Einführung in die Predigtreihe und das Thema Konflikte
Wir starten heute eine kurze Reihe, die sich mit den vier kurzen Briefen des Neuen Testaments beschäftigt: Philemon, die beiden kleineren Johannesbriefe und Judas. Diese Reihe wird uns in den nächsten vier Wochen begleiten.
Heute beginnen wir mit dem Philemonbrief. In den Bibeln, die vor euch liegen, findet ihr ihn auf Seite 248 im hinteren Teil. Alternativ könnt ihr auch die Predigtblätter verwenden, die ihr am Eingang erhalten habt. Es ist sehr hilfreich, den Text vor sich zu haben, da dies das Nachvollziehen des Inhalts deutlich erleichtert.
Konflikte sind leider ein normaler Bestandteil des Lebens in einer gefallenen Welt wie der unseren. Wenn du noch nie in einem Konflikt warst, bist du entweder zu jung zum Sprechen oder hast keinen Kontakt mit anderen Menschen.
Konflikte treten in allen Lebensbereichen auf. Vielleicht mit einem Arbeitskollegen oder dem Chef, der deiner Meinung nach kurz davor ist, dich zu beeinträchtigen. Vielleicht auch mit einem sonst sehr guten Freund, mit dem du aus irgendeinem Grund nicht mehr Auge in Auge schauen kannst.
Manchmal liegen Konflikte näher, in der Familie. Der Cousin, den du nicht ausstehen kannst, oder die Tante, die dich ständig ärgert. Konflikte können auch innerhalb der eigenen Familie entstehen: Geschwister, die wegen einer Erbschaft zerstritten sind, Eltern und Kinder, zwischen denen der Generationsunterschied zu groß scheint, um ihn zu überbrücken.
Ich weiß nicht, ob wir noch Teenager unter uns haben, aber auch ihr kennt das wahrscheinlich aus der Schule. Konflikte mit Klassenkameraden, die ihr nicht mögt, oder mit den eigenen Eltern, die ihr meint, euer Vergnügen verderben zu wollen.
Wisst ihr, wo Konflikte auch oft vorkommen? In Gemeinden. Ja, genau. Vielleicht mit der Frau, die dich ständig böse anschaut, mit dem Mann, der mal harsch mit dir war, oder mit der ganzen Gruppe, die ständig über dich redet, anstatt mit dir zu sprechen.
Konflikte kennen wir alle leider viel zu gut, denn zwischen zwei Menschen sind immer mindestens zwei Sünder beteiligt. Wenn man in einem Konflikt steckt, ist es schwierig, daraus herauszukommen. Oft beharrt man lieber auf dem eigenen Recht und will sich selbst rechtfertigen.
Wenn wir von jemandem schon oft verletzt wurden, können wir in manchen Fällen sogar diejenigen, die uns verletzt haben, als hoffnungslose Fälle abstempeln. Deshalb geben wir diese Menschen einfach auf und verschließen uns. Vielleicht tun wir das auch, um uns selbst zu schützen.
Der Brief des Paulus an Philemon: Kontext und Inhalt
Ein ähnliches Problem hatte Philemon im ersten Jahrhundert. Ich möchte den gesamten Text mit euch lesen, damit ihr mitverfolgen könnt.
Paulus, ein Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, an Philemon, den Lieben, unseren Mitarbeiter, und an Aphia, die Schwester, und Archippus, unseren Mitstreiter, sowie an die Gemeinde in deinem Haus.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
Ich danke meinem Gott allezeit, wenn ich deiner gedenke in meinen Gebeten, denn ich höre von der Liebe und dem Glauben, die du hast an den Herrn Jesus und gegenüber allen Heiligen. So bete ich, dass der Glaube, den wir miteinander haben, in dir kräftig werde in der Erkenntnis all des Guten, das wir haben in Christus.
Denn ich hatte große Freude und Trost durch deine Liebe, weil die Herzen der Heiligen durch dich, lieber Bruder, erquickt sind.
