Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Wir hatten uns vorgenommen, in dieser österlichen Zeit einige Bilder aus dem Leben des eher unbekannten Apostels Philippus zu besprechen. Heute hören wir ein Wort aus Johannes 14. Dort spricht Philippus zu Jesus: „Herr, zeige uns den Vater, so genügt uns das.“
Jesus antwortet ihm: „So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie kannst du also sagen: ‚Zeige uns den Vater‘?“
Herr, heilige uns in deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Die Herausforderung des Zwischenrufs im Gespräch mit Jesus
Kürzlich habe ich ein szenographisches Protokoll einer Bundestagssitzung gelesen. Dabei musste ich daran denken, wie schwer es die Redner im Bundestag haben, weil sie ständig durch Zwischenrufe unterbrochen werden. Wenn man gerade einen schönen Satz begonnen hat, wird man sofort durch einen Zwischenruf gestört.
Da dachte ich, dass wir Prediger es eigentlich leichter und bequemer haben. Trotzdem stellt sich die Frage, ob es nicht manchmal ganz gut wäre, wenn hier auch mal ein Zwischenruf hörbar wäre. Ich bin überzeugt, dass in Gedanken mancher Zwischenruf gemacht wird. Allerdings ist es nicht üblich, dass der Pastor unter dem Schutz dieser uralten Sitte widersprochen wird.
Bei Jesus war das anders. Eine der größten und eindrucksvollsten Predigten, die der Herr Jesus gehalten hat, steht in Johannes 14 bis 16. Er hielt sie vor dem kleinen Kreis seiner Jünger, nach dem Abendmahl, ehe sie gemeinsam in den Garten Gethsemane gingen. Man darf nicht denken, dass es einfach ein Gespräch war. Es war eine feierliche Stunde, so feierlich wie hier, als der Herr Jesus diese sogenannte Abschiedsträe hielt. Sie ist so groß und wichtig, dass Johannes sie uns genau überliefert hat.
Oft werde ich gefragt, wie Johannes das alles so genau behalten konnte. Ich antworte dann, dass der Herr Jesus gesagt hat: Der Heilige Geist wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Der Heilige Geist hat Johannes daran erinnert. Johannes hat sogar das große Schlussgebet, Johannes 17, genau aufgezeichnet, mit dem der Herr Jesus seine gewaltige Predigt beendet hat.
Diese Stunde war also bestimmt mindestens so feierlich wie unser Gottesdienst, auch wenn hier niemand so schrecklich feierlich zugibt. Trotzdem wurde der Herr Jesus in dieser großen Predigt zweimal durch Zwischenrufe unterbrochen – und zwar durch deutliche, knallende Zwischenrufe.
Den ersten Zwischenruf machte der sehr kritische Jünger Thomas, der nicht glauben konnte, dass der Herr auferstehen würde. Den zweiten Zwischenruf machte unser Philippus, der uns, die wir hier regelmäßig zusammenkommen, allmählich vertraut ist. Mit diesem zweiten Zwischenruf haben wir es nun zu tun – mit dem Zwischenruf des Philippus.
Philippus: Ein ungewöhnlicher Suchender nach Gott
Das Wort, als ich es eben gelesen habe, hat mich dazu gebracht, über diese Predigt Jesu nachzudenken. Ich möchte noch einmal vorlesen: Jesus spricht zu Philippus, der einen Zwischenruf macht: „Herr, zeige uns den Vater, so genügt uns das.“ Jesus antwortet ihm: „Solange ich bei euch bin, kennst du mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater.“
Wir überschreiben diese Predigt mit dem Text des Zwischenrufs. Wie üblich gliedert sich die Predigt in drei Teile.
Erstens: Der Mann, der den Zwischenruf macht. Die Essener sprechen ja bekanntlich drei Sprachen: Ostpreußisch, Deutsch und Essenerisch. Es gibt in der Essener Sprache einen netten Ausdruck, den ich ab und zu im Weigelhaus höre, wenn jemand etwas Seltsames tut. Dann sagt man: „Du bist mich ein Seltener.“ So etwas sagt zum Beispiel Kumpel Anton.
