Wir wollen am nächsten Sonntag eine Predigtreihe über den Wert unseres Menschenlebens beginnen. Solche Predigtreihen mache ich gerne, einfach deshalb, weil sich unsere Predigtreihen, die sonst nach der Ordnung unserer Kirche im Gesangbuch vorgesehen sind, alle sechs Jahre wiederholen. Dabei möchte ich noch mehr von der Fülle der Bibel entdecken.
Heute haben wir noch einmal den Text nach der Ordnung unserer Reihen. Es ist der elfte Sonntag nach dem Präeinigkeitsfest, in der fünften Reihe, Matthäus 23,1-12.
Jesu Kritik an den Schriftgelehrten und Pharisäern
Da redete Jesus zu dem Volk und zu seinen Jüngern und sprach:
„Auf des Mose Stuhls sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet. Aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln. Sie sagen es wohl, tun es aber nicht.
Sie binden schwere Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern. Aber sie selbst wollen sie nicht mit einem Finger anrühren. Alle ihre Werke tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Kleidern groß.
Sie sitzen gerne obenan bei Tisch und in den Synagogen. Und sie haben es gerne, dass sie auf dem Markt von den Menschen gegrüßt und Rabbi genannt werden. Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen. Das heißt „Vater“ in diesem ganz speziellen Sinn. Eure Kinder dürfen gerne noch Vater zum richtigen Vater sagen, ebenso Lehrer.
Denn einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemanden euren Vater heißen auf Erden, denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen, denn einer ist euer Lehrer: Christus.
Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.
Herr, du kannst uns treffen, und darum bitten wir dich jetzt. Amen!“
Die weit verbreitete Zustimmung zur Kritik Jesu
Selten hat ein Wort des Neuen Testaments so viel Zustimmung gefunden wie die Kritik Jesu an den Pharisäern.
Bei einem Hausbesuch in den letzten Tagen hat mir das auch jemand gesagt: „Wissen Sie, ich gehe ja nicht in die Kirche, aber den Pharisäern da gehört mal die Meinung gesagt.“
„Können Sie gerade am Sonntag kommen?“, fragte ich. „Da sind wir gerade am Thema. Das gefällt allen Leuten, dass man das einmal anprangert.“
Ich habe auch noch nie gehört, dass ein Christ gesagt hätte: „Gott sei mir Pharisäer gnädig.“ Die Pharisäer sind immer Menschen, auf die wir mit dem Finger zeigen können. Und genau diese Pharisäerart hat Jesus gemeint.
Jesus konnte predigen, was er wollte, die Pharisäer sahen immer nur den anderen und nie sich selbst. Es gab kein Wort Gottes, das sie erschüttert hätte. Es gab kein Reden Gottes, das sie getroffen hätte.
Die Frömmigkeit und das Versagen der Pharisäer
Die Pharisäer waren beeindruckende Persönlichkeiten, fromme Menschen, die sich der Sozialarbeit widmeten und die Armenpflege auf vorbildliche Weise organisierten. Sie kümmerten sich um verwahrloste Jugendliche und erzogen sie. Es gab kaum einen Bereich der Frömmigkeit, in den sie sich nicht wagten.
Doch eines muss man über sie sagen: Das Wort Gottes traf sie nicht. Sie waren nie verunsichert, sondern immer Meister ihres Fachs. In dieser Woche war mir sehr bang, ob es uns heute gelingt, dieses Wort an die Pharisäer auch als ein Wort an mich und an Sie zu verstehen – als ein Wort, das uns betrifft und treffen muss, nicht als eine Kritik an anderen. Jesus hat uns heute unter diesem Wort etwas zu sagen.
Ich sehe drei große Nöte im Leben der Pharisäer, und dabei gehe ich etwas tiefer als eine oberflächliche Betrachtung es normalerweise erlaubt. Oft sagen wir: Ach, die Pharisäer, das waren Heuchler oder sie waren nicht konsequent genug. Viele unserer oberflächlichen Kritiken halten einer genauen Prüfung nicht stand, wenn wir uns ansehen, was die Pharisäer in ihrer Frömmigkeit wirklich geleistet haben.
Der Kern der Kritik an ihnen ist, dass sie die hoffnungslose Verlorenheit des Menschen leugnen. Gerade das hört man heute selten, wenn man das Wort „Pharisäer“ als Schimpfwort benutzt. Doch wenn wir die Bibel aufschlagen, erkennen wir, dass dies der wesentliche Punkt ist, den Jesus anprangerte.
Jesus war auch zu den Pharisäern voller Liebe und Zuneigung. Wir wissen, dass er in das Haus eines Pharisäers einkehren konnte. Auch ihnen galt seine Liebe, auch sie wollte er zurückrufen. Seine Kritik und sein scharfes Wort trafen sie nicht von vornherein. Im Gegenteil, er suchte sie. Doch es stellte sich immer wieder heraus, dass sie nicht fähig waren, das Evangelium Jesu zu verstehen.
Immer wieder, wenn Jesus sie einlud, zu ihm zu kommen, stand eine große Barriere da: Sie konnten das Evangelium nicht begreifen. Diesen Punkt kennen wir aus dem Neuen Testament besonders gut, weil einer der Spitzenfunktionäre des Pharisäertums durch eine große Lebenswende ein bekehrter Christ wurde. Paulus markiert in seinen Briefen immer wieder genau den entscheidenden Punkt, der ihn vom einstigen Pharisäerleben zum Leben als Jesusjünger trennte.
Wenn Sie einmal hören, was Paulus als den springenden Punkt angibt – etwa in der Schriftlesung –, dann war es immer dieser: Der Pharisäer täuscht sich über die Verlorenheit des Menschen vor Gott. Gerade darin liegt ihr Irrtum: Sie meinen, sie könnten das Übel ihres Lebens mit ein paar guten Vorsätzen beheben. Wenn man die Menschen nur im Willen Gottes unterweist, wird das schon werden. Wenn man die Jugend nur richtig erzieht, wird sie den rechten Weg vor Gott finden.