Darum, obwohl ich in Christus volle Freiheit habe, dir zu gebieten, was sich gebührt, will ich um der Liebe willen doch nur bitten. So wie ich bin, Paulus, ein alter Mann und nun auch ein Gefangener Christi Jesu.
So bitte ich dich für meinen Sohn Onesimus, den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft, der dir früher unnütz war, jetzt aber dir und mir sehr nützlich ist.
Diesen sende ich dir wieder zurück – und damit mein eigenes Herz.
Ich wollte ihn gern bei mir behalten, damit er mir an deiner Statt in der Gefangenschaft um des Evangeliums willen dient. Aber ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, damit das Gute dir nicht abgenötigt sei, sondern freiwillig geschehe.
Denn vielleicht war er darum eine Zeit lang von dir getrennt, damit du ihn auf ewig wiederhättest. Nun nicht mehr als einen Sklaven, sondern als einen, der mehr ist als ein Sklave: ein geliebter Bruder, besonders für mich, wie viel mehr aber für dich, sowohl im leiblichen Leben als auch im Herrn.
Wenn du mich nun für deinen Freund hältst, so nimm ihn auf wie mich selbst.
Wenn er dir aber Schaden angetan hat oder dir etwas schuldig ist, das rechne mir an. Ich, Paulus, schreibe es mit eigener Hand, ich will es bezahlen.
Ich schweige davon, dass du dich selbst mir schuldig bist.
Ja, lieber Bruder, gönne mir, dass ich mich an dir erfreue im Herrn. Erquicke mein Herz in Christus.
Im Vertrauen auf deinen Gehorsam schreibe ich dir, denn ich weiß, du wirst mehr tun, als ich sage.
Zugleich bereite mir die Herberge, denn ich hoffe, dass ich durch eure Gebete euch geschenkt werde.
Es grüßen dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, Markus, Aristarch, Demas, Lukas, meine Mitarbeiter.
Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist.
Obwohl wir nicht die ganze Geschichte kennen, können wir aus den Puzzleteilen in diesem Brief doch manches ableiten.
Paulus schreibt an einen engen Freund. Philemon hat in Kolossä gewohnt, das entnehmen wir Kolosser 4,9, wo Paulus Onesimus zurückschickt nach Kolossä und sagt, er ist einer von euch. Daher wissen wir, dass er aus Kolossä stammt.
Philemon scheint wohlhabend zu sein. Sein Haus ist groß genug, um eine Gemeinde unterzubringen, wie wir in Vers 2 sehen.
Spät in Vers 16 erfahren wir, dass Onesimus, um den es geht, ein Leibeigener ist, ein Hausdiener. Er hatte mindestens einen, aber sehr wahrscheinlich mehrere.
Er ist ein vorbildlicher Christ. Philemons Liebe und sein Glaube sind sichtbar und bekannt, das sagt Paulus in Vers 5.
In Vers 7 lesen wir, wie der Glaube und die Liebe, die Philemon ausstrahlt, andere Christen ermutigen und erfrischen – letztlich auch Paulus, der dadurch viel Freude und Trost erfährt.
Wie gesagt, Philemon hatte zumindest einen Hausdiener, einen Leibeigenen oder Sklaven: Onesimus.
Dieser schien erstens ein unnützer Diener gewesen zu sein. In Vers 11 lesen wir das, und das ist ironisch, denn der Name Onesimus bedeutet „nützlich“. Paulus spielt hier auf seinen Namen an.
Onesimus war also zunächst unnütz; er hat Unrecht getan, vielleicht etwas gestohlen oder etwas versäumt. Einen Hinweis darauf finden wir in Vers 18.
Dann ist er anscheinend weggelaufen oder von Philemon weggeschickt worden, weil er die Nase voll hatte. Das sehen wir in Vers 12 und 15.
Ihr müsst das jetzt nicht alles nachlesen, aber ich bringe einfach die Puzzleteile zusammen: Onesimus ist nach Rom geflohen und hat dort Paulus getroffen.
Ob Paulus ihn davor kannte oder nicht, ist unklar. Jedenfalls begegnete er Paulus in Rom.
Nach einer Weile mit Paulus wird Onesimus Christ, das sagt Paulus in Vers 10.