Nun, meine Freunde, Philippus ist hier ein Seltener – das kann ich wohl sagen. Er ist ein seltener Mann, einer, der aus der Reihe tanzt. Er fragt ernsthaft nach dem lebendigen Gott. Wer tut das heutzutage? „Zeige uns den Vater, so genügt uns das!“ Wer fragt das noch?
Es gibt ein großartiges Wort im Buch Hiob, das gut in unsere Zeit passt. Dort wird beschrieben, dass der Mensch im Jahr 1959, mit 50 Jahren, abgesehen von ein paar dummen Flapsereien oder Zoten, eigentlich nur ein Thema kennt. Dieses Gesprächsthema ist die Ungerechtigkeit der Welt, die Gemeinheit der Vorgesetzten, der Chefs, der Eltern und der Lehrer.
Ich möchte dieses Wort einfach vorlesen und Ihnen wörtlich sagen. Dort heißt es: „Man schreit, dass viel Gewalt geschieht, und ruft: Seht her, über den Arm der Großen! Aber man fragt nicht: Wo ist Gott, mein Schöpfer, der Lobgesänge gibt in der Nacht?“
Das ist eine treffende Schilderung unserer Zeit, nicht wahr? Man schreit viel über Gewalt, aber man fragt nicht: Wo ist Gott, mein Schöpfer?
Nun, Philippus macht eine Ausnahme. Er ist ein Seltener. Er fragt: „Wo ist Gott, mein Schöpfer, der Lobgesänge gibt in der Nacht? Zeige uns den Vater, so genügt uns das!“ Offensichtlich ist Philippus ein Ausnahmemann.
Die Suche nach Gott und die menschliche Flucht
Wissen Sie, ich hatte in Kiel viel Zeit, über diese Predigt nachzudenken. Dabei sind mir folgende Gedanken gekommen: Was wäre, wenn Philippus durch eine kleine Verschiebung in den Kulissen des Welttheaters dem Adam und der Eva begegnet wäre?
Sie kennen doch die Geschichte: Adam und Eva haben diesen bösen Ungehorsam begangen am Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Danach versteckten sie sich vor Gott in den Büschen des Gartens.
Nun habe ich mir vorgestellt: Philippus trifft in diesem Augenblick Adam. „Was machst du denn hier?“, fragt Adam. „Tja, ich suche ihn“, sagt Philippus. „Du kennst ihn doch. Zeige mir den Vater, du hast schon mit ihm geredet. Adam, du hast mit ihm geredet, zeige uns den Vater.“
Da schreit Adam auf: „Du willst zu ihm hin? Du bist verrückt! Wir sind am Weglaufen, so weit wir können, so weit wir möchten. Wir könnten einen Kontinent zwischen uns und ihm legen.“
Und sehen Sie, diese Richtung, die Adam eingeschlagen hat, haben alle Adams Kinder eingeschlagen, zu denen wir auch gehören, nicht? Weg von Gott! Adam stellte Büsche zwischen sich und Gott, er versteckte sich in den Büschen. Wir stellen auch andere Dinge zwischen Gott und uns.
Zum Beispiel Pfarrer und Priester: „Mach du das, ich zahle Kirchensteuer, aber bring du die Sache mit Gott in Ordnung.“ Oder seine Tugend: „Ich tue recht und scheue niemand, lieber Gott, aber lass mich jetzt in Ruhe.“ Oder Weltanschauungen: Wir wissen nach, stundenlang, dass es überhaupt keinen Gott gibt. So, jetzt sind wir vielleicht vor ihm sicher.
Und sehen Sie, weil der Mensch in Wirklichkeit vor Gott nicht weglaufen kann – von allen Seiten umgibt er uns. Sie können hinlaufen, wohin sie wollen, sie laufen immer auf Gott zu. Ich hatte mal einen Streit mit meinem Bruder darüber, wie viele Himmelsrichtungen es am Nordpol gibt. Er sagte natürlich vier, ich sagte immer bloß eine: Es läuft immer nach Süden.