Das ist der Irrtum der Pharisäer: Sie legten sich einen Leitfaden zurecht, in dem genau vermerkt war, was man im täglichen Leben tun muss. Das war ihr Gesetz. Und daran ist ja nichts grundsätzlich Falsches, wenn man einen Katalog mit Maßnahmen hat, der zeigt, was für das Leben richtig ist.
Doch hören wir das Wort Jesu: Sie binden den Menschen unheimliche Lasten auf den Rücken – Bürden. Sind das so schlimme Lasten, würden die Pharisäer sagen? Sie lehren doch nur den Willen Gottes. Aber Jesus sagt: Sie wissen gar nicht mehr, was sie den Menschen auflegen.
Als einst das Volk Israel im Sinai die Gebote Gottes verkündigt bekam, riefen sie: Das kann man gar nicht leben, das halten wir nicht durch. Im Lauf der Zeit entstand die Meinung: Nun, wir erreichen es nicht ganz, aber ein Stück weit kommen wir doch. Jesus sah dies als ein ernstes Verbrechen an. Menschen Gebote aufzuerlegen, die sie nicht halten können, ist gefährlich.
Wir kommen in unserer Welt gar nicht zurecht, wenn wir den Menschen nicht wenigstens Maßstäbe geben, nach denen sie leben sollen. Wer ein ordentlicher Mensch sein will, muss nach Geboten und Ordnungen leben. Auch in der Kirche fangen wir damit an, wenn wir Konfirmanden die Gebote einzutrichtern versuchen.
Doch irgendwann wird uns bewusst, dass dies die Pharisäerart ist – die Annahme, der Mensch könne das so selbstverständlich tun. Wenn wir sagen: Liebe deinen Nächsten, dann lädt Jesus uns auf den Hals eine Bürde, die wir gar nicht tragen können. Wenn uns das wieder bewusst wäre: Wir Menschen sind so weit von Gott gefallen, dass wir diese Gebote nicht halten können. Und dennoch binden wir ihnen Lasten auf den Rücken, die sie niederdrücken.
Heute erleben wir eine große Welle, in der von unseren Kanzeln praktische Lebensgestaltung gepredigt wird. Es wird darüber gesprochen, wie wir uns der Notleidenden annehmen, sozial sein und Güte zeigen sollen, wie Christen ihr Leben praktisch gestalten. Doch das ist tödlich, wenn niemand sagt, wie man dieses Gesetz erfüllen kann.
Wenn das nur Sprüche bleiben, etwa dass ich für den Weltfrieden verantwortlich bin – wer kann einem Menschen so etwas aufbürden? Das ist Pharisäerart: Menschen Ordnungen zu predigen, unter denen sie selbst nicht leben. Sie rühren die Lasten nicht an, aber die armen Leute, die versuchen, diese Ordnungen zu leben, gehen zugrunde. Kein Mensch kann sie halten.
Es ist ein schönes Wort: „Tue recht und scheue niemand.“ Aber leben Sie das mal! Wer das konsequent als Maßstab seines Lebens nimmt, der geht zugrunde. Er wird verzweifeln, weil er spürt, dass in seinem Leben und Herzen das Böse herrscht und er es nicht aus eigener Kraft niederringen kann.
Diese Pharisäerart hat Jesus gemeint: Ihr legt den Menschen Lasten auf, doch ihr rührt sie selbst nicht an. Ihr predigt Verordnungen und Gebote im Namen des heiligen Gotteswillens. Damit baut ihr den Weg zur Erlösung zu. Die Menschen können nicht mehr sehen, dass der große Lastträger Jesus kommt, der sich unter unsere Schulden beugt und sie wegträgt.
Das war schon die Botschaft von Johannes dem Täufer: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegnimmt.“ Der Hass der Pharisäer richtete sich gerade gegen diese Art Jesu, der der Lastträger der Welt ist.
Hier gibt es nur ein Entweder-Oder: Entweder predigen wir Menschen Gebote und Gesetze: „Das musst du tun, das musst du tun.“ Oder wir predigen Jesus, den großen Lastträger, der unsere schwere Last kennt. Er weiß, wie schwer es ist, unser Christenleben in der Woche zu leben. Er gibt die Zusage: „Komm, ich trage mit dir, ich will dein Leben erfüllen, dich verwandeln und dir ein neues Herz geben.“
Das ist die große Botschaft des Neuen Testaments. Wir wollen, dass diese Pharisäerart in uns mit Haut und Haar ausgerottet wird: die Meinung, der Mensch könne Gottes Willen aus eigener Kraft erfüllen. Es braucht eine große Umwandlung, um den Menschen neu zu machen. Das war der erste Punkt: die abgrundtiefe Verlorenheit.
Der zweite Punkt: Sie leugnen die Blindheit unseres Denkens. Wir haben uns so ein Weltbild von den Pharisäern zurechtgelegt, dass sie ein bisschen Schurken seien, unzuverlässige Leute. Das kommt aus der Polemik, aus allem Negativen, das an das Wort „Pharisäer“ gehängt wird.
Die Pharisäer waren die großen Gesetzestreuen im alten Volk Israel, und sie meinten es sehr ernst. Wenn sie an ihren Kleidern Gebetsriemen trugen, dann wollten sie in der toten Zeit an der Straße beten können. Sie schrieben Gesetze Gottes sogar über die Türrahmen, so wie wir Bibelverse in unseren Wohnungen aufhängen.
Das war nichts Negatives, was Jesus an ihnen kritisierte. Sie wollten Lehrer sein. Ist das schlecht, wenn man Lehrer sein will, wenn man Unwissende unterweisen möchte? Hier müssen wir einen Unterschied beachten.
