, die aber innerlich von frommer Heuchelei zerfressen waren.
Es gibt nichts Prägenderes und Attraktiveres für junge Menschen als ein offenes und ehrliches Christsein, in dem Fehler und Schuld nicht vertuscht werden, sondern Vergebung gelebt und angenommen wird.
Und umgekehrt gibt es nichts Zerstörerischeres als ein Elternhaus oder eine Gemeinde, in der Heuchelei herrscht, wo die bloße Form regiert – und sei sie noch so schön, sie ist leer.
Der Kampf des Glaubens und die Gefahr des praktischen Atheismus
Christsein ist und bleibt immer ein Ringen, ein Kampfgeschehen. Der gute Kampf des Glaubens richtet sich stets gegen zwei Fronten. Zum einen gegen die Versuchung dieser Welt, gegen die Verweltlichung und gegen die Anpassung, durch die man abrutschen kann.
Zum anderen aber genauso gegen eine innere Hohlheit und Leerheit, in der alles erstarrt und nur noch eine äußere Form gewahrt bleibt. Christsein, unser Glaube, ist und bleibt gefährdet.
Dies ist das Erste, was in dieser Predigt von Jeremia zum Ausdruck kommen soll.
Gottes Zusagen sind keine Zauberformeln
Und das Zweite: Gottes Zusagen, Gottes Verheißungen sind keine Zauberformeln. Es wäre falsch zu denken, dass die Menschen, die damals im Tempel zusammenkamen, sich für perfekt hielten. Nein, sie hielten sich nicht für perfekt. Ihnen war bewusst, dass sie das eine oder andere auf dem Kerbholz hatten. Sie wussten, dass es in ihrem Leben Macken und Mucken gab. Fehler waren ihnen auch klar. Aber sie waren bibelfeste Leute damals.
Deshalb hielten sie Jeremia diese große Verheißung Gottes entgegen: Hier, Jeremia, da, wo wir jetzt stehen, in diesem Tempel – hier ist der Tempel des Herrn, hier ist das Haus Gottes. Mit diesem Haus hat Gott alle seine Zusagen und alle seine Verheißungen verbunden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Hier sind wir geborgen.
Jetzt ist die Frage: Hatten sie mit diesem Einwand eigentlich recht? Stimmte das denn wirklich? Hatte Gott nicht wirklich zugesagt, dass er hier in Jerusalem, in diesem Tempel, seinen Namen wohnen lassen wollte? Hatte Gott nicht diese Stadt und diesen Berg, den Zion, wirklich erwählt? Stimmte das etwa nicht, was in Psalm 46 steht: „Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben.“ Jeremia, hast du es nicht gelesen? Da steht es doch.
Stimmt es etwa nicht, was bei Jesaja geschrieben steht: „Der Herr hat in Zion den Zionsberg, den Tempelberg gegründet. Hier werden die Elenden seines Volkes Zuflucht haben.“ Das stimmt doch, Jeremia.
Diese Menschen, denen Jeremia diese Predigt hielt, hatten nach unseren Maßstäben einen durch und durch biblisch-reformatorischen Glauben. Sie vertrauten wirklich nicht auf ihre eigene Gerechtigkeit. Sie vertrauten auf das Wort Gottes, auf die Zusagen, auf die Verheißungen Gottes. Was sollte man da noch sagen? Was konnte man dagegen sagen?
Jeremia sagt: Das Problem ist nicht, dass Gottes Zusagen falsch wären – oh nein! Das Problem ist, wie ihr mit diesen Zusagen umgeht. Ihr degradiert diese Verheißungen zu einem göttlichen Deckmantel für einen gottlosen Lebensstil. Ihr macht aus diesen Verheißungen eine Zauberformel. Wenn man sie dreimal nacheinander aufsagt – hier ist es, Herr Tempel, hier ist es, Herr Tempel, hier ist es, Herr Tempel –, dann gelten sie doppelt oder dreifach. Dann gelten sie aber auch wirklich wie ein Zauberspruch.
Diese Verheißungen sind für euch wie ein Persilschein, mit dem man weitermachen kann wie bisher. Wer die Verheißungen Gottes über seinem heiligen Tempel so missbraucht, sagt Jeremia, der macht Gottes Wort zum Lügenwort. Der macht Gottes Wort zum Lügenwort.
Und das gilt heute wie damals. Wer die Zusagen Gottes zum Deckmantel für ein Leben macht, in dem Gott keine Chance mehr hat, in dem Gott sonst überhaupt nicht mehr zum Zuge kommt, der macht seine Zusagen zum Lügenwort. Das heißt, er täuscht sich selbst über diese Verheißungen Gottes.