Nun schickt Paulus Onesimus zurück zu seinem Herrn und bittet Philemon, ihn wieder aufzunehmen.
Man sollte das nicht einfach so lesen. Für Philemon, den Hausherrn, wäre das wahrscheinlich eine große Zumutung.
Onesimus hat ihm bisher nur Kopfschmerzen bereitet. Er ist wahrscheinlich ein Dieb, auf jeden Fall sehr wahrscheinlich ein entflohener Sklave.
Unter römischem Recht war das Horror. Das sollte man nicht machen.
Onesimus hat sich an Philemon versündigt und auch rechtlich steht es um ihn nicht gut.
Nach römischem Recht hätte Philemon das Recht, Onesimus zumindest auszupeitschen.
Philemon hatte also zumindest nach römischem Recht Recht, was den Besitz betrifft.
Auch menschlich hat er Recht: Onesimus hat ihm gestohlen, etwas genommen.
Paulus aber erinnert Philemon an Gottes Gnade.
Philemon kennt das Evangelium der Gnade und hat den Geist Gottes in sich.
Er, wie alle Christen, wurde in eine Gemeinschaft der Gnade und Annahme hineingerufen, als er Gottes Vergebung empfangen hat.
Deshalb sollten er und andere Christen Gemeinschaft erleben, die von Vergebung und Annahme geprägt ist.
Eine Gemeinschaft von Menschen, die Gnade empfangen haben und sie gerne weitergeben – eine Gnadengemeinschaft, wenn man so will.
So fordert Paulus Philemon auf, seine Einstellung vom Evangelium prägen zu lassen und nicht aus rechtlichen Gründen zu handeln.
Das besteht aus vier Aspekten, die wir nun nacheinander anschauen wollen.
Gnade über Recht stellen
Der erste Punkt ist folgender: In einer Gnadengemeinschaft wird Gnade über Recht gestellt.
Es ist unser normales Empfinden, wenn uns jemand Unrecht tut, um unser Recht zu kämpfen. Manchmal suchen wir sogar nach Genugtuung. Und doch bittet Paulus, entgegen der normalen menschlichen Vorgehensweise, dass Philemon auf sein Recht verzichtet und stattdessen Onesimus aufnimmt. Er soll vielmehr Gnade zeigen, denn in einer Gnadengemeinschaft ist Gnade das Fundament von allem, was geschieht.
Vielleicht haben Sie das bemerkt: Gnade bildet den Rahmen dieses Briefs, sowohl am Anfang als auch am Ende. Paulus beginnt seine Briefe immer mit der Gnade des Herrn und endet sie auch damit, weil dies bedeutsam ist. Er will sagen: Euer ganzes Leben, liebe Christen, also liebe Gemeinden, an die ich schreibe, soll von Gnade geprägt sein, soll von der Gnade Christi geprägt sein. Hier ist es nicht anders. Er will jedes Mal an die Gnade Gottes erinnern. Das sehen wir in Vers 3 und Vers 25. Das ist die Motivation.
Philemon soll daran denken, dass auch er von Herrn Gnade erfahren hat. Würde der Herr auf sein Recht bestehen und fordern, dass Philemon den Preis für seine Sünde zahlt, dann wäre er hoffnungslos verloren. Aber Philemon hat Gottes Gnade erlebt. Ein unverdientes Geschenk der Errettung hat Philemon von Gott bekommen.
Nun, wenn der Herr bei Philemon nicht auf Recht und Gesetzmäßigkeit bestanden hat, wie soll sich Philemon im Umgang mit anderen verhalten, die ihm Unrecht tun? Wenn Gott uns Gnade gezeigt hat, gebührt es sich, dass wir gnädig mit anderen Menschen umgehen. Das ist es, woran Paulus Philemon erinnern will.
Für Paulus sind es auch nicht bloße Worte, die er hier weitergibt. Er lebt es auch vor. In Vers 8 sagt Paulus, als Apostel hätte er alles Recht gehabt, Philemon zu gebieten, den Onesimus wieder aufzunehmen. „Philemon schuldet ihm auch irgendwas“, sagt er in Vers 19, ohne genau zu sagen, was. Paulus hätte diese Schuld jetzt abverlangen können und sagen können: „Ja, du schuldest mir was, also nimm Onesimus zurück.“ Aber das macht er nicht.
