Haniel Ernst nimmt uns mit auf einen Vogelflug, dem dritten, bei dem wir eine Zwischenlandung gemacht haben – bereits zweimal – und nun zum dritten Teil ansetzen, zum Buch Genesis, dem Buch der Anfänge.
Darum habe ich mir etwas mehr Zeit genommen. Ich habe einmal in einem Interview gesagt, dass ich immer wieder zum Buch der Anfänge zurückkehre. Denn am Anfang ist alles enthalten. Wir überlegen uns dann noch einmal genauer, woher alles kommt und gleichzeitig, woraufhin es angelegt ist.
Wenn wir den Schöpfungsbericht lesen, Genesis 1, dann schließt die erste Perspektive Gottes, der am Anfang da war und schuf, mit der Anlage der Ruhe am siebten Tag ab. Wir erfahren also schon zu Beginn, worauf alles angelegt ist – die Teleologie, den Plan Gottes.
Wir erfahren, wie er nicht nur geschaffen hat, sondern auch in welcher Ordnung und Struktur. Um ein heideckersches Wort zu verwenden: In welcher Geworfenheit hat er den Menschen in seine Schöpfung hineingestellt? Als seinen Stellvertreter wird der Mensch in eine Bundesbeziehung gestellt, die er dann bricht.
Gott stellt den Menschen kurz danach, gleich nachher, zur Rede – mit didaktischen Fragen, wie in 1. Mose 3,8 und den folgenden Versen. Es sind mehrere Fragen, und ihnen wird dieser Fluch auferlegt.
Dieser Fluch tritt in Kraft: Es kommt zu einer Verzögerung des leiblichen Todes, jedoch zu einem sofortigen geistlichen Tod. Gleichzeitig wird angekündigt, dass es jemanden geben wird. Theologen nennen dies das Brottevangelium, das erste Evangelium, in 1. Mose 3,15. Dort heißt es, dass jemand der Schlange den Kopf zertreten wird.
So sehen wir, dass Adam und Eva bei ihrem ersten Nachkommen Hoffnung hatten – so schließe ich es zumindest aus den Formulierungen des Textes. Sie sagten, dass dieser Mann, der Nachkomme, sie retten würde. Sie hatten einen Mann erworben mit dem Herrn.
Dieser Mann jedoch ist von Anfang an abgeirrt. Er erschlägt seinen Bruder aus Hass und wird zum ersten Mörder der Menschheitsgeschichte.
Und Gott schenkt Ersatz, den Seth. Dieser bekommt einen Sohn mit Namen Enosch, was schwach oder hinfällig bedeutet.
Zu jener Zeit, am Ende des vierten Kapitels, begann man, den Namen des Herrn anzurufen. Dabei zeigt sich, dass es zwei Linien gibt: die Linie des Glaubens und die Linie des Ungehorsams. Diese beiden Linien der Menschheit entwickeln sich fortan weiter.
Wir sehen, dass diese Linie über Noah erhalten bleibt – durch ein Gericht, das die gesamte Erde trifft. Dieses Gericht ist die Sintflut. Es hat nichts mit Gottes ewigen Ratschlüssen zu tun, sondern mit dem Gericht aufgrund des Bundesbruchs.
Zweimal wird bestätigt, vor und nach der Flut, also vor dem Gericht und nach dem Gerichtsakt, dass das Böse im menschlichen Herzen durch diese Flut nicht ausgelöscht wird. Das menschliche Herz ist böse von seiner Jugend an, jeden Moment von Grund auf verdorben. Dies steht in 1. Mose 8,21 nach der Flut: „Denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an.“
Das bleibt so. Es zeigt sich gleich selbst beim Auszug aus der Arche, als Noah betrunken wird. Er betrinkt sich an den Früchten, den guten Früchten, der guten Schöpfung. Dabei missbraucht er die guten Dinge. Nicht das Geschaffene ist schlecht, wie Paulus in 1. Timotheus 4 sagt, sondern es wird durch den Sünder in einer falschen Richtung missbraucht. Das ist das Problem.
Das Bestreben des Menschen, wie Gott zu sein, wurde bereits dem ersten Menschen durch den Teufel in Gestalt der Schlange verheißen. Dieser versprach, dass der Mensch wie Gott sein werde. Tatsächlich wurden dem Menschen daraufhin die Augen geöffnet. Doch gleichzeitig verfiel er in den geistlichen Tod.
Dieses Streben blieb dem Menschen auch später erhalten, etwa nach der Flut. Damals baute er den Turm, eine Ziggurat, um sich einen Namen zu machen und sich zu erheben – auf die Ebene dessen, der allein würdig ist, den ersten Namen zu tragen.