Ich gestehe ganz offen: Ich hatte und habe bei Taufen und Konfirmationen manches Mal großes Bauchweh. Ich habe immer noch Bauchweh, weil wir hier Menschen dazu verführen, aus Gottes Gnadenzusage ein Lügenwort zu machen – Menschen dazu verführen, aus der Taufzusage, aus dem Konfirmationssegen ein Lügenwort zu machen. Ein Lügenwort, mit dem sie sich selbst und über ihre Lage vor Gott hinwegtäuschen.
Ich weiß, dass ich mich hier auf ganz dünnem Eis bewege. Aber Gott hat uns das Geschenk der Taufe, der Konfirmation und des Abendmahls nicht gegeben, damit wir dabei einen magischen Zauber empfangen und anschließend so weitermachen wie bisher.
Gottes Wort ist ein Veränderungswort, Gottes Wort ist ein Umgestaltungswort. Ein Wort, das uns nie so lässt, wie wir sind, ein Wort, das uns immer in Bewegung bringt. Gottes Zusage der Geborgenheit soll in uns etwas verändern. Sie soll uns die Kraft geben zu ganz konkreten Schritten.
Unser Christsein – und ich stelle mich da selber voll mit darunter – leidet oft an einem ganz praktischen Atheismus. Sonntags sind wir Christen, werktags aber faktisch Atheisten, praktische Atheisten. Wir gehen ohne Gott zur Schule, wir gehen ohne Gott zur Arbeit, wir gehen ohne ihn einkaufen. Wir regeln unsere Geldangelegenheiten ohne Gott, wir klammern ihn aus unserem Sexualleben aus und füllen ohne ihn auch noch unsere Terminkalender.
Und sonntags geben wir uns dann wieder eine Dosis Frömmigkeit für eine Woche – ohne Gott.
Aber Gottes Zusagen sind keine Versicherungsscheine, die man nur im Bedarfsfall aus dem Ordner holt, um sie danach wieder abzuheften. Gott macht uns seine Zusagen, damit wir auch in den ganz alltäglichen Dingen unseres Lebens – das geht nachher los, wenn sie nach Hause gehen – ihm mit allem, was wir sind und tun, vertrauen.
Er gibt uns seine Verheißungen, damit wir täglich auf sein Wort bauen und mit ihm leben. Damit wir unseren Alltag umgestalten und verändern lassen. Nicht damit wir uns durch diese Verheißungen in eine falsche Sicherheit führen lassen, sondern in die echte und tiefe Geborgenheit eines Lebens in seiner Gegenwart.
Gottes Wunsch nach Umkehr und die Mahnung an die Gemeinde
Und ein letztes Drittens: Gott will, dass wir umkehren. Gott will, dass wir umkehren.
Wir feiern heute den Israelsonntag. Dieser Sonntag erinnert an die Zerstörung Jerusalams im Jahr 70 nach Christus und an die Zerstreuung der Juden sowie aller Völker. Dieser Sonntag ist nicht nur eine Erinnerung daran, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, sondern zu ihm steht und zu seinen Verheißungen hält.
Dieser Sonntag ist auch eine Mahnung mitten im Kirchenjahr, eine Mahnung an uns. Man kann Gottes Umkehrruf auf Dauer nicht ungestraft überhören. Das Jahr 70 hat gezeigt: Gott kann auch anders. Gottes Wort ist nicht leer; er kann auch Gericht halten. Das wird an der Geschichte Israels immer wieder deutlich, übrigens auch an der Geschichte der Gemeinde Jesu.
Wo sind heute die blühenden Gemeinden in Kleinasien, von denen wir in den Sendschreiben der Offenbarung erfahren? Sie sind verschwunden. Gott hat sie zur Seite gelegt, weil sie die Treue verlassen haben. Wo sind die blühenden Gemeinden in Nordafrika, die prägend und führend waren in den ersten fünf Jahrhunderten der Christenheit? Sie sind ebenfalls verschwunden. Nordafrika ist heute ein islamisches Gebiet. Man kann sich das kaum noch vorstellen.
Gott kann auch eine Gemeinde zur Seite legen, wenn sie sein Wort nicht mehr ernst nimmt. Gott kann eine Kirche zur Seite legen, wenn sie sein Wort nicht mehr ernst nimmt. Und Gott kann auch uns zur Seite stellen, wenn wir sein Wort nicht mehr ernst nehmen. Das gilt auch für unser Leben.
Die Frage nach der inneren Gesundheit des Glaubens
In Tübingen gab es im neunzehnten Jahrhundert einen Theologieprofessor namens Johann Tobias Beck. Eines Tages lud dieser Mann einen seiner Studenten zu einem Spaziergang im Weinberg ein. Dieser Student war der spätere Volksschriftsteller und Evangelist Otto Funke.