Und sehen Sie, so ist es mit Gott: Sie laufen immer auf Gott zu, wo immer sie hinlaufen. Von allen Seiten umgibt er uns, weil man ihm nicht weglaufen kann.
Darum hat der Mensch es aufgegeben, Gott räumlich wegzulaufen. Er hat eine neue Methode erfunden: Er vergisst ihn. Sehen Sie, der Begründer der Tiefenpsychologie, Freud, sagt, wenn ein Mensch etwas Unangenehmes empfindet, hat er die großartige Gabe, es zu vergessen. Man vergisst eigentlich nur das, was einem unangenehm ist.
Neulich sagt mir ein Schüler: „Jetzt haben wir seit acht Wochen Aufsatz auf. Den muss man Montag abgeben, und ich habe vergessen, ihn zu machen. Jetzt muss ich am Sonntag dranrücken.“ Er hat ihn vergessen, weil er vergessen wollte. Wissen Sie, weil er vergessen wollte, dass es unangenehm ist, hat er vergessen.
Ich vergesse auch so ungern etwas in der Tasche, darum vergesse ich die Hausschlüssel immer. Nicht, weil ich sie nicht brauche, sondern weil es unangenehm ist, wissen Sie?
Und weil dem Menschen Gott einfach lästig ist, hat er es hingekriegt, Gott zu vergessen. So ist Gott zum vergessenen Faktor geworden.
Und da ist Philippus so ein seltener Mann, der gegen den Strom schwimmt, der aufschreit: „Zeige uns den Vater, dann genügt uns das!“ Wo ist ein Mensch, der sagt: „Wenn ich Gott hätte, bräuchte ich gar nichts anderes. Einen kleinen Volkswagen brauchen wir dazu oder so nicht, der genügt uns“, sagt Philippus – unerhört, dieser seltene Mann.
Der Wendepunkt im Herzen: Vom verlorenen Sohn zum Suchenden
Und ich frage mich natürlich: Wie kommt der Philippus dazu, so gegen den Strom zu schwimmen? Wie wird er zu so einem Ausnahmemenschen, dass er ernsthaft Gott, den lebendigen Gott, sucht? Wie soll ich ihm das klar machen? Da muss doch etwas im Herzen des Philippus vorgegangen sein.
Es könnte ja sein, dass hier jemand sitzt, der wirklich ernsthaft Gott sucht. Und dann muss im Herzen etwas vorgegangen sein. Ich versuche, deutlich zu machen, was da im Herzen passiert ist. Und ich kann es nicht besser erklären als mit der Geschichte vom verlorenen Sohn.
Sie kennen sie hoffentlich alle. Wer sie nicht kennt, sollte heute Lukas 15 lesen. Der verlorene Sohn wollte seinen Vater ganz vergessen und hat das auch getan. Schließlich endet er jämmerlich bei den Schweinen im Dreck, hungrig. Und dann heißt es: Da kam er zu sich und sprach: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ Das ist eine Wendung um hundertachtzig Grad, eine ganz andere Richtung als früher. Er will zu seinem Vater gehen, und er macht sich auf.
Nun phantasiere ich ein wenig: Da trifft er einen seiner ehemaligen Genossen. Der sagt: „Ha, Mensch, wo willst du denn hin?“ Der verlorene Sohn antwortet: „Ich suche meinen Vater, ich suche den Vater.“ Darauf sagt der Genosse: „Haha, kann ich verstehen. Du bist pleite und willst wieder Geld bei ihm abholen, ja? Er ist ja noch der Alte.“ Doch der verlorene Sohn sagt: „Nein, ich will kein Geld holen.“ „Was willst du denn von ihm?“ „Gar nichts. Ihn will ich. Wenn ich ihn sehe und finde, das genügt.“
Sehen Sie, so ist Philippus: ein Mann, der zu sich gekommen ist. Wer zu sich kommt, ist entsetzt, sieht, wie die Welt ohne Gott verderbt läuft, dreht sich um und sucht ihn. Und er will nichts als ihn.