Er will Philemon zunächst nicht zwingen. Paulus stellt Gnade über Recht gemäß dem Evangelium. Und ebenso erwartet er das von Philemon. Was treibt den gnädigen Umgang an? Es ist die Liebe. Die Liebe soll den Umgang miteinander prägen, das sagt Paulus zum Beispiel in Vers 9. Er will, dass die Liebe das Handeln bestimmt, und er weiß, dass Philemon diese Liebe hat. Das haben wir vorhin gesehen. Er lobt Philemon für seine Liebe, die vorbildlich ist in der ganzen Gegend unter den Christen.
Gott hat Philemon eine Liebe bewirkt, ihm eine Liebe für Menschen geschenkt, die zu anderen hinausfließt. Paulus betet auch genau deswegen weiter. In Vers 6 lesen wir sein Gebet für Philemon. Das ist ein schwieriges Gebet zu verstehen, aber sinngemäß bedeutet es Folgendes: Paulus betet, dass Philemons Glaube wirksam wird, sodass andere Christen dadurch den Gewinn und den Segen des lebendigen Christus durch das Evangelium unter allen Gläubigen erfahren.
Kurz gesagt: Paulus erwartet, dass die Liebe Gottes auch Frucht hervorbringt in Philemon. Deshalb bittet Paulus Philemon, die Liebe Gottes, die er von Gott schon empfangen hat und weiterhin empfangen wird, im Fall Onesimus anzuwenden.
Ihr Lieben, die Einstellung, auf Recht zu verzichten und stattdessen Gnade zu zeigen, wird dadurch getrieben, dass wir der Liebe Gottes mehr und mehr Raum geben in unserem Leben. Dass wir die Gnade Gottes mehr und mehr in uns wirken lassen.
Meine Frage an uns alle heute: Verstehen wir diese Liebe wirklich? Haben wir die Gnade Gottes in Christus wirklich verinnerlicht? Gott hat uns in Christus in Gnade aufgenommen und hat von uns keine Wiedergutmachung gefordert, bevor er uns aufgenommen hat.
Wollen wir auf Recht bestehen und keine Gnade zeigen in unseren Konflikten? „Ja, er muss bezahlen, aber sie muss eine Lektion lernen.“ Was wäre, wenn Gott das von uns sagen würde?
Ihr Lieben, wie Gott mit uns umgegangen ist, so sollen wir mit anderen umgehen. Gnade über Recht in unseren Beziehungen – das ist evangeliumsgemäß. Das ist Evangelium.
Das war Nummer eins.
Veränderung als Zeichen einer Gnadengemeinschaft
Punkt Nummer zwei: In einer Gnadengemeinschaft wird Veränderung sichtbar.
Ich glaube, einer der Gründe, warum wir in Konflikten nicht nachgeben, ist, dass wir denken, die betreffende Person wird sich nie ändern. Was bringt es, Menschen immer wieder Chancen zu geben – vor allem, wenn wir die Person schon sehr lange kennen? Vielleicht war das auch Philemons Einstellung, als Onesimus ihn verlassen hatte. Vielleicht dachte er, er lasse ihn einfach ziehen, weil keine Hoffnung mehr für ihn bestehe. Wahrscheinlich ahnte er nicht, was mit Onesimus danach geschah: Er wurde gläubig.
Paulus benutzt in Vers 10 ein Bild von einer Zeugung, um auszudrücken, dass ein neuer Mensch entstanden ist, eine neue Kreatur. Dieser neue Mensch verhält sich auch ganz anders. Wir haben schon darüber nachgedacht, dass der Name Onesimus „nützlich“ bedeutet. In Vers 11 sagt Paulus, dass er früher unnütz war. Paulus stimmt also Philemon zu – Onesimus war unnütz. Aber als er zu Christus fand, wurde er nützlich. Er ist sogar so ans Herz von Paulus gewachsen, dass Paulus in Vers 12 sagt, er habe ihn lieb gewonnen und bei sich behalten. So wichtig ist er für Paulus geworden.
