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09.09.1989Lukas 7,11-17
Jesus war sein Leben lang mit dem Tod übers Kreuz. Deshalb kapituliert er in Nain nicht vor der Macht des Todes, sondern proklamiert Gottes Macht - als Trostwort, als Machtwort und als Schlusswort. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Trauerfall in Nain, liebe Gemeinde, ein schwerer Fall. Menschen werden mit 60, 70 oder 80 beerdigt. Dieser Tote war noch jung. Wahr­scheinlich ist er nicht einmal volljährig gewesen. Ein schwerer Fall, und ein tragischer Fall. Die Mutter hatte nur diesen Sohn. Ihr Herz hing an diesem Herzallerliebsten. Er war ihr einziger. Ein tragischer Fall, und ein schmerzlicher Fall. Der Vater war schon lange unter der Erde. Nun hätte der Sohn den Schutz und die Versorgung der Mutter sicherstellen sollen. Alleinstehende Frauen waren schutz- und mittellos. Ein schmerzlicher, ein tragischer, ein schwerer Fall, dieser Trauerfall in Nain.

Sicher kamen Ver­wandte und Bekannte, auch treue Freunde und eine Handvoll Nach­barn. Ganz in Schwarz und mit ein paar Blümchen in den Händen klopften sie leise an das Trauerhaus. Sie wollten in dieser schweren Stunde die Frau nicht allein lassen und ihr ein paar Worte sagen. Aber was sagten sie?

Nun das, was wir in solchen Fällen auch zu sagen pflegen. Ein Wort des Mitleids: "Der Bub war noch so jung. Er hat das Leben noch gar nicht richtig kennengelernt. Die besten Jahre lagen noch vor ihm. Wie hat er gelacht, wenn er draußen am Quelltor mit den Freunden tollte! Wie hat er sich gefreut, wenn es zur Ernte hinausging in die Jesreel-Ebene! Wie ausgelassen sprang er voraus, wenn es zum Passah nach Jerusalem ging! Und jetzt dieser Bub im Sarg." Ein Wort des Mitleids - oder ein Wort der Anteil­nahme: "Wir fühlen mit, wenn es jetzt in Ihrem Haus so still ge­worden ist und Sie ganz allein Ihr Brot essen müssen. Wir tragen mit, wenn die Last unerträglich wird und das Weh zentnerschwer zu Boden drücken will. Wir helfen mit, wenn kein Sohn mehr zupacken kann und die eigenen Kräfte versagen. Wir stehen Ihnen bei." Ein Wort der Anteilnahme - oder ein Wort des Schmerzes. "Warum dieses Kind, wo es noch so jung war? Warum dieser Sohn, wo er noch so notwendig gebraucht würde? Warum dieser Mensch, wo er noch so gerne gelebt hätte? Warum dieses Leiden? Warum dieses Sterben? Warum dieser Tod? Warum mein Gott, warum?" Ein Wort des Schmerzes.

Sicher gibt es noch viele andere Worte, die wir bei Trauerfällen zu sagen pflegen, aber jedesmal ist es, und das spüren wir doch ganz deutlich, ein Wort der Kapitulation. Wenn ein lieber Sohn auf die Bahre gelegt wird, dann können wir nicht anders reagieren. Wenn ein treuer Mensch zum Hause hinausgetragen wird, dann müssen wir leider resignieren. Angesichts des Schnitters Tod haben wir alle zu kapitulieren, außer einem, nicht irgendeiner, sondern ein gewisser. Jesus Christus kapituliert nicht. Damals ist er aus­gerechnet zur Beerdigungszeit mit seinen Jüngern und einem ganzen Schwarm von Leuten in dem Städtchen aufgetaucht. Sein Wanderweg kreuzte den Trauerweg. Seine Durchgangsstraße kreuzte die Friedhofstraße. Sein Festzug kreuzte den Leichenzug.

Immer ist das so. Nie lässt er unsere Trauerzonen links liegen. Selbst in seiner schwerst­en Stunde mogelte er sich nicht um den Tod herum, sondern ging mitten in ihn hinein. Jesus war sein Leben lang mit dem Tod übers Kreuz. Deshalb gibt es auch in Nain kein Hutziehen vor der Maje­stät des Todes, kein Verbeugen vor der Macht des Todes, kein Ver­stummen vor der Gewalt des Todes. Jesus reagiert oder resigniert oder kapituliert nicht, sondern er proklamiert. Sein Reich wird angesagt. Seine Macht wird zugesagt. Seine Herrlichkeit wird in aller Traurigkeit verkündigt. Darauf müssen wir hören, wenn unsere Liebsten die Augen zumachen, wenn unsere Särge hinausgetragen werden, wenn unsere Züge zum Grabe gehen. Jesus hat immer ein Wort der Proklamation, hier in Nain als Trostwort, als Machtwort und als Schlusswort.