Der Herr Jesus gibt hier eine herrliche Unterweisung und wird von Philippus mit dem tollen Zwischenruf unterbrochen: „Zeig uns den Vater!“ Jesus hatte vorher gesagt: „Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr meinen Vater, und von nun an kennt ihr ihn.“ Doch Philippus sagt: „Ach, zeige uns den Vater, Herr Jesus. Deine ganze Predigt kommt bei mir nicht an.“
„Deine ganze Predigt kommt bei mir nicht an“ – das ist ein Ausdruck von heute, nicht, was ein Theologe braucht. „Deine Predigt kommt bei mir nicht an, ich höre nichts, es geht nicht in mich hinein. Zeige mir den Vater, das genügt mir.“
„Ich will auch nichts von ihm, ich will ihn nicht bitten um Gesundheit oder Geld oder weiß der Kuckuck was. Ich will ihn einfach.“ Da ist im Herzen etwas vorgegangen, dass ein Mensch so eine seltene Art wird: „Zeige uns den Vater!“
Und jetzt wollen wir mal einen Augenblick still werden und uns fragen: Bin ich schon so weit? Ist das in meinem Herzen vorgegangen, dass ich zu mir gekommen bin und ihn haben muss? Nicht Pfarramt, nicht Kirche, nicht Religion, nicht Jugendgruppe, nicht etwas von Gott – sondern schreit mein Herz wie der Hirsch nach frischem Wasser, nach dem lebendigen Gott?
Haben wir uns den verlorenen Söhnen angeschlossen? Dieses Schreien: „Zeige uns den Vater!“ – so genügt uns.
Die Antwort Jesu auf die Sehnsucht nach Gott
Und nun das Zweite: der Zwischenruf. Wir sahen den Mann, der ihn gerufen hat, und jetzt zweitens die Antwort, die er bekam, zweitens die Antwort, die er bekommt.
Da hat also der Herr Philippus den Herrn Jesus mit diesem Zwischenruf glatt unterbrochen. Und das finde ich nun so wunderschön, dass der Herr Jesus dem Philippus nicht über den Mund fährt und sagt: „Also, lass mich doch erst mal ausreden, Philippus!“
Das ist eine Methode vom Jünger, dem Meister einfach ins Wort zu fallen. Das tut ein feiner Mann nicht. Er schreit nicht an der Glocke des Präsidenten, damit der Herr Jesus nimmt den Zwischenruf auf ganz freundlich auf und gibt dem Philippus eine klare, helle Antwort.
Ehe ich die Antwort bespreche, möchte ich im Moment bei der Tatsache stehen bleiben, dass Philippus eine Antwort bekommt. Wie sollte der Herr Jesus dem Philippus nicht antworten? Denn sein Zwischenruf ist ja eigentlich ein wundervolles Gebet. Er legt seine innere Not und Unruhe dem Herrn Jesus hin.
Dieser Zwischenruf ist ja ein Gebet: „Zeige uns den Vater, so genügt uns.“ Wie mir das aufging! Ich habe gedacht: Oh, so möchte ich wirklich beten können, dass man Jesus mit dem Munde – nicht nur mit Gedanken – sagt, was tief im Herzen quält und unruhig macht. Die Probleme und Dinge, mit denen man nicht fertig wird, die Schuld, die quält, und dass man ihm die Dinge sagen kann.
Dann kommt Klarheit in unser Leben, meine Freunde, wenn wir so mit Jesus reden können wie Philippus. Da käme wundervolle Klarheit in unser Leben, denn davon können Sie überzeugt sein: Dieser Herr antwortet uns. Das erfahren wir hier.
Er lebt ja, er lebt. Er kann heute Antwort geben. Er antwortet auf unser Gebet, auf unsere Fragen, auf unser Herz ausschütten. Und er tut es gerne. Er tut es gerne. Er berät uns ernsthaft.
Sehen Sie, er hat ja seine Macht und den Beweis gestellt, als er von den Toten auferstand, und er hat seine Liebe und den Beweis gegeben, als er dieses große, schreckliche Leiden am Kreuz für uns auf sich nahm. Soll dieser Mächtige, mein herzlicher Herr, uns nicht helfen?