Es gab zwei Gruppen unter den frommen Israeliten: Die Sadduzäer waren konservativer, ebenso äußerlich die Pharisäer. Beide wollten das Volk der Juden vor dem Einfluss der griechischen Antike bewahren, die damals die alte Welt überschwemmte. Doch sie wählten verschiedene Wege.
Die Sadduzäer sagten: Es genügt, den ursprünglichen Gotteswillen, wie er in der Bibel steht, festzuhalten. Die Pharisäer sagten: Nein, das Leben geht weiter, und wir müssen das Gesetz Gottes an die aktuellen Verhältnisse anpassen, es auslegen.
So entstanden viele Zusatzgebote, um neue Problemfälle zu lösen. Sie waren Menschen, die sich mit großer Leidenschaft und Treue bemühten, die einzelnen Lebensbereiche vom Glauben her und nach dem Gebot Gottes zu ordnen. Das ist nichts Böses.
Viele fragen heute: Wie lebe ich als Christ in meiner Situation? Ich habe ein kompliziertes Berufsfeld, und ich kann das nicht mit meinem Glauben verbinden. Die Pharisäer wollten Weisung geben durch klare Gebote. Doch Jesus sagt: Ihr Pharisäer könnt keine Lehrer sein.
Die Pharisäer trauten sich das zu. Aber wir sollten Jesu Kritik ernst nehmen: Wir können keine Lehrer sein. Wir reden leichtfertig in das Leben anderer Christen hinein und geben Ratschläge, ohne zu wissen, wie es wirklich ist.
Wie wird man Lehrer? Jesus sagt: Es gibt einen Lehrer, und es gibt ein unmittelbares Verhältnis eines Christen zu seinem himmlischen Vater. Dieser gibt den Heiligen Geist, der uns Weisheit für die täglichen Probleme schenkt.
Wir haben große Angst, dass wir heute, wie damals die pharisäischen Väter, pastorale Väter einsetzen, und viele Christen nie frei werden, ihr Leben unmittelbar mit Jesus zu besprechen. Man kann Akademietagungen über die Probleme des Christseins in der modernen Welt halten. Doch wo ein Christ im Glauben reift, wird er vom himmlischen Vater gelehrt, wie er Kinder erziehen und in einer gottfernen Welt seinen Glauben leben kann.
Natürlich dürfen wir uns untereinander austauschen, aber es entsteht leicht ein falsches Abhängigkeitsverhältnis von Menschenmeinungen und Lehrmeinungen. Jesus spricht so ernst davon, dass wir keine Lehrer sein können, weil wir blind sind in unserem Verstand.
Ich will den Verstand nicht abwerten. Ich glaube selbst, dass ich viel Verstand habe, und keiner von uns meint, er hätte zu wenig. Wir denken alle hoch von unserem Verstand. Doch wenn es um göttliche Weisheit geht, fehlt uns viel Klarheit darüber, was Gottes Wille ist.
Jesus erklärte einem Pharisäer, der nachts zu ihm kam, in großer Geduld: Nikodemus fragte, wie man mehr von Gott sehen und sein Reich erkennen könne. Jesus sagte: „Es sei denn, dass du wiedergeboren bist, kannst du nichts sehen.“ Unser ganzes Denken und Wahrnehmen ist für Gottes Welt nicht geschaffen.
Nur wenn Gottes Geist uns neu macht, bekommen wir ein neues Verhältnis zu göttlichen Dingen. Wenn wir die Fehler der Pharisäer nüchtern betrachten, müssen wir immer wieder erkennen: Es gibt einen Missbrauch der Frömmigkeit.
Ich habe diese Predigt überschrieben mit „Der Betrug falscher Frömmigkeit“. Dieser Betrug besteht darin, dass wir uns vor anderen als erfahrene Christen ausgeben, anstatt sie weiterzuleiten und zu sagen: Gott wird dich lehren. Geh in die Stille und ins Wort, lass dich vom Geist Gottes erleuchten, der dir Klarheit schenkt.
Ich war so dankbar, dass diese Predigt genau jetzt kommt, wo wir uns auf den Einsatz zur Evangelisation auf dem Schillerplatz vorbereiten. Der Betrug falscher Frömmigkeit ist eine große Gefahr.
Menschen wachen auf und fragen nach dem Weg. Wir weisen sie nur in eine Kirchlichkeit ein. Sie wissen, was der Gottesdienst bedeutet, und sie werden das nicht ablegen. Aber wenn nicht von Anfang an geschieht, dass wir den Menschen sagen: Deine Verlorenheit muss weggenommen werden. Du musst Jesus Christus haben, der sich unter die Last deines Lebens beugt.
Dann darfst du nie von Menschen abhängig werden, sondern musst einer sein, der von Gott gelehrt wird. Wie es in der großen Ewigkeitsverheißung heißt: „Sie werden alle von Gott gelehrt sein.“
Wir wollen nie von Menschen, Lehrmeinungen oder theologischen Schulüberlegungen abhängig sein, nie von den Predigten einzelner Prediger. Wir wollen ins Wort hinein und von Gott gelehrt werden. Das haben die Pharisäer völlig vergessen: Sie wollten Lehrer sein, blieben aber Schüler.
Vielleicht spüren Sie das heute im Gottesdienst. Ja, das sollen Sie spüren: Es soll keine perfekte Predigt an Sie sein, sondern wir sind alle Schüler dieses Wortes. Darum bin ich froh, wenn Sie eine Bibel mitbringen, damit wir gemeinsam unter diesem Wort hören, was Gott uns heute sagen will und was seine Botschaft an uns ist.