1. Sein Trostwort lautet: Weine nicht.

Jesus sieht also in diesem Augenblick nicht Elisa, der vor Jahren genau in dieser Gegend, am Fuß des Hügelmassivs Givat Hamoreh, den toten Sohn einer armen Witwe auferweckt hat. Der Erinnerung an diesen Schüler Elias war unter den Leuten lebendig. Aber Jesus ist nicht weitsichtig. Jesus sieht in diesem Augenblick auch nicht den Hauptmann, dessen Adjutanten er eben in Kapernaum wieder gesund gemacht hat. Die begeisterten Fans waren ihm noch auf den Fersen. Aber Jesus ist nicht kurzsichtig. Jesus sieht in diesem Augenblick auch nicht den Johannes, der in der Wüstenstadt Machärus einsitzt wie ein Verbrecher. Wegen seiner unbequemen Botschaft hat ihn Herodes in die Todeszelle geschickt. Jesus ist nicht blind für die Menschen um ihn herum. So sieht er die Witwe hinter dem Sarg. Das Leid, er sieht's. Das Un­glück, er sieht's. Das Weinen, er sieht's. Keine versteckte Träne, keinen heimlichen Kummer, keinen verborgenen Schmerz übersieht er und sagt: "Weine nicht."

Aber warum soll sie nicht weinen? Warum soll sie nicht heulen? Warum soll ihr das Klagen verboten werden, wenn das Teuerste zur Stadt hinausgetragen wird? Einige Augenzeugen gaben die Antwort mit einem Lied, das sie spontan anstimmten: "Gott hat sein Volk heimgesucht." Im Besuch liegt der Trost.

Von Zeus wird berichtet, dass er sich eines Tages dazu bequemte, seinen Alters­sitz auf dem Olymp zu verlassen. Mit großem Getue und gewaltigem Getöne ging der Götterbesuch über die Erdenbühne. Aber weil alles so kalt und so grau und so ungastlich war, zog er sich ganz schnell wieder in seinen Himmel zurück.

Liebe Gemeinde, Gott ist geblieben, Jesus machte keine Stippvisite. Die kalte Welt hielt ihn von sein­em Vornehmen nicht ab. Jesus machte keinen Kurzbesuch. Die graue Wirklichkeit trieb ihn nicht zum vorzeitigen Abbruch seines Unter­nehmens. Jesus ließ es nicht bei einem flüchtigen Rendezvous bewenden. Die ungastliche Aufnahme in einem Stall änderte nichts an seinem Plan, nach seinen Leuten zu sehen. Gott hat sein Volk be­sucht. Deshalb ist er in Rufweite. Seine Tröstungen und Mahnungen sind unüberhörbar. Ohne dieses "weine nicht", "fürchte dich nicht", "glaube nur" müssen wir nicht mehr leben.

Gott hat sein Volk be­sucht. Deshalb ist er in Hörweite. Mein Rufen und Schreien ist ihm nicht verborgen. Für alles hat er ein offenes Ohr. Gott hat sein Volk besucht. Deshalb ist er in Sichtweite. Wir erahnen ihn nicht in der Tiefe des Seins oder in der Ferne des Weltraums. "Wer mich sieht, der sieht den Vater", sagt Jesus. Im Besuch Gottes liegt aller Trost. Jeder Trauerzug muss an ihm vorbei, jeder Leidtragende kommt in sein Gesichtsfeld, jedes Leid hat er im Auge und dazu sagt er sein Trostwort: "Weine nicht."

Dann das Zweite:

2. Sein Machtwort lautet: Halte an.

Über dem Platz von Nain knistert es vor Spannung. Die Szene, wie von einer gespenstischen Regie gesteuert, treibt einem Höhepunkt entgegen. Zwei Kolonnen nähern sich wie zwei feindliche Heerhaufen. Auf der einen Seite der Totengräber, auf der andern Seite der Lebensbringer. Auf der einen Seite die Klageweiber, auf der andern Seite die Lobsänger. Auf der einen Seite die Untröstlichen, auf der andern die Getrösteten. Also die Majestät des Todes gegen die Majestät des Lebens. Ein atemberaubender Augenblick. Die Begegnung rückt Schritt für Schritt näher. Ein Ausweichen ist ausgeschlossen. Wird Jesus jetzt gleich zur Seite treten und der Leiche die Vorfahrt lassen, so wie es schon immer zum Anstand gehört hat und auch heute noch gehört?