Schüttet euer Herz vor ihm aus, liebe Leute! Schüttet euer Herz vor ihm aus! In diesem Augenblick schüttet Philippus sein Herz aus: „Gott will ich haben, ich habe die Religion genug und das Geschwätz, das Gerede und das Diskutieren, ich will ihn sehen!“
Schüttet euer Herz vor ihm aus, liebe Leute!
Aber nun müssen wir die Antwort selber hören, die Philippus bekommen hat. „Zeige uns den Vater, so genügt uns“, fragt Philippus. „Wo ist denn Gott?“ Und Jesus antwortet: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“
„Wo ist Gott?“ In Jesus ist er jedem sichtbar. Das ist eine befreiende Antwort.
Ich möchte Ihnen gern einfach persönlich bezeugen, wie dieses Wort mir zum ersten Mal richtig aufging. Ich glaube, ich habe das schon mal erzählt, verzeihen Sie, aber in alten Bekannten trifft man gern wieder, nicht?
Das war eine Stunde, als ich junger Student war und ein kleines schmales philosophisches Büchlein vorgenommen hatte: Lotzes Ästhetik. Da philosophiert der Mann auch über Gott.
Ich saß dann im Wald auf der Schwäbischen Alb – ich könnte die Stelle zeigen – und grübelte so über diese schweren Sätze. Auf einmal bin ich erschrocken.
Der Mann spricht ja philosophisch von Gott. Es ist ihm kein Problem, dass Gott existiert. Aber er sagt kein Wort, wie Gott ist. Wie ist denn Gott?
Es würde vielmehr einen erschrecken: Gott könnte ja ein ganz fürchterlicher Dämon sein, der Freude daran hat, uns zu quälen. Man kann doch manchmal denken, Gott könnte ja ein grauenvoller Tyrann sein.
Wie ist er denn? Es hat keinen Sinn, über Gott zu philosophieren, wenn der Schrecken über ihm kommt: Wie ist er denn? Er kann ja fürchterlich sein. Und es gibt ja Worte in der Bibel, die davon sprechen, dass Gott schrecklich ist.
Und in dem Augenblick – ich kann nur sagen, wie es war – war es mir, als wenn der Herr Jesus mir selber sagte: Dieses Wort „Wer mich sieht, sieht den Vater.“
Da verstand ich zuerst mal, was für ein helles und frohmachendes Wort das ist: Wenn ich meinen herrlichen und lieben Heiland ansehe, wie er für mich am Kreuz stirbt, dann sehe ich Gott ins Herz hinein. „Wer mich sieht, sieht den Vater.“
Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus
Es gibt eine wundervolle Auslegung zu diesem Bibelwort von einem Zeitgenossen Luthers, dem Maler Albrecht Dürer. Es handelt sich um einen nicht sehr bekannten Kupferstich aus dem Jahr 1511. Dürer hat ihn „Die Dreieinigkeit“ überschrieben. Ein wundervolles Blatt!
Man sieht darauf den Vater auf dem himmlischen Thron, umgeben von Engelchören. Über ihm schwebt die Taube des Heiligen Geistes. Aber das Schönste ist der Vater! Der Thronhalter, der Schöpfer, hält in seinen Armen den gekreuzigten Heiland, den gekreuzigten Jesus. Er hält ihn so, dass er der Welt gleichsam diesen Gekreuzigten entgegenhält, sodass dieser ihn fast verdeckt. Es ist, als würde der Vater sagen: Wer den sieht, der sieht mich.
Das ist eine wundervolle Auslegung unseres Wortes. Der Vater hält uns Jesus in die Welt. Wer ihn sieht, den Sohn, der sieht den Vater. Das ist so wichtig! Der Herr Jesus hat das an einer Stelle im Johannes-Evangelium noch drastischer gesagt. Dort heißt es, nicht nur, wer mich sieht, sieht den Vater, sondern er sagt sogar: „Ich bin die Tür zum Vater. Ich bin die Tür. Wer durch mich eingeht, wird errettet werden.“
Das heißt mit anderen Worten: Es gibt keine andere klare Offenbarung Gottes als Jesus. Es gibt kein Ansehen Gottes als in Jesus Christus. Und es gibt keinen Weg zu Gott als durch Jesus Christus. Das muss man wissen, wenn man Gott nicht vergessen will – so wie es in unserer Zeit oft geschieht.