Der dritte Punkt: Sie leugnen ihr Unvermögen. Jesus musste ihnen das vorhalten. Sie saßen gern oben bei Tisch und in den Synagogen und ließen sich gern grüßen. Einige wissen, dass ich das für eine der dummen Stellen in der Bibel halte, die mich etwas ärgert. Auch die andere Stelle, dass man bei Tisch immer unten sitzen soll, ist so eine Sache.
Kommen Sie mal eine Viertelstunde vor Kirchenbeginn: Die letzten Reihen hinten sind immer besetzt, niemand setzt sich nach vorne. Ich bin froh, wenn auch ein paar vorne sitzen und hinten Platz für jemanden lassen, der vielleicht zu spät kommt und noch einen Platz sucht.
Doch selbst in christlichen Versammlungen wollen viele ganz hinten sitzen, als Zeichen der Demut. Nein, das hat mit Demut nichts zu tun, das ist ein missverstandenes Wort. Manchmal kennt man das bei Tisch, wo ein Gast kaum einen Platz findet, weil er nicht oben sitzen will. Dann denkt man: Jetzt setz dich doch einfach hin!
Was hat das für eine falsche Demut an dieser Stelle gegeben? Jesus meint doch etwas ganz anderes. Es geht um die Frage des Vorbilds. Damals ließen sich die Pharisäer verehren. Die Leute sagten: Unsere Jugend braucht jemanden, an dem man sich orientieren kann.
Das stinkt. Man braucht Vorbilder, an denen man sieht, wie ein gottwohlgefälliges Leben aussieht. So ließen sich die Pharisäer verehren. Sie waren jedoch nicht so stolz, wie wir uns das vorstellen. Sie beteten im Tempel und dankten Gott, dass er ihnen Gnade schenkte.
Doch wir wissen, dass wir im Glauben weitergekommen sind. Nach einigen Jahren kann man sagen: Früher war ich ein schlechter Mensch, heute bin ich im Glauben gewachsen. Doch Jesus sprach scharf gegen die Pharisäer: „Wehe euch! Ihr werdet der höllischen Verdammnis nicht entrinnen.“ Er enthüllte die Tarnkappe des Teufels.
Bis zu unserem Tod bleiben wir Menschen, die nur durch die Vergebung Jesu gerettet werden. Zur gleichen Zeit wird in der Vollzugsanstalt Stammheim ein Gottesdienst gehalten. Vor Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Ihnen und uns, vor Gott sind wir alle gleich.
Wo das nicht unser Leben prägt, gerade dort, wo Menschen uns bewundern und sagen: „Das ist ein Christ!“, da wollen wir ihnen zurufen: Mir ist Erbarmen widerfahren, Erbarmen, dessen ich nicht wert bin. Es ist das Wunder meines Lebens, dass Gott mich herausgezogen und täglich hält.
Es gibt keinen Augenblick, in dem ich nicht schon tiefgefallen wäre, wenn Gottes Liebe mich nicht unverdient bewahrt hätte. Das ist sein Wunder. Darum wehrt sich Jesus gegen das Verehren, gegen das Vater-nennen, gegen das Grüßen und gegen das vorbildliche Auftreten der Pharisäer.
Sie leugnen ihr Unvermögen und ihre Verlorenheit – wir sind wieder beim ersten Punkt. Doch es gibt noch einen dritten: Sie leugnen ihr Unvermögen. Vor Gott gibt es keine Muskelprotze, die große Lasten heben. Es gibt nur eine Schar gefallener Menschen, die durch seine große Gnade gerettet werden.
Manche sagen, das Wort „Gnade“ sei abgegriffen. In unserem Leben ist es das nicht, wenn wir täglich den Atem anhalten, wenn wir das Wort der göttlichen Gnade über unserem Leben hören.
Über unsere Liebe soll nie mehr das Wort der Pharisäer kommen. Oft wurde es ernsthaften Christen in der Gemeinde Jesu übergestülpt, als ob sie Pharisäer wären, auch denen, die ihres Heils gewiss sind. Das ist nicht Pharisäerart.
Pharisäerart ist zuerst, die Verlorenheit des Menschen zu leugnen, zu glauben, wir werden aus eigenem Können gerecht. Es gibt in heidnischem und christlichem Gewand die Meinung, man könne sich selbst erlösen.
Zweitens leugnen die Pharisäer, dass unser Wissen und Verstand von Finsternis verhüllt sind, solange nicht Gottes Geist uns mit hellem Licht berührt.
Drittens leugnen sie ihr Unvermögen.
Jesus sagte das so scharf, weil er vor uns steht als der, der das Wollen und Vollbringen schenkt. Er hat solche Leute, auch solche Pharisäer, hergerufen und gesagt: „Kommt her zu mir, ich will euch erquicken.“ Er kann Schuld vergeben, Augen öffnen und Menschen fähig machen, seinen Willen zu tun.
Amen.
Wollen wir beten:
Herr, du deckst die unheilvolle Kluft in unserem Leben auf zwischen Wollen und Vollbringen. Wir sehen in diesem Spiegel uns selbst, dass wir die Worte leicht sagen können, was dein Wille ist. Doch wenn es ans Praktizieren geht, sind wir ohnmächtig.
Ja, Herr, du hast nur an diese Wunde gerührt, damit wir uns in deine Arme fallen lassen und du der Herr und Erlöser unseres ganzen Wesens wirst. Wir danken dir, dass du uns erneuern, heiligen und in deinen Dienst nehmen kannst.
Bewahre uns vor dem Betrug falscher Frömmigkeit. Wir wollen die Angst nie verlieren, dass wir mit frommen Worten anderen den Weg zu dir verbauen.
Herr, wo du uns im Glauben wachsen lässt, zeige uns auch die Aufgabe zum Dienst am Nächsten, damit wir in dieser Welt dienen dürfen, dass Menschen dich erkennen und finden.