Stattdessen geschieht das Haarsträubende. Er gibt dem Trauerkondukt kein grünes Licht. Er räumt nicht seinem Erzfeind das Feld. Er denkt nicht daran, in solch einem Moment zu verstummen. "Halt", sagt er dem Bestatter, "setz ab", sagt er dem Träger, "bleib stehen". "Und die Träger standen." So steht es da, wie wenn es heißen würde: Und die Wasser des Rheins standen. Dann streckt Jesus seine Hand aus und berührt den Sarg. Heiden hatten Angst, mit dem Tod in Kontakt zu kommen. Aber Jesus hat keine Kontaktangst. Juden hatten Angst, mit der Unreinheit in Berührung zu kommen. Aber Jesus hat keine Berührungsangst. Menschen haben bis heute Angst, mit den Gestorbenen irgend etwas zu tun zu bekommen und deshalb müssen sie ganz schnell aus der Wohnung verschwinden. Jesus hat keine Todesangst. Seine Hände greifen in das Kraftfeld des Todes hinein und beschlagnahmen auch diesen Toten für sich, so als ob er sagen wollte: "Der ist mein. Der gehört mir. Der bleibt in meinen Händen."

Liebe Freunde, ist es nicht jene bange Frage, die uns immer wieder umtreibt, wenn wir an unsere heimgegangenen Väter und Mütter, Männer und Frauen, Kinder und Enkel denken: Wo sind unsere Toten? Sind sie beim Sterben aus Gottes Hand geglitten? Sind sie hinuntergefallen in einen tiefen Abgrund? Sind sie leidend und büßend in einem infernalischen Fegefeuer? Sind sie verraten und verkauft unter höllischen Teufeln? Wo sind unsere Toten?

Die Antwort ist eindeutig. Wer im Leben seine Hand in die Hände des Herrn gelegt hat, wird auch im Tode diesen Händen nicht entnommen sein. Der, der gesagt hat: "Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet“, lässt uns nicht unter der Hand in ganz andere Hände gleiten. Und seit er seine Hand nicht nur bis zum Sarg, sondern bis zum Kreuz ausgestreckt hat, liegt nichts mehr außerhalb seiner Reichweite.

Jesu Hände fassen an, sie greifen zu, sie halten fest. Ob Leid oder Schmerz oder Leiden oder Krank­heit oder Sterben oder Tod, es bleibt bei der Zusage: "Niemand wird sie aus meiner Hand reißen". Deshalb auch sein Machtwort: "Halte an!"

3. Sein Schlusswort lautet: Stehe auf.

Jesus behält das letzte Wort. Auch in Nain wurden viele letzte Worte gesprochen. Vielleicht hat der hochfiebrige Sohn noch einmal die Augen aufgeschlagen, mit ganz schwacher Stimme: "Danke Mutter" gesagt und dann seinen Mund für immer geschlossen. Letzte Worte. Vielleicht hatte die Mutter noch einmal seine heiße Hand gefasst, ihm ins Ohr geflüstert: "Leb wohl, Bub" und dann seine Augen zugedrückt. Letzte Worte. Vielleicht hatten sich ein paar Verwandte um sein Sterbebett versammelt, die Hände gefaltet und miteinander den alten Erlösungspsalm gebetet: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden."

Letzte Worte. Sie setzen sich fest. Sie prägen sich ein. Sie sind ein Leben lang unvergessen. Und doch sind sie allesamt nicht die allerletzten Worte. Einer behält sich dies vor. Jesus spricht immer das Schlusswort und dies lautet: "Steh auf!" Sicher ist dieser junge Mann nur für eine bestimmte Frist ins Leben zurückgekehrt, aber der Herr über Leben und Tod hat ein Exempel statuiert, wie er einmal mit allen Toten verfahren wird. Deshalb ging er von Nain schnurstracks nach Jerusalem, um dort in der Hölle des Karfreitags diese Verheißung wahrzumachen. Der Jüngling von Nain ist ein vorausgeeilter Osterbote. Eine Schwalbe macht zwar noch keinen Sommer, kündigt aber an, dass es einen Sommer gibt und dass dieser Sommer kommt. Die Auferstehung von den Toten ist nicht mehr aufzuhalten.

Liebe Gemeinde, ich bin damals am Grabe gestanden und habe gesehen, wie der Sarg ver­senkt wurde, der Sarg meiner lieben Mutter. Und da, in diesem Moment hat mich blitzartig der Gedanke durchzuckt: Was da versinkt, wird wieder herauskommen. Was da verschlossen liegt, wird befreit werden. Einmal wird all das Sarg- und Grabwesen explodieren, eine Explosion ins Leben hinein: "Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung". Ich weiß nicht, wer von uns das nächste Mal an einem Grabe steht und den Sarg mit einem geliebten Menschen versinken sieht. Keiner wird von diesen Augenblicken verschont bleiben. Aber das weiß ich, dass er daran denken kann, was ich damals gedacht habe: Sarg und Grab sind nicht endgültig. Was da versinkt, wird wieder herauskommen. Was da verschlossen liegt, wird befreit werden. Christus kommt wieder und mit ihm eine Explosion ins Leben hinein, da alle Gräber und Särge ihre Funktion verlieren, weil die Toten auferstehen. Gelobt sei Gott.

Jesus trat an den Sarg, Jesus tritt an die Särge, Jesus wird an meinen Sarg treten und das Schlusswort sprechen: "Stehe auf!" Wollen Sie ihm jetzt widersprechen? Amen.


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]