Im ersten Kapitel sehen wir eine sehr sarkastisch-ironische Schilderung. Es heißt, dass jemand herabsteigt – ein anthropomorpher Ausdruck: Der Herr stieg herab, um den Aufstieg des Menschen zu begutachten. Dabei stellt er fest, dass den Menschen nun nichts mehr daran hindert, das zu tun, was sie sich vorgenommen haben. Sie drücken ihre Pläne eigenwillig aus.
Ähnlich beschreibt es David in Psalm 2,1: Die Menschen versammeln sich im Ratschluss gegen Gott und rebellieren. Diese Rebellion setzt Gott Grenzen – ganz klar ergänzt durch die Sprachverwirrung.
Ab Kapitel 11, Vers 10, wird dann in der nächsten Chronik der Fokus auf einen Menschen, auf eine Linie gelegt: die Linie des Glaubens, die Linie Sams, aus der Abraham hervorgeht. Von Abraham ist nun im nächsten Teil des ersten Buches Mose die Rede.
Wir können sagen, dass Kapitel zwölf bis Kapitel fünfzehn den Teil der Patriarchen bilden, also gewissermaßen den dritten Teil des ersten Buches Mose. Von Kapitel zwölf bis fünfundzwanzig wird das Leben Abrahams geschildert.
Wenn wir den Namen Abraham hören, denken wir daran, dass das Neue Testament im Evangelium nach Matthäus mit dem Geschlechtsregister Jesu Christi beginnt – „des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“. Abraham ist zum Prototyp, zum Vater der Glaubenden geworden. Paulus greift dies im Römerbrief auf und sagt, dass Abraham zum Vater aller geworden ist, die glauben. Zentral ist dabei der Ausspruch in 1. Mose 15,6: „Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet.“
Damit sehen wir, dass Abraham bereits im Alten Testament durch den Glauben gerechtfertigt wird. Der Glaube ist dabei kein Werk des Menschen, sondern ein Geschenk Gottes, wie Paulus im Römerbrief Kapitel vier ausführlich darlegt.
Aus dem Galaterbrief, Kapitel drei, wissen wir, dass die Verheißung des Samens, also der Nachkommenschaft, bewusst im Singular steht (Galater 3). Paulus argumentiert, dass dieser Nachkomme von Abraham Christus ist. Christus hat die Menschen, die Glaubenden, von dem Fluch erlöst, unter dem sie standen. „Damit der Segen Abrahams zu den Heiden komme in Christus Jesus, damit wir durch den glaubenden Geist empfangen, der verheißen worden war“ (Galater 3,14).
Hier erkennen wir also deutlich, dass es sich um viel mehr als eine bloße Erzählung handelt. Es ist keine einfache Heldenerzählung oder spannende Geschichte. Natürlich ist die Erzählung spannend und wurde von Mose, dem Verfasser, der möglicherweise auf Familienchroniken zurückgriff, sehr bewusst so angeordnet. Durch den Heiligen Geist inspiriert, enthält sie Hinweise auf die Heilsgeschichte.
Dieses zwölfte Kapitel beginnt mit der Berufung Abrahams. Gott ruft den Menschen; nicht der Mensch sucht Gott, sondern Gott sucht den Menschen. Er ruft ihn heraus.
Abraham wird aus einem Umfeld herausgerufen, das, wie wir aus archäologischer Forschung wissen, sehr bequem, hoch entwickelt und sicher war. Gott ruft ihn aus diesem Umfeld und gibt ihm eine ungewisse Zukunft.
Deshalb macht der Verfasser des Hebräerbriefs im Hebräer 11,8 diesen wichtigen Ausspruch über den Glauben Abrahams: „Durch Glauben gehorchte Abraham, als er berufen wurde, aus dem Ort auszuziehen, den er als Erbteil empfangen hatte. Und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er kommen würde.“ Er zog also durch Glauben aus.
Um einen Bezug zum Neuen Testament herzustellen, wissen wir aus Apostelgeschichte 7, dass Abraham zunächst mit Nahor und seiner ganzen Verwandtschaft auszog. Doch er legte einen längeren Zwischenstopp ein. Stephanus berichtet in seiner Rede in Apostelgeschichte 7,2, dass Abraham durch den Gott der Herrlichkeit berufen wurde, bevor er in Haran wohnte. Das bedeutet, er verließ Mesopotamien, wohnte dann in Haran.
