[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]
Was kommt, liebe Gemeinde? Was kommt auf uns zu? Was kommt für eine Zeit auf uns zu? Ich habe in verschiedenen Büchern nachgeblättert. Ein Soziologe beschrieb das Wachstum der Weltbevölkerung. Die Menge erzeugt Enge. Wenn Menschen zu dicht aufeinander wohnen, beginnt der Kampf aller gegen alle. Das Überleben muss mit dem Preis der Freiheit bezahlt werden. Der Einzelne wird wieder zum Menschenmaterial, zum Kanonenfutter, zur Nummer, zum Es, genau so, wie es in der Antike war. Ganze Sklavenheere wurden bei der Errichtung von Pyramiden verbraucht und endlose Arbeitskolonnen wurden beim Bau der griechischen Kultur verschlissen. Es kommt die Zeit der Skrupellosen, sagt der Soziologe. Ein Politologe beschrieb das Wiedererwachen des Nationalismus. Winzige Zwergstaaten pochen auf ihre Selbständigkeit. Immer findet sich dann eine ausländische Macht, die unter dem Stichwort Freiheit Minderheiten Waffen anbietet. Und das endet in der Regel damit, dass Militärs mit eiserner Hand die Staatsgeschäfte übernehmen. Andersdenkende werden gefangen, gefoltert oder um die Ecke gebracht. Es kommt die Zeit der Tyrannen, sagt der Politologe. Und ein Psychologe beschrieb die Machtergreifung der Massenmedien. Sie machen Mode und Meinung. Sie fabrizieren Verhaltens- und Denkmuster. Sie verschieben Maßstäbe und Normen. Zur täglichen Hass- oder Liebesminute als vorgeschriebene emotionale Übung für alle, wie es George Orwell in seinem Buch "Nineteen Eighty Four" prophezeit hat, ist es nicht mehr weit. Es kommt die Zeit der Manipulierer, sagt der Psychologe. Aber dieser Theologe beschreibt etwas ganz anderes. Im sogenannten "Trostbüchlein für Ephraim", einem zwei Kapitel langen Text innerhalb des großen Prophetenbuches, wird von einem Bund geredet, der neu geschlossen wird, von einem Herz, das neu gefüllt wird, von einem Auge, das neu geöffnet wird. Siehe, es kommt die Zeit Gottes, sagt der Theologe. Mit den andern "..ogen" ist er sich darin einig, dass die Zeiten nicht bleiben, wie sie sind. Ob es die guten Tage sind, die wir haben, oder die bösen Tage, die wir durchleben, alle haben keinen Bestand. Sie fließen dahin und ziehen uns mit. Aber im Gegensatz zu den Schwarzsehern sieht er hell: Siehe, es kommt die Zeit Gottes. Mit den andern Kennern ist er sich darin einig, dass die Weltenuhr nicht stillsteht. Ob es die Stunden des Glücks sind, die wir genießen, oder die Stunden der Verzweiflung, die wir durchleiden, allen fehlt noch etwas. Sie werden durch weitere Stunden ergänzt. Aber im Gegensatz zu den Katastrophenmeldern meldet er den Frieden: Siehe, es kommt die Zeit Gottes. Mit den andern Analytikern ist er sich darin einig, dass die Weltgeschichte nicht plötzlich abbricht. Ob es die Minuten des Sieges sind, die wir genießen und auskosten, oder die Minuten der Niederlage, die wir durchzittern, alle zeigen das Ende an. Sie haben eine zeitliche Fortsetzung. Aber im Gegensatz zu den Unheilspropheten verkündigt dieser Prophet das Heil: Siehe, es kommt die Zeit Gottes. Wir tun also gut daran, jetzt einmal alle andern Sachbücher zu schließen und nur über diesem Trostbuch Gottes Zeit zu bedenken. Wer nämlich mit ihr lebt, lebt mit Gott im Bund, mit Gott im Herz und mit Gott im Auge.