Wir bitten dich für den Einsatz in der nächsten Woche auf dem Schillerplatz. Wir danken dir für die große Zahl von Mitarbeitern und die vielen Gelegenheiten bei den Besuchen.
Lass es in diesen Tagen um nichts anderes gehen als um deinen Ruf zur Nachfolge, dass wir nicht Menschen fromm machen, sondern sie zu dir bringen, Jesus Jünger machen, und du in ihnen ein neues Leben wirkst.
Herr, wir rechnen mit deiner Zusage und deinem Wirken.
Lasst uns gemeinsam beten:
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Nun wollen wir um den Segen unseres Herrn bitten:
Herr, segne uns und behüte uns. Herr, lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig. Herr, erhebe dein Angesicht auf uns und gib uns deinen Frieden.
Die Trennung zwischen Pharisäern und Jesusjüngern
Wir kennen diesen Punkt aus dem Neuen Testament sehr genau, der die Pharisäer von den Jesusjüngern unterscheidet. Einer der Spitzenfunktionäre des Pharisäismus wurde durch eine große Wendung in seinem Leben ein bekehrter Christ.
In seinen Briefen markiert er immer wieder den entscheidenden Punkt, der ihn vom früheren Leben als Pharisäer zum jetzigen Leben als Jesusjünger trennt. Wenn man bei Paulus nachliest, wie er diesen entscheidenden Punkt beschreibt – zum Beispiel in der Schriftlesung –, dann ist es immer derselbe.
Der Pharisäer täuscht sich über die Verlorenheit des Menschen vor Gott. Genau darin liegt der Irrtum des Pharisäers: Er glaubt, er könne dem Übel seines Lebens mit ein paar guten Vorsätzen begegnen.
Er denkt, wenn man die Menschen nur im Willen Gottes unterweist, dann wird alles gut. Wenn man die Jugend nur richtig erzieht, dann wird sie schon den rechten Weg vor Gott finden.
Das Gesetz der Pharisäer und die Last der Gebote
Das ist der Irrtum der Pharisäer: Sie legten sich einen Leitfaden zurecht, in dem genau vermerkt war, was man im täglichen Leben tun muss. Das war ihr Gesetz. Und das ist ja gut, wenn man so einen Katalog mit Maßnahmen hat, der uns zeigt, was für unser Leben richtig ist.
Doch was ist daran falsch? Jetzt hören wir das Wort Jesu. Sie binden den Menschen unheimliche Lasten auf den Rücken, Bürden. Sind das so schlimme Bürden? Würden die Pharisäer sagen, wir lehren doch nur den Willen Gottes. Aber Jesus sagt: Sie wissen gar nicht mehr, was sie den Menschen auflegen.
Als einst das Volk Israel im Sinai auf dem Wüstenzug die Gebote Gottes verkündet bekam, da schrien sie und sagten: „Das kann man gar nicht leben. Das halten wir gar nicht durch.“ Im Lauf der Zeit hat sich dann die Meinung breitgemacht: Nun, wir erreichen es nicht ganz, aber ein Stück weit kommen wir doch.
Jesus hat das als ein so ernstes Verbrechen angesehen, wenn man Menschen Gebote auflegt. Und das tun wir ja dauernd. Wir kommen in unserer Welt gar nicht zurecht, wenn wir den Menschen nicht wenigstens Maßstäbe geben, nach denen sie zu leben haben. Wer ein ordentlicher Kerl werden will, muss in unserer Welt nach Geboten und Ordnungen leben.
Und wir tun das ja auch in der Kirche. Da fangen wir doch schon an, unseren Konfirmanden die Gebote einzutrichtern. Dann wird uns bewusst, dass das ja die Pharisäerart ist, die meint, der Mensch könne das so selbstverständlich machen.
Wenn wir einem anderen sagen: „Liebe deinen Nächsten“, dann würde Jesus sagen: Ihr ladet ja eine Bürde auf seinen Hals, die er gar nie tragen kann. Wenn uns das doch wieder bewusst wäre! Wir Menschen sind ja so weit von Gott gefallen, dass wir diese Gebote gar nicht halten können. Und nun binden wir ihnen Lasten auf den Rücken, die sie niederdrücken müssen.
Die Gefahr praktischer Lebensgestaltung ohne Erlösung
In unseren Tagen gibt es wieder eine große Welle, in der von unseren Kanzeln her praktische Lebensgestaltung gepredigt wird. Dabei wird darüber gesprochen, wie wir uns den Notleidenden annehmen sollen, sozial sein müssen, Güte tun sollten und wie Christen diese Werte im praktischen Leben unter Beweis stellen können.
Das ist jedoch problematisch, wenn niemand erklärt, wie man dieses Gesetz erfüllen kann. Wenn es nur bei Sprüchen bleibt, wie etwa „Ich bin verantwortlich für den Weltfrieden“, wer kann einem Menschen so etwas wirklich aufbürden? Das ist doch pharisäerhaft, denn Pharisäer predigen Menschen Ordnungen, unter denen sie selbst nicht leben.
Ihr berührt die Lasten nicht einmal, doch die armen Leute, die versuchen, diese Ordnungen zu leben, gehen zugrunde. Denn kein Mensch kann sie erfüllen. Es klingt schön, wenn jemand sagt: „Tue Recht und scheue niemanden.“ Aber wenn jemand „Tue Recht“ konsequent als Maßstab seines Lebens nimmt, geht er daran zugrunde. Er wird verzweifelt, weil er spürt, dass in seinem Leben und in seinem Herzen das Böse regiert und er es nicht aus eigener Kraft niederringen kann.
Diese pharisäische Art hat Jesus gemeint, als er sagte: „Ihr legt den Menschen Lasten auf, die ihr selbst nicht mit einem Finger anrührt.“ Ihr predigt Verordnungen und Gebote im Namen des heiligen Gotteswillens und glaubt, damit den Weg zur Erlösung zu bauen. So können die Menschen nicht mehr erkennen, dass der große Lastträger Jesus kommt, der sich unter unsere Schulden beugt und sie wegträgt.