Ist das nicht schön? Das Evangelium hat klare Auswirkungen im Leben von Menschen. Es ist wirklich Gottes Kraft zur Veränderung. Diese Veränderung ist unerlässlich, wenn wir sie auch in unseren Beziehungen sehen wollen. In einer Gemeinde, Familie oder einem Freundeskreis, in dem das Evangelium herrscht, zeigt sich das.
Glaubt ihr das? Ich hoffe es. Das Evangelium verändert Menschen und somit auch schwierige Beziehungen. Erwarte Gottes Wirken im Leben eines Gegenübers – vor allem, wenn diese Person Christ ist.
Ein Pastor gab mir einmal einen schönen Rat: Ich solle nicht nur darauf schauen, wo die Person jetzt steht, sondern auch, woher sie gekommen ist. Es ist sehr einfach, eine Momentaufnahme zu machen und zu sagen: „Boah!“ Doch wenn man etwas zurückblickt, merkt man, dass Gott arbeitet. Wenn wir Menschen betrachten, die das Evangelium gehört haben und im Glauben über eine Zeit wachsen, werden wir Entwicklung sehen.
Diese längerfristige Perspektive und die Überzeugung, dass das Evangelium Menschen neu macht, hilft uns, mit zwischenmenschlichen Schwierigkeiten umzugehen. Denn uns ist klar: Wir sind alle noch im Prozess. Wir sind eben nicht perfekt. Gott arbeitet auch in mir, Gott ist mit mir und mit euch noch nicht fertig.
Also habt Geduld miteinander – genauso, wie Gott mit uns geduldig ist. Wenn wir selbst Fehler machen, hoffen wir, dass andere geduldig mit uns sind und uns eine neue Chance geben. Seien wir auch so mit anderen.
Es gibt Onesimusse unter uns, die durch die Kraft des Evangeliums umgewandelt werden. Du bist auch so einer. Lass uns einander also akzeptieren und nicht vergessen: Gott verändert Menschen. In einer Gnadengemeinschaft ist Veränderung möglich und hoffnungsvoll.
Neu definierte Beziehungen in der Gnadengemeinschaft
Aspekt Nummer drei: In einer Gnadengemeinschaft werden Beziehungen neu definiert.
Vergleicht für einen Moment eure Beziehungen zu Geschwistern mit denen zu Freunden. Was ist der Unterschied?
Erstens: Freunde kann man wählen. Freundschaften sind deshalb nicht immer lebenslänglich. Ich kann jederzeit sagen: „Okay, mit dieser Person habe ich jetzt weniger zu tun, mit jener ein bisschen mehr, morgen vielleicht mit der einen weniger und mit dem anderen mehr.“ So flexibel sind Freundschaften.
Das ist bei Geschwistern anders. Natürlich gibt es manchmal schlechte Geschwisterbeziehungen, und manchmal sind Freundschaften enger als manche Geschwisterbeziehung. Aber im Allgemeinen sind geschwisterliche Beziehungen unauflösbar. Deshalb ist die Liebe zwischen Geschwistern meist bedingungsloser als zwischen Freunden.
Mein ältester Bruder und ich haben oft heftig gestritten, als wir aufgewachsen sind. Es war nie körperlich, denn unsere Eltern haben uns das gut beigebracht. Aber unsere Worte waren manchmal sehr verletzend. Sie waren so schlimm, dass wir kaum ein positives Wort miteinander sagen konnten.
Wenn ich an solche Streitereien mit anderen Leuten denke, die nicht meine Brüder wären, dann wären wir längst keine Freunde mehr. Wir würden uns schon lange aus dem Weg gehen. Aber ich liebe meinen Bruder, und er liebt mich – egal, was zwischen uns passiert ist. Wir stehen füreinander ein, mögen einander und wollen uns sehen.
Ich wünsche ihm nur das Beste, und ich weiß, dass er das für mich auch will. Ich wäre wirklich traurig, wenn ihm etwas zustoßen würde. Denn uns verbindet etwas Größeres als wir selbst: Wir sind Familie.