1. Mit Gott im Bund
"Ich will mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen.” Schauen wir einmal unsere Bünde an. Wenn wir zum Beispiel eine Freundschaft eingehen, dann muss der andere gleiche Interessen haben. Es geht ja nicht an, dass er ins Neckarstadion zum Fußball will, während ich gerne in die Liederhalle zum Bachkonzert möchte. Er darf kein Autofan sein, wenn ich ein passionierter Jogger und spezialisierter Trimmer bin. Ein Freundschaftsbund will Interessengleichheit. Oder wenn wir eine Ehe eingehen, dann muss der andere sympathisch sein. Es geht ja nicht an, dass schon sein Tonfall bei mir Allergien auslöst. Er darf kein reaktionärer Typ sein, wenn ich ein liberales Grundmuster besitze. Ein Ehebund will Sympathie. Und wenn wir einen Bundesgenossen suchen, dann muss er für einen schwunghaften Handel sorgen. Es geht ja nicht an, dass eine völlig einseitige Handelsbilanz entsteht. Er darf kein armer Schlucker sein, wenn wir zu den Reichen zählen. Ein Staatenbund will Chancen. So ist das mit unseren Bünden, die immer auf Vorteil ausgerichtet sind. Gott Bund ist anders, ganz anders. Er handelt zu seinem Nachteil. Mit Israel hat er einen Bund geschlossen, hören Sie: mit Israel. Dieses Volk war alles andere als ein starker Partner. Neben den mächtigen Babyloniern und Ägypten fiel dieses arme Würstchen überhaupt nicht auf: "Du bist das kleinste unter allen Völkern", sagt ein Prophet. Hebräer waren es, Habenichtse, die am Rand der Wüste ihre Zeltheringe einschlugen und ihre Lehmhütten bauten. Als sie nichts mehr zu beißen hatten, mussten sie sich als Fremdarbeiter im Ausland verdingen. Geschlagen, gebeutelt, gehasst bis zum heutigen Tag. Mit dem Staat Israel war noch nie Staat zu machen. Aber ohne Grund, ohne Vorleistung, ohne Ansehen, hat sich Gott mit diesem Volk verbündet, mit dem Israel der Habenichtse. Mehr: Ob wohl Israel vertragsbrüchig geworden ist und einseitig den Sinaibund gekündigt hatte, verkündigte dieser Gott: Ich will mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen! Ich will mit jedem Haus eine Verbindung haben. Ich will mit allen im Bunde sein. Das ist die vorlaufende Gnade, die auch uns gilt. Stark sind wir nicht mit unseren tausend Schwächen. Angenehm sind wir nicht mit unseren üblen Launen. Interessant sind wir nicht mit unserer gelebten Langeweile. Sauber sind wir nicht mit unserer Sünde. Vertrauenswürdig sind wir nicht mit unserem Ungehorsam. Und doch will er uns zu Bundesgenossen, selbst dann, wenn wir ihm aus den Fingern gelaufen sind. Vor dem Gericht werden Vertragsbrüchige verurteilt. Im Betrieb werden Unzuverlässigen die Papiere ausgehändigt. Im Heer werden Fahnenflüchtige ausgestoßen. In der Partei werden unsichere Kantonisten vor die Tür gesetzt. Gott aber fängt mit Abweichlern neu an und gibt ihnen eine Chance. Keiner muss ohne diesen Verbündeten leben. Als Martin Luther gefragt wurde, wo er denn bleibe, wenn ihn der Kaiser in die Reichsacht und der Papst in den Bann tue, antwortete er: Sub coelo dei! Unter dem Himmel Gottes! Das ist der neue Bund. Wo Sie denn bleiben, wenn die Schatten länger und die Wege steiler werden: unter dem Himmel Gottes! Wo ich denn bleibe, wenn die Gesundheit nachlässt und Krankheit kommt: unter dem Himmel Gottes! Wo wir denn bleiben, wenn Kriege ausbrechen und das Chaos droht: unter dem Himmel Gottes! Gerade im Bann der Todesmächte kann man im Bund der Gottesmacht geborgen sein. Mit Gott im Bunde, das ist das Erste.
2. Mit Gott im Herz
"Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben." Schauen wir einmal unsere Herzen an. Wenn wir zum Beispiel Undank erfahren, werden wir verbittert. Jahrelang lebte man nur für die Kinder, Feierabend, Wochenenden, Urlaub gehörte nur ihnen. Nichts sollte ihnen an Liebe und Wärme abgehen. Und dann packten sie von einem zum andern Tag die Koffer und zogen ohne Erklärung aus. Undank schafft ein verbittertes Herz. Oder wenn wir Unrecht erfahren, werden wir hart. In einem Streit mit dem Nachbarn ist das Recht auf unserer Seite. Aber es gibt keine Instanz, die das durchsetzt. Winkeladvokaten verdrehen die Rechtslage. Unrecht schafft ein hartes Herz. Oder wenn wir Schmerz erfahren, werden wir traurig. Eine lange Freundschaft geht in die Brüche. Der andere sucht neue Bekanntschaften. Verlassen geht man seinen einsamen Weg, Schmerz schafft ein trauriges Herz. So ist das mit unseren Herzen, die immer Reaktion auf Undank, Unrecht oder Schmerz sind. Gottes Herz ist anders, ganz anders. Es ist nur Aktion seiner Liebe. Mit Israel hat er es vorexerziert. Er lebte für seine Kinder. Tags war er in einer Wolkensäule und nachts in einer Feuersäule bei ihnen. Er sorgte für seine Kinder. Brot fiel vom Himmel und Wasser stürzte aus dem Felsen. Er kämpfte für sein Volk. Feinde wurden in die Flucht geschlagen. Er bezahlte für seine Kinder. Das Land Kanaan, in dem Milch und Honig floss, war umsonst. Nichts fehlte an Liebe und Wärme und Geborgenheit. Aber sie gossen ein goldenes Kalb, bastelten einen hölzernen Baal, meißelten einen steinernen Gott, bauten einen fremden Kult und buhlten mit vielen andern. Trotzdem wurde Gottes Herz nicht hart vor Schmerz, sondern heiß vor Liebe. Sie sollen mein Volk sein. Ihre Schuld soll vergeben sein. Ihre Sünde soll vergessen sein. Ich will ihr Gott sein. Das ist das neue Gesetz, das er auch in unsere Herzen geben will: lieben statt hassen, vergeben statt vergelten, vergessen statt verhärten. Keiner muss ohne diese Herzerweiterung leben. Als der Lehrer Jakob Friedrich Kullen droben auf der Schwäbischen Alb gefragt wurde, wie er denn trotz der Last seines Lehens, trotz den Anschuldigungen von Elternseite, trotz den Verleumdungen um ihn herum einfach heitere Gelassenheit bewahren könnte, antwortete er: Ich habe ein Herz wie ein Scheunentor, wenn es auf mich ankäme, wollte ich alle mit in den Himmel nehmen.