Das war bereits die Botschaft von Johannes dem Täufer: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt.“ (Johannes 1,29) Der Hass der Pharisäer richtete sich gerade gegen diese Art Jesu, dass er der Lastträger der Welt ist.
Das Entweder-Oder der Verkündigung
Es gibt hier nur ein Entweder-oder: Entweder predigen wir den Menschen Gebote, Verordnungen und Gesetze. Dann sagen wir: „Das musst du tun, das musst du tun.“
Oder wir predigen den Menschen Jesus, den großen Lastträger. Er kennt unsere schwere Last, die wir zu tragen haben, und weiß, wie schwer es uns fällt, unser Christenleben im Alltag unter Beweis zu stellen.
Jesus gibt uns die Zusage: „Komm, ich trage mit dir. Ich will dein Leben erfüllen, ich will dich verwandeln und dir ein neues Herz geben.“
Das ist die große Botschaft des Neuen Testaments. Wir wollen, dass diese pharisäische Haltung in uns mit Wurzel und Stiel ausgerottet wird. Dieses Denken, als ob der Mensch Gottes Willen aus eigener Kraft erfüllen könnte, als ob es keine große Umwandlung bräuchte, um den Menschen neu zu machen.
Das war der erste Punkt: die abgrundtiefe Verlorenheit.
Die zweite Not: Leugnung der Blindheit unseres Denkens
Das zweite ist, dass sie die Blindheit unseres Denkens leugnen. Wir haben uns ein Weltbild von den Pharisäern zurechtgelegt, das sie als eine Art Schurken darstellt, als unzuverlässige Leute. Diese Sicht stammt aus der Polemik, und alles Negative wird an dieses Bild angehängt.
Die Pharisäer waren die großen Gesetzestreuen im alten Volk Israel, und sie meinten es sehr ernst. Wenn sie an ihren Kleidern Gebetsriemen trugen, dann wollten sie damit auch unterwegs, zum Beispiel wenn sie an der Straße warteten, jederzeit Gebete sprechen können. Sie schrieben sich Gottes Gebote sogar an die Türrahmen, ähnlich wie wir Bibelworte in unseren Wohnungen aufhängen. Das war nichts Negatives, was Jesus an ihnen kritisierte.
Die Pharisäer wollten Lehrer sein. Ist es denn schlecht, Lehrer zu sein und Unwissende unterweisen zu wollen? Hier müssen wir einen Unterschied beachten. Es gab zwei Gruppen unter den frommen Israeliten: Die Sadduzäer waren die Konservativeren. Die Pharisäer waren ebenfalls äußerlich konservativ. Sie wollten das Volk der Juden vor dem Einfluss des Griechentums bewahren, das damals die alte Welt überschwemmte. Doch sie wählten zwei verschiedene Wege.
Die Sadduzäer sagten, es genügt, den ursprünglichen Gotteswillen, wie er in der Bibel steht, festzuhalten. Die Pharisäer hingegen meinten: Das Leben geht weiter, und wir müssen das Gesetz Gottes an die aktuellen Verhältnisse anpassen. Wir müssen es auslegen. So entstanden viele Zusatzgebote, denn es gab neue Problemfälle, die gelöst werden mussten.
Die Pharisäer waren Menschen, die sich mit großer Leidenschaft und Treue bemühten, die einzelnen Problemfelder des Lebens vom Glauben her und im Licht des Gebots Gottes zu lösen. Das ist ja auch nichts Böses. Viele Menschen haben heute Fragen und sagen: Wie lebe ich als Christ in meiner Situation? Ich befinde mich in einem komplizierten Umfeld, und es ist nicht leicht, die Anforderungen meines Berufs mit meinem Glauben zu verbinden.
Was die Pharisäer tun wollten, war einleuchtend: Sie wollten durch klare Gebote Weisung geben. Doch dann kommt Jesus und sagt: Ihr Pharisäer könnt gar keine Lehrer sein. Die Pharisäer trauten sich das zu. Es ist gut, wenn wir die Kritik Jesu an uns ernst nehmen. Wir können keine Lehrer sein. Wir reden so leicht in das Leben anderer Christen hinein und geben Ratschläge, ohne wirklich zu wissen, wie es ist.
Wie wird man denn Lehrer? Jesus sagt, es gibt einen Lehrer, und das ist der himmlische Vater. Es gibt ein unmittelbares Verhältnis eines Christen zu seinem himmlischen Vater. Er gibt seinen Heiligen Geist, und dieser Geist schenkt uns Weisheit für die täglichen Problemfälle.
Wir haben große Angst, dass wir heute, wie damals die pharisäischen Väter, den pasteuralen Vater wieder einsetzen. Viele Christen werden dadurch nie frei in ihrem Glaubensleben und können ihre Lebensprobleme nicht unmittelbar mit Jesus besprechen. Man könnte ganze Akademietagungen über die Probleme des Christseins in der modernen Welt abhalten. Doch ich bin überzeugt: Wo ein Christ im Glauben reift, wird er von seinem himmlischen Vater gelehrt, wie er heute Kinder erziehen muss, wie er in einer Welt lebt, die nicht nach Gott fragt, und wie er dort seinen Glauben leben kann.
Natürlich dürfen wir uns untereinander austauschen. Aber es entsteht leicht ein falsches Abhängigkeitsverhältnis von Menschenmeinungen und Menschenlehren. Jesus sagt so ernst, dass wir gar keine Lehrer sein können, weil wir blind sind in unserem Verstand.