Weil wir Familie sind, lernen wir, einander zu ertragen. Wir lernen, die Fehler des anderen zu akzeptieren, darüber hinwegzusehen und bedingungslos zu lieben – trotz vieler Makel.
Liebe Gemeinde, als Onesimus zum Glauben kam, änderte sich sein Status. Er war nicht mehr irgendwer, sondern ein Kind Gottes. Er wurde in die Familie Gottes adoptiert. Das hatte Auswirkungen auf seine Beziehung zu Philemon.
Vorher war er nur ein Hausdiener, ein Leibeigener. Wenn es euch stört, dass Philemon als Christ einen Sklaven hatte: Man darf hier nicht an Sklavenhandel denken. Diese Sklaven hatten zwar nicht viele Rechte, aber es war nicht so schlimm wie Sklavenhandel. Es war eher wie ein Hausdiener.
Also war Onesimus vorher nur dieser Hausdiener. Jetzt aber ist er, wie in Vers 16 steht, ein Bruder – ein lieber Bruder.
Philemon hat einen Knecht verloren, aber einen Bruder gewonnen. Ihre Beziehung sollte nicht mehr durch Leistung und Rivalität bestimmt sein, sondern durch geschwisterliche Liebe und Brüderlichkeit.
Diese Beziehung ist besser, weil sie enger ist. Sie ist unauflösbar. Vers 15 sagt: „Einen Bruder auf ewig hat er bekommen.“
Liebe Gemeinde, ist euch das bewusst, wenn ihr an eure Gemeinde denkt? Das sind eure Brüder und Schwestern. Wisst ihr, was euch verbindet? Es ist stärker und dauerhafter als jede irdische Verbindung. Diese Verbindung hält ewig.
Seid ihr euch bewusst, dass eure Glaubensgeschwister euch tatsächlich untrennbarer verbunden sind als eure leiblichen Geschwister, wenn diese nicht gläubig sind?
Manche hören das und empfinden es vielleicht unangenehm. Ich hoffe aber, dass es euch motiviert, euch nicht von kleinen irdischen Problemen bestimmen zu lassen.
Bedenkt, wer wir in Christus sind, und lebt auch in dieser Hinsicht mit der Perspektive der Ewigkeit. Eure kleinen Konflikte miteinander werden in hundert Jahren keine Rolle mehr spielen.
Wir reiben uns an manchen Glaubensgeschwistern, und manchmal wünschen wir uns, mit dem einen oder anderen nichts zu tun zu haben. Aber, liebe Gemeinde, in Gottes Weisheit und Vorhersehung hat er genau diese Menschen in euer Leben gestellt.
Nicht, weil er euer Leben schwierig machen will, sondern damit ihr in dieser Situation lernt, was es bedeutet, bedingungslos zu lieben und einander anzunehmen.
Er will, dass wir lernen, mit den Schwächen des anderen umzugehen und sie trotzdem anzunehmen – so, wie Christus uns angenommen hat.
So werden wir immer mehr wie Jesus Christus. Und nur so wären wir alle perfekt. Denn ohne die Möglichkeit, in Gnade zu wachsen, könnten wir Jesus nicht widerspiegeln.
Wir tun das für die Geschwister nicht, weil sie es verdienen, sondern weil wir in einer gnadengeprägten Familie sind – mit Jesus als unserem Vorbild und Herrn.
Dadurch erkennen wir besser, was es heißt, dass Gott uns bedingungslos liebt. Und je mehr wir darin wachsen, desto ähnlicher werden wir Gott.
Meine Hoffnung ist, dass wir in unserer Gemeinde, in unserer Gnadengemeinschaft, so über die Glaubensgeschwister denken: Wir sind Familie. Wir sind Familie.