"Ich habe ein Herz wie ein Scheunentor."
Das ist das neue Herz. Was Sie brauchen, wenn die Kinder weggezogen sind, wenn sie nicht mehr schreiben, wenn sie nicht einmal mehr zum Telefon greifen: ein Herz wie ein Scheunentor. Was ich brauche, wenn andere mir Unrecht tun, wenn sie mich angreifen und verletzen: ein Herz wie ein Scheunentor. Was wir brauchen, wenn uns Freunde verlassen, uns links liegen lassen und sogar schneiden: ein Herz wie ein Scheunentor. Gerade bei Herzverhärtung und Herzverengung hilft nur dieses neue Gesetz. Mit Gott im Herz, das ist das Zweite.
3. Mit Gott im Auge
"Sie sollen mich mit ihren Augen alle erkennen, beide, klein und groß." Schauen wir auch noch unsere Augen an. Wenn wir zum Beispiel einen Lebensweg ansehen, der mit seinem Zick-Zack-Kurs und seinen überraschenden Wendungen eher einem Irrweg gleicht, dann sehen wir nur ein hartes Schicksal, das darüber waltet. Oder wenn wir ein Unglück ansehen, das die Welt erschüttert und ein ganzes Volk beben lässt, dann sehen wir nur einen grässlichen Zufall, der immer wieder passieren kann. Oder wenn wir das Sterben ansehen, auf Krankenbetten, im Straßenverkehr, auf dem Schlachtfeld, dann sehen wir nur den übermächtigen Tod, gegen den kein Kraut gewachsen ist. So ist das mit unseren Augen, die nur ansehen können, was vor ihnen ist. Gottes Auge ist anders, ganz anders. Es sieht nicht nur an, es sieht durch, Israels Weg in die Gefangenschaft war keine Sackgasse, sondern eine Durchgangsstraße zum Neuanfang. Das Unglück eines Fremdarbeiterlebens war Teil eines großen Heilsplanes. Der Tod markiert nie das Ende eines Lebensweges: In allem sollen sie mich erkennen, das ist die neue Sicht, die Gott seinen Leuten eröffnen will. Es gibt kein hartes Schicksal, keine grässlichen Zufälle und keinen übermächtigen Tod. Es gibt nur einen lebendigen Gott, der auf dem Umweg zum Ziel, auf dem Irrweg zur Heimat und auf dem Todesweg zum Leben führt. Als Reinhold Schneider, Märtyrer im 3. Reich, gefragt wurde, wie denn sein Weg nun aussehe, wenn ihn die Gestapo verhafte und ins KZ schicke, antwortete er: Ich sehe jeden Weg als Kreuzweg Gottes. Was Sie sehen, wenn Ihr Weg immer verwirrter und unverständlicher wird: Es ist Gottes Kreuzweg. Was ich sehe, wenn dunkle Zonen gerate und die Welt nicht mehr verstehe: Es ist Gottes Kreuzweg. Was wir sehen, wenn wir aufs Krankenlager geworfen und dann ins Sterbezimmer geschoben werden: Es ist Gottes Kreuzweg. Gerade im finstern Tal kann ich Gott im Auge behalten.
Doch, es kommt die Zeit, in der ich mit Gott im Bunde, im Herzen und im Auge leben kann. Genauer: Sie hat schon angefangen. In der Mitte der Zeit ist Jesus Christus auf die Welt gekommen. Mit seinen Leuten setzte er sich zu Tisch. Dann brach er das Brot und schenkte den Becher randvoll: Siehe, das ist der neue Bund in meinem Blut. Wer sich dazusetzt und mitfeiert, dem geht der Bund, das Herz und das Auge auf.
Liebe Freunde, das kommt, das kommt auf uns zu, das kommt in Gottes Zeit auf uns zu. Amen.