Ich will den Verstand nicht abwerten. Ich glaube selbst, dass ich viel Verstand habe, und keiner von uns meint, er hätte zu wenig. Wir denken alle sehr hoch von unserem Verstand. Doch wenn es um göttliche Weisheit geht, fehlt uns viel von der Klarheit des Denkens Gottes – was Gottes Wille ist und was richtig ist.
Jesus erklärt einem der Pharisäer, der nachts zu ihm kam, in großer Geduld diese Blindheit. Nikodemus fragte: Wie kann man mehr von Gott sehen und von seinem Reich? Jesus antwortete: Es sei denn, dass du wiedergeboren wirst, kannst du nichts sehen. Unser ganzes Denken und unsere Wahrnehmung sind für die Welt Gottes nicht geschaffen. Nur wenn Gottes Geist uns neu macht, bekommen wir ein neues Verhältnis zu den göttlichen Dingen.
Der Betrug falscher Frömmigkeit
Und wenn wir die Fehler der Pharisäer nüchtern ins Auge fassen wollen, dann sollten wir das immer wieder bedenken. Es gibt einen Missbrauch der Frömmigkeit – ich habe die Predigt überschrieben mit „Der Betrug falscher Frömmigkeit“.
Der Betrug falscher Frömmigkeit besteht darin, dass wir uns vor anderen Menschen als erfahrene Christen ausgeben, anstatt sie weiterzuführen und zu sagen: „Gott wird dich lehren. Geh in die Stille und ins Wort, lass dich vom Geist Gottes erleuchten. Er wird dir Klarheit schenken.“
Ich war so dankbar, dass diese Predigt genau jetzt gehalten wurde, wo wir uns auf den Einsatz in der nächsten Woche auf dem Schillerplatz zur Evangelisation vorbereiten. Der Betrug falscher Frömmigkeit ist eine große Gefahr. Menschen wachen auf, fragen nach dem Weg, und wir weisen sie nur in eine Kirchlichkeit ein.
Sie wissen, was ihnen der Gottesdienst bedeutet, und ich werde das nicht abtun. Aber wenn nicht von Anfang an geschieht, dass wir den Menschen sagen: „Die Verlorenheit deines Lebens muss weggenommen werden. Du musst Jesus Christus haben, der sich unter die Last deines Lebens beugt“, dann fehlt etwas Wesentliches.
Du darfst nie von Menschen abhängig werden, sondern musst einer sein, der von Gott gelehrt ist. So heißt es in der großen Ewigkeitsverheißung: „Sie werden alle von Gott gelehrt sein.“ Wir wollen uns nie von Menschen, Lehrmeinungen oder theologischen Schulüberlegungen abhängig machen, auch nicht von den Predigtmeinungen einzelner Prediger.
Stattdessen wollen wir ins Wort eintauchen und von Gott gelehrt und unterwiesen werden. Das haben die Pharisäer völlig vergessen: Sie sollten Schüler bleiben und nie Lehrer werden. Vielleicht spüren wir das heute im Gottesdienst. Ja, das sollen wir spüren, dass keine Predigt jemals perfekt für uns sein soll, sondern dass wir alle miteinander Schüler dieses Wortes sind.
Darum bin ich so froh, wenn Sie eine Bibel mitbringen, damit wir gemeinsam unter diesem Wort zuhören können: Was will uns Gott heute damit sagen? Was ist seine Botschaft an uns?
Die dritte Not: Leugnung des eigenen Unvermögens
Das Dritte: Sie leugnen Ihr Unvermögen.
Ich möchte noch darüber sprechen, dass Jesus Sie dafür kritisieren muss. Sie sitzen gerne oben an bei Tisch und in den Synagogen. Sie haben es gerne, wenn man sie grüßt.
Einige wissen das schon, das habe ich bereits gesagt. Das ist eine der Stellen in der Bibel, die mich ein wenig ärgert. Auch die andere Stelle, dass man bei Tisch immer unten sitzen soll, ist so eine Sache.
Kommen Sie mal eine Viertelstunde vor Kirchenbeginn. Da sind immer die letzten Reihen hinten besetzt, und niemand sitzt vorne. Ich bin so froh, wenn auch ein paar vorne sitzen und hinten den Platz freilassen für den Zachäus, der vielleicht zu spät kommt und sich noch hinten reinquetschen will.
Und dann ist es immer so, selbst in christlichen Versammlungen: „Ach, ich will ganz hinten sitzen“, obwohl das furchtbare Umstände mit sich bringt. Als Zeichen der Demut? Nein, nein, das hat mit Demut nichts zu tun. Das ist ein missverstandenes Wort.
Sie kennen das auch manchmal bei Tisch, wo man einen Gast kaum hinsitzen lassen kann. „Ach, ich möchte nicht oben sitzen“, und dann denkt man: „Mensch, jetzt setz dich doch einfach hin, damit wir anfangen können.“ Was für eine falsche Demut hat das schon gegeben! Jesus meint das doch nicht so.
Es geht um eine ganz andere Frage: die Vorbildfrage. Damals ließen sich die Pharisäer verehren. Die Leute sagten schließlich: „Unsere Jugend muss jemanden haben, zu dem sie aufsehen kann.“ Und das stinkt.
Man braucht Vorbilder, an denen man den jungen Leuten zeigen kann: „Schau, das ist ein richtiger Mensch, den nimmt man als Beispiel für ein erfülltes, gottwohlgefälliges Leben.“ Und so ließen sich die Pharisäer verehren.
Sie müssen wissen, die Pharisäer waren nicht so stolz, wie wir uns das vorstellen. Sie haben im Tempel auch gebetet und Gott gedankt, dass er ihnen Gnade gegeben hat.
Aber Sie wissen doch: In unserem Leben ist es auch zu einer wunderbaren Entwicklung gekommen. Wir sind ein ganzes Stück weitergekommen im Glauben. Gibt es nicht Fortschritte im Glauben, sodass man nach ein paar Jahren sagen kann: „Früher war ich ein sehr schlechter Mensch, aber jetzt bin ich im Glauben ziemlich gewachsen“?