Ich sage am Anfang: Wir suchen Gott zu vergessen, aber wir können es nicht. Nun gibt es im Alten Testament eine unerhörte und aufregende Geschichte. Dort wird erzählt von den bösen Leuten in Sodom, die den frommen Lot töten wollten. Es heißt einfach, dass Gott sie mit Blindheit schlug, sodass sie die Tür nicht fanden.
Ich habe mir oft vorgestellt, wie diese Leute herumtappten. Da waren lauter Türen, aber die richtige fanden sie einfach nicht. Sie tappten herum und fanden die richtige Tür nicht. So kommt mir der ganze religiöse Jahrmarkt unserer Zeit vor. Gott schlug sie mit Blindheit, sodass sie die Tür nicht finden.
Wir können Gott nicht vergessen. Und jetzt tappen die Menschen vor der Tür Gottes herum. Da sagt der eine: „Hier ist die Tür, ich finde Gott in der Natur.“ Wenn die Blümlein riechen, die Vöglein singen, die Nachtigallen schluchzen und die Bäume rauschen, dann habe ich Gott gefunden. Ich war darum auch am Himmelfahrtstag und so.
Nein, einst hat noch keiner Gott in der Natur gefunden. Ich habe gern Natur, aber da finden sie Gott nicht. Diese falsche Tür – diese falsche Tür ist nicht wahr. Sie sind wie die Sodomiten, die da herumlaufen, finden die Tür nicht.
Und der andere schreit: „Ich finde Gott in der Musik.“ Je nach Geschmack ist das dann die Matthäus-Passion oder Beethovens neunte Symphonie. Es gibt auch ganz moderne Jazz-Fahrer jetzt. Offenbar sind sie der Ansicht, dass der Jazz die Tür ist, um Gott zu finden. Das ist es aber nicht.
Nichts geht gegen Beethoven, die Neunte ist herrlich, aber die Tür zu Gott ist es nicht. Nein, nein, die größte seelische Erhebung ist noch keine Tür zu Gott. Die größte seelische Erhebung ist noch keine Tür zu Gott.
Nun lesen wir heute überall – das können Sie ganz Spanien lesen –, Maria ist die Pforte der Gnaden, Maria ist die Tür, Maria ist die Tür. Die Kirche des Lichts müsste jetzt ehrlicherweise die Bibel verbrennen. Meiner Meinung nach wird sie das eines Tages auch tun.
Sodomleute, die an den Türen herumtasten und lauter Türen finden, aber die Richtigen nicht. Jesus sagt: „Ich bin die Tür. Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Wir kommen zu Jesus und gehen durch ihn zum Vater. Oder wir bleiben in Ewigkeit gottverlassene Leute.
Mit einer unerhörten Radikalität sagt dieses Wort: „Jesus allein, Jesus muss es sein. Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Nicht eine Tür, sondern die Tür.
Der leise Vorwurf und die Warnung vor geistlicher Stagnation
Lassen Sie mich noch ein letztes Mal etwas sagen: Der Zwischenruf, der Mann, der entmannt wurde, der seltene Mann, der hier die Antwort bekam – und der leise Vorwurf. Ich muss Ihnen noch den leisen Vorwurf zeigen.
Herr, hoffentlich können Sie mir noch zuhören. Es ist heute etwas dumpfe Luft bei diesem Regen, aber es ist so wichtig: der leise Vorwurf.
Ich sagte eben, es ist so schön, dass der Herr Jesus dem Philippus geantwortet hat. Doch ich würde etwas unterschlagen, wenn ich nicht darauf hinwiese, dass Philippus einen leisen Vorwurf bekommt. „Philippus, so lange bin ich bei euch – und du kennst mich nicht.“ Dieses „so lange“ hat mich sehr getroffen.