Umgang mit Sünde und Versöhnung in der Gnadengemeinschaft
Letzter Aspekt
In einer Gnadengemeinschaft wird der Sünder gesühnt. Christen sind gesühnt – das bedeutet, dass Christen neue Kreaturen sind. Dennoch haben sie noch mit dem Fleisch zu kämpfen und versündigen sich weiterhin aneinander. Eines Tages werden wir vollkommen vor dem Herrn stehen. Doch noch leben wir in dieser Realität, in der wir gefallene Kreaturen sind. Eines Tages wird das nicht mehr so sein. Weil es heute aber noch so ist, stellt sich die Frage: Was sind die menschlichen Reaktionen auf Konfliktsituationen? Normal, also menschlich gesehen, wie reagieren wir?
Ich habe mindestens drei Reaktionen gefunden, die mir in Konflikten oft auffallen. Vielleicht gibt es noch mehr, aber diese drei sind mir besonders präsent.
Erstens: Vertuschen. Das bedeutet, besser nicht darüber zu reden und so zu tun, als ob nichts passiert wäre. Einfach weiterleben. Das Problem dabei ist, wenn der Druck zu groß wird, kommt alles irgendwann doch heraus.
Zweitens: Verbannung. Menschen verachten und ausgrenzen, mit denen wir ein Problem haben. Über sie reden, über sie tratschen und sie quasi aus allen Kreisen verbannen, in denen wir uns bewegen.
Drittens: Verkleinern. Die Sünde wird nicht wirklich als Sünde benannt, sondern irgendwie gerechtfertigt oder verharmlost.
Das sind menschliche Lösungen im Umgang mit Sünde in der Gemeinde. In einer Gnadengemeinschaft funktioniert das anders – oder sollte anders funktionieren.
In den Versen 17 bis 19 sehen wir, wie die richtigen Reaktionen aussehen. Paulus übersieht die Schuld von Onesimus nicht. Er spricht sie an. Er sagt nicht zu Philemon: „Es war nicht so schlimm, passt schon.“ Nein, er redet offen darüber. Keine Vertuschung, kein Verkleinern des Sünders.
Außerdem tritt Paulus für den busfertigen Schuldigen ein. Er ermutigt Philemon, Onesimus aufzunehmen. Also keine Verbannung, kein hoffnungsloser Fall. Hier sehen wir eine gesunde Vorgehensweise, die Paulus uns vorlebt.
Konfrontation ist notwendig, aber die Person darf nicht verachtet werden. Es wird darum bemüht, die Person zurückzugewinnen. Wenn sie Buße getan hat, soll sie auch wieder aufgenommen werden. Denn wenn uns der Herr vergeben hat, was können wir dann einer Person vorenthalten, die Buße getan hat? Wenn der Herr ihr vergibt, können wir es nicht ablehnen. Das passt nicht zusammen.
Der Herr hat die größere Stimme, das größere Wort.
So sehen wir, wie Paulus mit der Sünde von Onesimus umgeht: Er vertuscht nicht, er verharmlost nicht und er verbannt Onesimus nicht.
Noch eine weitere Sache sehen wir: die Rolle des Friedenstifters, der quasi als dritte Person in einem Konflikt auftritt. Das ist auch für uns als Glaubensgeschwister in einer Gemeinde wichtig zu wissen, gerade wenn viele hier sind.
Wenn ihr von einem Konflikt wisst und die beiden Personen euch nahestehen, dann geht euch dieser Konflikt etwas an. Es ist wichtig, nicht zu sagen: „Das ist nicht mein Geschäft, das geht mich nichts an.“ Das ist keine Einladung, sich überall einzumischen, vor allem nicht, wenn man den Konfliktparteien fernsteht. Aber wenn ihr die Personen kennt, die im Konflikt sind, dann solltet ihr, so weit es möglich ist, die Rolle des Friedenstifters einnehmen.
Paulus gibt uns hier ein Beispiel: Er vertritt Onesimus. Er ist bereit, die Kosten zu übernehmen, damit die Versöhnung zwischen Onesimus und Philemon stattfinden kann. Das sagt er in Vers 18 und 19. Onesimus ist wahrscheinlich nicht in der Lage, die Schuld, die er bei Philemon hat, zurückzuzahlen. Paulus sagt: Ich mache das, weil mir der Friede zwischen euch wichtiger ist. Ich übernehme die Kosten, damit Frieden zwischen euch besteht.