Und Sie kennen die anderen Verse, in denen Jesus die Pharisäer mit scharfen Worten gegeißelt hat: „Wehe, wehe, ihr werdet der höllischen Verdammnis nicht entrinnen!“ Er nimmt die Tarnkappe des Teufels von unserem Gesicht.
Wir bleiben bis zu unserer Todesstunde Menschen, die nur durch die Vergebung Jesu gerettet werden.
Zur gleichen Zeit wird von einem Mitarbeiter des Missionsteams des Missionswerks Neues Leben in der Vollzugsanstalt Stammheim ein Gottesdienst gehalten. Vor Gott gibt es zwischen Ihnen und uns keinen Unterschied. Vor Gott, vor dem Menschenwohl gibt es keinen Unterschied.
Wo das nicht ständig unser Leben prägt – gerade dort, wo Menschen uns bewundern und sagen: „Das ist doch ein Christ, da staune ich, was der in seinem Leben kann“ –, da wollen wir es ihnen zurufen. Dann soll das unser Lebensbekenntnis sein: „Mir ist Erbarmen widerfahren, Erbarmen, dessen ich nicht wert bin, selig zu dem Wunderbaren, zum Großen meines Lebens, dass Gott mich herausgezogen hat, dass er mich täglich hält.“
Es gibt keinen Augenblick, in dem ich nicht schon tiefgefallen wäre, wenn Gottes Liebe mich nicht unverdient gehalten hätte, wenn er mich nicht bewahrt hätte in meinem Leben. Das ist sein Wunder.
Darum wehrt sich Jesus gegen dieses Verehren, gegen dieses Vater-nennen-Lassen, gegen dieses Grüßen und gegen das vorbildliche Auftreten, das sie darstellen wollen.
Sie leugnen ihr Unvermögen, sie leugnen ihre Verlorenheit. Wir sind eigentlich wieder beim ersten Punkt, und doch ist es ein dritter: Sie leugnen ihr Unvermögen.
Vor Gott gibt es keine Muskelprotze, die die großen Lasten hochheben. Es gibt nur eine Schar gefallener Menschen, die durch seine große Gnade gerettet werden.
Und dann sollen andere noch sagen, das Wort „Gnade“ sei ein abgegriffenes Wort. In unserem Leben ist es nicht abgegriffen, wenn wir täglich den Atem anhalten müssen, wenn wir das Wort der göttlichen Gnade über unserem Leben hören.
Soll über unsere Liebe nie mehr kommen dieses Wort von den Pharisäern. Man hat es ja oft den ernsthaften Christen in der Gemeinde Jesu übergestülpt, als ob sie die Pharisäer wären, auch denen, die ihres Heils gewiss waren.
Das ist nicht Pharisäerart.
Pharisäerart ist zuerst, wenn man die Verlorenheit des Menschen leugnet, wenn man leugnet, dass wir nicht aus eigenem Können gerecht werden.
Es gibt sowohl im heidnischen als auch im christlichen Gewand die Meinung, man könne sich selbst erlösen.
Das zweite Merkmal der Pharisäerart ist, dass sie leugnet, dass unser Wissen und Verstand mit Finsternis verhüllt sind, wenn nicht die Hand deines Geistes uns mit hellem Licht berührt.
Und drittens leugnet die Pharisäerart unser Unvermögen.
Das Ganze hat Jesus so scharf gesagt, weil er vor uns steht als der, der das Wollen und das Vollbringen schenkt.
Er hat solche Leute, auch solche Pharisäer, hergerufen und gesagt: „Kommt her zu mir, ich will euch erquicken.“
Er kann Schuld vergeben, er kann Augen öffnen, er kann Menschen fähig machen zum Tun seines Willens.
Amen.
Schlussgebet und Segen
Wollen beten.
„Herr, du deckst die unheilvolle Kluft in unserem Leben auf zwischen Wollen und Vollbringen. Das sehen wir auch in diesem Spiegel uns selbst: Wir können mit Worten so leicht sagen, was dein Wille ist. Doch wenn es dann ans Praktizieren geht, sind wir so ohnmächtig.
Ja, Herr, du hast nur an diese Wunde gerührt, damit wir uns in deine Arme fallen lassen. Du sollst der Herr und Erlöser unseres ganzen Wesens werden. Wir danken dir, dass du uns erneuern, heiligen und in deinen Dienst nehmen kannst.
Bewahre uns immer vor dem Betrug falscher Frömmigkeit. Wir wollen die Angst nie verlieren, dass wir gerade mit frommen Worten anderen den Weg zu dir verbauen. Herr, wo du uns im Glauben wachsen lässt, da zeige uns auch die Aufgabe zum Dienst am Anderen, am Nächsten. So dürfen wir in dieser Welt dazu dienen, dass Menschen dich erkennen und dich finden.
Wir wollen dich auch jetzt für diesen Einsatz in der nächsten Woche auf dem Schillerplatz bitten. Wir danken dir für die große Zahl von Mitarbeitern und für die vielen Gelegenheiten bei den Besuchen. Lass es in diesen Tagen um nichts anderes gehen als um deinen Ruf in die Nachfolge.
Hilf uns, dass wir nicht Menschen fromm machen, sondern dass wir sie zu dir bringen und Jesus Jünger machen. Wir vertrauen darauf, dass du in ihnen ein neues Leben wirkst.
Herr, wir rechnen mit deiner Zusage und mit deinem Wirken.
Lasst uns gemeinsam beten:
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Und nun wollen wir um den Segen unseres Herrn bitten:
Herr, segne uns und behüte uns. Herr, lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig. Herr, erhebe dein Angesicht auf uns und gib uns deinen Frieden.“