Als ich in Tübingen studierte, gab es dort einen, der schon lange vor mir angefangen hatte. Als ich mein Examen machte, glaube ich, ist er heute noch da. Wir nannten ihn nur den „ewigen Studenten“. Er kam einfach nicht zum Zuge, er schaffte das Examen nicht. Eine komische Figur. Ich vergesse nicht, wie einmal in einem engeren Kreis jemand zu ihm sagte: „Jetzt bist du schon im zwölften oder vierzehnten Semester, und hast immer noch kein Examen gemacht. So lange studierst du nun schon, und es ist immer noch nichts geworden.“
Es gibt auch im Geistlichen solche ewigen Studenten. „So lange studierst du schon, so lange bin ich bei euch“, sagt Jesus zu Philippus. Da hört man eine Menge Wort Gottes, sitzt oft im Gottesdienst, war vielleicht auch mal bei den „Gruge Albanians Brüdern“, hat die Essener Pfarrer abgeklopft, kennt das alles. Man ist vielleicht in der Bibelstunde gewesen, war bei Pastor Weigel im Jugendhaus – ich habe schon Weigel gehört –, und doch kam es nie zur Wiedergeburt. Nie zu einer wirklichen Erkenntnis Jesu Christi, nie zu einer Erkenntnis des eigenen verlorenen Zustandes. Es kam nie zu einer Übergabe an den Herrn Jesus. Bis heute gibt es kein geordnetes Gebetsleben und kein richtiges Bibelstudium.
„So lange bin ich bei euch“, sagt Jesus zu Philippus und warnt ihn vor dem Stillstand im geistlichen Leben. In so einem Fall ist man besser gottlos.
Wir finden dieses Klagen, Anklagen und die Fürsorge so oft in der Bibel. Da sagt Gott zu einer tauben und sturen Welt: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu dem Volk, das sich nichts sagen lässt.“ Dieses Wort steht zweimal in der Bibel: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt.“ Und wer nimmt Notiz davon?
Im Hebräerbrief schreibt der Apostel an die Christen: „So lange ihr längst Meister sein solltet, bedürft ihr wiederum, dass man euch die allerersten Buchstaben des göttlichen Wortes lehre und dass man euch Milch gebe und nicht starke Speise.“
Oh, die starken Speise! „So lange bin ich bei euch, Philippus, und noch nichts ist daraus geworden.“ Wissen Sie, was Gott verachtet? Es sind die sogenannten christlichen Leute. Ich glaube, Gott kann mit Atheisten fertig werden, aber mit den christlichen Leuten, bei denen Jahr für Jahr derselbe langweilige Status bleibt, da sagt der Herr: „Oh, dass du kalt oder warm wärst! Aber nun geh irgendwo in die Entwicklung hinein und stagnier nicht so schrecklich, denn ich werde dich ausspucken aus meinem Munde.“
Das wollen wir uns recht ins Herz nehmen: dieses „so lange“.
Wie sagt die Bibel? „Wachset in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn Jesu Christi.“ Und Paulus schreibt an Timotheus, den jungen Mann, dass sein Zunehmen offenbar werde. Wir wollen uns ins Herz nehmen, dass wir richtige Schüler der Gnade Jesu Christi werden. Und dann aber nicht ewige Studenten bleiben, sondern auch, soll ich mal so sagen, Assessoren der Gnade werden, Referendare der Gnade und eines Tages Meister der Gnade.
Das heißt nicht, dass wir die Gnade meistern, sondern dass wir zugenommen haben in der Gnade und Erkenntnis Jesu Christi.
Schlussgebet und Bitte um geistliches Wachstum
Wir wollen bitten: Herr, unser Heiland, wir danken dir, dass du dich mit deinen Jüngern mühst, sie weiterzuführen.
Lass uns zu dem Kreis gehören, mit dem du dich beschäftigst. Lass uns bei denen sein, an denen du nicht vorübergehst und deren Zwischenrufe du hörst.
Amen.