In Apostelgeschichte 7,4 heißt es: „Da ging er aus dem Land der Chaldäer und wohnte in Haran.“ Nach dem Tod seines Vaters zog er erst nach Haran. Erst nach dem Tod Nahors zog er in das Land, in dem er jetzt wohnte.
Stephanus fügt hinzu, dass Gott ihm kein Erbteil darin gab, nicht einmal einen Fußbreit Land. Gott versprach ihm jedoch, es ihm zum Eigentum zu geben.
Und diese Verheißung dieses Eigentums wird bereits im zwölften Kapitel deutlich: Gott segnet Abraham und verheißt ihm Nachkommenschaft. Er verspricht ihm ein großes Volk, ein Land und dass sich an diesem Nachkommen Segen und Fluch entscheiden würden.
Er sagt: „In dir will ich segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen.“ In dir, in deinem Samen, in deinem Nachkommen, der Christus ist, sollen alle Völker auf der Erde gesegnet werden.
Das ist ganz interessant, denn zugleich mit der Erwählung Abrahams und der Erwählung dieses Volkes Israel – wie wir aus 5. Mose 7 und 5. Mose 9 wissen – handelt es sich um reine Liebe, reine Zuwendung vonseiten Gottes. Es ist sein Ruf.
Zugleich wird eine weltweite Perspektive eröffnet. Es ist nicht nur eine nationale, sondern eine globale heilsgeschichtliche Perspektive, die bereits zu Beginn erwähnt wird.
Wir sehen den Gehorsam Abrahams durch Glauben in 1. Mose 12, Vers 4: „Da ging Abraham, wie der Herr zu ihm gesagt hatte.“ Oft begegnen uns Gegenbilder oder parallele Geschichten.
Wir sehen bereits in Kapitel 12, Vers 4, den Lot, der mit Abraham mitgeht. Er zieht einfach mit seinem Onkel mit. Dabei erkennen wir, wie Lot eine eigene Entwicklung durchmacht.
Parallel dazu wird das Leben Abrahams dem Leben Lots gegenübergestellt. Wir wissen aus 2. Petrus 2,7-8, dass Lot ein Gerechter war. Er wurde von Gott gerechtfertigt, war erlöst und ein Gläubiger. Dennoch ging er einen ganz anderen Weg.
Abraham hielt sich als Fremder auf. Wie tief diese Identität als Fremdling und Beisasse in ihm verankert war, zeigt sich besonders nach dem Tod seiner Frau Sarah. Im Kapitel 23, Vers 4, als es darum geht, ein Erbbegräbnis für Sarah zu erwerben, sagt Abraham: „Ich bin ein Fremdling und Einwohner ohne Bürgerrecht bei euch.“
Er hielt sich also als Fremdling und Beisasse ohne Bürgerrecht bei den Einheimischen auf. Gleichzeitig sehen wir schon ab Kapitel 12, Vers 7-8, dass die Gewohnheit des Opferdienstes weitergeführt wird.
Wir erkennen, dass Gott im Garten Eden Adam und Eva Kleider aus Fellen gemacht hat, die von Tieropfern stammen. Auch Kain und Abel brachten Opfer dar. Zur Zeit von Enosch begann man, den Namen des Herrn anzurufen.
Noah brachte in Kapitel 8 Gott ein wohlriechendes Opfer von reinen Tieren dar. Gott nahm den lieblichen Geruch an. Dieses Thema, das Motiv des Opfers und des Gottesdienstes durch Opfer zieht sich von Anfang an durch die biblische Geschichte, seit dem Sündenfall.
Es ist eine Vorschattung auf das einmal für alle Mal geschehene Opfer Christi, wie es der Hebräerbrief aufzeigt. Schon ab dem Sündenfall beginnt dieses Motiv und zieht sich als Linie durch das Leben der Erzväter und Patriarchen. Wir sehen es immer wieder.
Wir sehen nicht nur, dass das Leben Abrahams im Vergleich zu dem Leben Lots dargestellt wird, sondern auch, dass Abraham immer wieder fällt, ungehorsam ist und sündigt.
Das erste Mal zeigt sich dies in seiner Flucht nach Ägypten aufgrund einer Hungersnot. Dort sucht er Zuflucht durch eine Notlüge und versucht, seine schöne Frau mit einer Halbwahrheit zu schützen. Er gibt seine Halbschwester als seine Schwester aus. Der Pharao nimmt daraufhin Sarah zu sich, doch Gott greift direkt ein, schlägt den Pharao, und dieser stellt Abraham zur Rede. Daraufhin zieht Abraham mit seiner Frau und seinem wachsenden Besitz wieder aus Ägypten zurück (1. Mose 13,1).