Gemeinsam stapften sie die steilen Weinbergstufen hinauf, der Professor vorneweg, der Student hinterher. Der Student sprudelte nur so vor Worten. Er wollte den Professor beeindrucken, sich einschmeicheln – man nennt es heute schleimen. Er träumte von einer theologischen, akademischen Karriere. Hoffte, dass der Professor ihm eine Assistentenstelle anbieten oder ihn vielleicht zum Privatschüler machen würde.
So redete er ohne Punkt und Komma: „Herr Professor, ich lese Buch um Buch! Die Theologie fasziniert mich, sie ist mein Leben, mein Ein und Alles. Ich studiere Tag und Nacht, lese ohne Ende, schaue nicht mehr links und nicht mehr rechts.“ Er sprudelte und sprudelte.
Plötzlich blieb der Professor mitten auf einer Weinbergstufe stehen. Er drehte sich um und schaute den Studenten an. Der Student dachte: Jetzt ist es so weit, jetzt bietet er mir seine Assistentenstelle an. Doch dann fragte Johann Tobias Beck Otto Funke ganz ernst und eindringlich: „Otto, willst du gesund werden? Otto, willst du gesund werden?“
Otto Funke erzählt später in seinen Lebenserinnerungen, dass diese Frage ihn – den frommen Theologiestudenten – zu einer Lebenswende geführt hat. Plötzlich zerbrach und zerfiel die ganze fromme Fassade seines Lebens. Dieser Professor ließ sich nicht mehr täuschen vom äußeren Schein. Das war genau die entscheidende Hilfe für diesen jungen Studenten.
Auch wir stehen vor Gott oft wie dieser junge Student, der nicht müde wird, ihm etwas vorzuspielen: „Lieber Gott, was bin ich doch für ein frommer Hecht! Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche, sogar in die Ludwig-Hofacker-Kirche. Vielleicht bin ich im CVJM oder in der landeskirchlichen Gemeinschaft aktiv. Ich mache Jungschau oder bin im Hauskreis dabei. Ich singe im Kirchenchor oder bin vielleicht sogar Kirchengemeinderat. Ich bin sozial und missionarisch engagiert bis zum Anschlag.“
Aber Gott sieht immer, was krank ist in unserem Leben. Er sieht ins Herz hinein. Er sieht, was krank ist in unserem Leben. Und genauso wie Professor Beck dreht er sich um, schaut uns in die Augen und fragt: „Willst du gesund werden?“
Das ist im Grunde die unausgesprochene Pointe dieser Tempelrede Jeremias: „Willst du gesund werden?“ Gott hält uns eine harte Predigt in diesen Worten des Jeremia. Aber er tut das niemals, um uns zu vernichten oder kaputt zu machen. Immer dann, wenn er hart redet, will er uns heilen. Er will uns zur Umkehr rufen. Er will, dass unser Leben wieder gesund wird. Amen.
Schlussgebet und Segen
Wir wollen beten. Ich darf Sie bitten, die Hände zum Gebet aufzustecken.
Lieber Vater im Himmel, danke, dass wir, auch wenn du hart zu uns redest, die Gedanken der Liebe erkennen dürfen, die hinter deinen Worten stehen. Danke, dass du uns nicht zerstören willst, sondern uns heilen möchtest und unser Leben mit echter und tiefer Geborgenheit umhüllst. Danke für die Geduld, die du unserem Leben immer wieder entgegenbringst.
Wir bitten dich gleichzeitig: Gib uns einen klaren Blick für die Scheinwelten unseres Christseins. Schenke uns den Mut zur Ehrlichkeit, auch wenn sie wehtut. Geh du mit uns die ganz konkreten Schritte auf dem Weg deiner Gerechtigkeit und verändere unser Leben dort, wo Veränderung nötig ist. Nimm uns die Gleichgültigkeit und gib uns ein brennendes Herz für all jene, die Unrecht leiden. Öffne uns die Augen für die Menschen, die auf unsere Hilfe warten.
Herr, wir bitten dich, gestalte unser Leben. Wir bitten dich heute Morgen und ganz besonders für dein Volk Israel. Du weißt um den inneren und äußeren Unfrieden in diesem Volk, der nach wie vor brennt. Wir bitten dich um dauerhaften Frieden zwischen Juden und Palästinensern. Wir bitten dich auch um einen tiefen geistlichen Frieden für die Herzen.
Wir bitten dich darum, dass dein Evangelium laut wird in Israel, damit auch dein altes, buntes Volk Jesus erkennt und annimmt. Alles andere schließen wir nun ein in das Gebet, das du uns gegeben hast:
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Einen gesegneten und guten Sonntag, einen Sonntag unter der Gnade und Güte unseres barmherzigen Herrn. Gehen Sie in diesen Tag als gesegnete Menschen – wir stehen dazu auf!
Der Herr segne euch und behüte euch, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht über euch und gebe euch seinen Frieden.