Ist das nicht ein schönes Bild für Christus und sein Opfer? Viel schlimmer sind wir gegenüber Gott: Onesimus gegenüber Philemon. Gott hätte jedes Recht, uns wegen unserer Sünde zu richten. Aber er ließ Frieden zwischen uns stiften – durch den Friedenstifter Jesus.
Jesus vertrat uns sündige Menschen vor dem Vater und nahm unsere Schuld auf sich, sodass nichts mehr zwischen uns und dem Vater steht.
Paulus, der die Versöhnung in Christus erlebt hat, agiert jetzt als Friedenstifter zwischen seinen Glaubensbrüdern.
Bis hierhin denken wir über diese Versöhnung, die Gott für uns gewirkt hat, normalerweise nur im Blick auf Gott, also vertikal.
Der Epheserbrief, insbesondere Epheser 2, macht uns deutlich, dass das Versöhnungswerk Gottes zweidimensional ist. Er versöhnt uns nicht nur mit sich selbst, sondern auch miteinander.
Wenn wir nur an diese vertikale Beziehung denken, haben wir es nur halb verstanden. Das Evangelium wirkt sich auch auf unsere horizontalen Beziehungen aus.
Deshalb ist Paulus Friedenstifter. Er weiß das und erkennt es. Ich hoffe, dass auch wir das erkennen.
Versöhnung kostet Leben. Manchmal sehr viel. Deswegen bleiben viele lieber im Konflikt. Aber das ist nicht der Weg des Evangeliums.
Lasst euch von der Liebe Gottes motivieren, der so viel gab, damit wir mit ihm versöhnt werden konnten.
So läuft es, liebe Geschwister, in einer Gnadengemeinschaft: Gnade statt Gesetzlichkeit, veränderte Leben, enge brüderliche Beziehungen und die Aufdeckung, gefolgt vom Zudecken von Schuld.
Ja, Sünde wird gesühnt.
Dabei können wir das Gebet von Paulus in Vers 6 auch auf uns beziehen. Paulus betet, dass das, was Philemon in Jesus Christus kennt, Frucht bringt und wirkungsvoll ist. Und Gott wird das tun. Das ist sein Wille für uns als seine Kinder.
Abschluss und Gebet
Wie er mit uns umgegangen ist, so wollen wir auch miteinander umgehen. Nehmen wir uns eine Zeit der Stille, in der wir vor dem Herrn bringen, was uns in Bezug auf dieses Thema beschäftigt. Danach möchte ich mit dem Gebet abschließen.
Vater, wir danken dir für das Vorbild, das du uns in Jesus Christus hinterlassen hast – zuerst und vor allem. Auch durch diesen Brief, Herr, durch die Beziehung zwischen Philemon, Onesimus und Paulus, wollen wir von dir lernen.
Bitte lass uns von deiner Liebe motiviert und von deinem Geist befähigt werden, so zu leben, Herr. Hilf uns, in Konfliktsituationen biblisch und evangeliumsgemäß zu handeln.
Herr, ich bete für diejenigen unter uns, die gerade in einer Konfliktsituation stecken. Zeige deine Barmherzigkeit in diesen Situationen und schenke Veränderung dort, wo sie nötig ist. Gib uns die Bereitschaft zu vergeben, wenn diese noch nicht vorhanden ist. Schenke uns eine ewige Perspektive, besonders wenn der andere ein Glaubensbruder oder eine Glaubensschwester ist.
Vater, wir beten, dass du uns auch Ideen und Strategien gibst, wie wir Konfliktlösungen angehen können, Herr. Bitte lass es für uns konkret werden.
Und Herr, bewahre uns davor, menschliche Reaktionen in unseren Konflikten anzuwenden, wie Vertuschen, Verkleiden oder Verbannen. Lass uns Konflikte nicht egal sein. So weit es an uns liegt, hilf uns, in Frieden mit allen Menschen zu leben – vor allem mit unseren Glaubensgeschwistern.
Das beten wir in Jesu Namen. Amen.