Wir sehen immer wieder diese Tiefpunkte im Leben Abrahams. Es wird kein ideales Bild gezeichnet – das ist ein Markenzeichen der Heiligen Schrift. Menschen werden nicht als Ideale dargestellt, sondern als Glaubende und zugleich als begnadigte Sünder. Abraham fällt immer wieder, und das zieht sich durch seine Lebensgeschichte.
Ein weiteres Beispiel finden wir in Kapitel 16. Dort wird das Problem der Kinderlosigkeit eingeführt, und der Autor führt es sorgfältig und dezent ein, sodass es sich immer mehr akzentuiert. In Kapitel 15 beklagt sich Abraham bereits, und später wird sogar von einem Lachen gesprochen. Der Name Isaak stammt vom hebräischen Wort „Zaak“, was „lachen“ bedeutet.
In Kapitel 16 ergreift Sara die Initiative und gibt ihrem Mann ihre ägyptische Magd als Nebenfrau. Aus dieser Verbindung entsteht Ismael, ein Nachkomme, der jedoch nicht der Verheißungsträger ist. Dies ist ein weiterer Tiefpunkt im Leben Abrahams. Bezeichnend ist, dass Abraham 86 Jahre alt war, als Ismael geboren wurde. Danach folgen 13 Jahre Stille, eine Pause. In Kapitel 17, Vers 1, wird berichtet, dass Abraham 99 Jahre alt war – ein weiterer Tiefpunkt in seinem Leben.
In Kapitel 20 greift Abraham erneut zu einer ähnlichen Notlüge bei den Philistern. Er gibt wieder vor, Sarah sei seine Schwester, und der König der Philister nimmt sie zu sich. Doch Gott begegnet dem heidnischen König im Traum, stellt Abraham zur Rede und bezeichnet ihn als Propheten (20,7). Abraham tut Fürbitte für den König.
Sowohl in Kapitel 12 als auch in Kapitel 20 sehen wir, dass unter den Heiden noch ein gewisses Bewusstsein für Gottes ethische Ordnung vorhanden war. Gottes direkte Zwiesprache mit den Königen deutet auf einen langsamen Verfall und ein kulturelles Vergessen hin – ein Vergessen dessen, was Gott als Ordnung schuf. Dies ist ein weiterer Tiefpunkt im Leben Abrahams, ein wiederkehrendes Muster.
Nach dem Tod Saras nimmt Abraham noch eine Frau namens Ketura, die ihm weitere Söhne gebiert. Dieses letzte Ereignis ist wohl nicht im engeren Sinn als Sünde zu bezeichnen. Dennoch wird Abraham als ganz normaler Heiliger und begnadigter Sünder dargestellt – als Verheißungsträger, der von Gott berufen ist und sein Leben als Fremdling führt.
Neben den Tiefpunkten im Leben Abrahams sehen wir auch die Auseinandersetzung mit Lot, die in die Geschichte eingewoben ist. Zuerst gibt es Streit wegen des wachsenden Besitzes in Kapitel 13. Abraham zeigt Glauben, indem er Lot den Vorzug lässt.
Der Erzähler arbeitet sehr fein und dezent heraus, dass Lot auf seine eigene Intuition vertraut. Er hebt seine Augen auf (13,10) und sieht den fettesten Landstrich. Es zieht ihn dorthin, wo er ein gutes Geschäft machen kann. Dabei nimmt er eine Verwechslung vor, denn er glaubt, der Landstrich sei so schön wie der Garten Eden oder das Land Ägypten. Doch er zieht genau dorthin, wo das Böse besonders stark ist – nach Sodom und Gomorra. Diese Städte wurden später sprichwörtlich in den Propheten bis hin zu Jesus selbst als Beispiel für ein gottloses und verfallenes Leben genannt.
Lot wählt aktiv diesen Ort und schlägt sein Zelt bis nach Sodom auf (13,12). Im 14. Kapitel wohnt er noch immer in Sodom (14,12), und in Kapitel 19 sitzt Lot im Tor von Sodom. Aus dem 2. Petrusbrief wissen wir, dass Lot ein Gerechter war. Er quälte sein Gewissen, war ein Mitläufer und litt unter den Zuständen.
Vor allem im 19. Kapitel erfahren wir, dass Lot in einer lebensbedrohlichen Situation nicht wirklich einer von ihnen war. Er war ein Gerechter, der innerlich litt, Kompromisse einging und ein furchtbares Ende fand. Paulus beschreibt in 1. Korinther 3, dass Lot wie durch Feuer gerettet wurde. Alles andere verbrannte, und sein Besitz wurde am Ende bedeutungslos.
Diese schlechte Entscheidung und die dauernden Kompromisse führten zu einer persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Katastrophe. Im Moment schien es jedoch die bessere Wahl zu sein.
Abraham hingegen zeigt Glauben – dreimal wird dies deutlich. Er wählt das scheinbar schlechtere Teil des Gebirges. Gott bestätigt ihm am Ende von Kapitel 13 nochmals die Verheißung, dass er seinen Nachkommen das Land geben wird (13,14). Abraham baut erneut einen Altar (13,18). Auch hier sehen wir immer wieder nach den Tiefpunkten eine Entscheidung des Glaubens.
Ein Blick auf die ewige Stadt, wie es im Hebräerbrief Kapitel 11 beschrieben wird, ist von großer Bedeutung. Ich möchte diesen Vers nochmals lesen, da er wichtig ist, um die Perspektive des neutestamentlichen Schreibers zu verstehen – die inspirierte Sicht auf den Glaubensweg Abrahams. Abraham wartete auf die Stadt, „welche die Grundfesten hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Hebräer 11,10). Er erwartete diese himmlische Stadt und hatte dadurch eine feste Perspektive, die ihm half, im Leben die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Wir sehen Abraham im Gegensatz zu Lot, der bereits mitgezogen und gefangen genommen wurde, als im Krieg zwischen den Stadtstaaten Sodom und Gomorra verloren wurde. Lot wurde verschleppt und von Abraham in einer spektakulären Aktion befreit, wie in Kapitel 14 beschrieben. Abraham zeigt dabei nicht nur Mut, indem er seinen Neffen rettet, sondern auch Glauben. Er nimmt nichts von der Beute (Hebräer 14,23), um später nicht den Vorwurf hören zu müssen, er wäre vom König von Sodom reich gemacht worden. Abraham will von Gott reich gemacht werden.
Dieser Gott beschenkt ihn auch durch den König Melchisedek. Melchisedek wird im Hebräerbrief Kapitel 7 als jemand ohne Herkunft und Geschlechtsregister dargestellt. Außerdem wird er in Psalm 110 zitiert. Einige Ausleger schließen daraus, dass Melchisedek, weil er Abraham den Zehnten gab und Priester genannt wurde, größer sei. Manche vermuten sogar eine präinkarnatorische Erscheinung Christi. Diese Deutung lasse ich offen.
Auf jeden Fall bildet Melchisedek ein Kontrastbild. Nach Abrahams Entscheidung in Kapitel 13, in der Rettung und im Glauben während des Krieges zwischen den Stadtstaaten, sehen wir in Kapitel 15 den Glauben Abrahams erneut. Gott erscheint ihm und Abraham klagt seine Not: „O Herr, Herr, was willst du mir geben, da ich doch kinderlos dahingehe?“ (Hebräer 15,2). Gott bestätigt ihm die Verheißung erneut und geht auf seinen Wunsch ein.
Dieses Geschehen ist eingebettet in die antike Zeit, etwa 1800 oder 2000 Jahre vor Christus. Die Opfertiere werden geteilt, und es folgt ein Bundesschluss – ein Subserenz-Bund zwischen einem Höheren und einem Niedrigeren. Gott verheißt Abraham Nachkommenschaft.
Besonders hervorzuheben ist die Formulierung in Hebräer 15,6: „Abraham glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an.“ Dieser Vers wird im Neuen Testament wieder aufgegriffen, beispielsweise im Römerbrief Kapitel 4, und in einen größeren Kontext gestellt, wie bereits erwähnt wurde.
Gott kündigt an, dass seine Nachkommen 400 Jahre lang in Ägypten Fremdlinge sein würden und dort gedemütigt würden. Er gibt damit bereits eine Andeutung der Geschichte dieses Volkes, die offen vor Gott lag. Gott erwählt Abraham, der seinen Heilsplan von Ewigkeit her gefasst hat und diesen nun über Jahrhunderte und Jahrtausende umsetzt.
Interessant ist auch, dass in Kapitel 15, Vers 16 bereits angedeutet wird, dass die Ausrottung der Kanaaniter bevorsteht. Dieses Thema führt heute in theologischen und kirchlichen Kreisen oft zu Unverständnis. Es wird gefragt, wie ein Bann vollzogen werden kann und warum Gott Genozide verordnet. Dies ist eine Folge der Sünde, insbesondere der schrecklichen Sünde des Götzendienstes und der Abwendung vom wahren, lebendigen Gott.
Gott erklärt, dass zu jener Zeit die Sünde der Amoriter noch nicht voll war. Zur Zeit der Landnahme jedoch war sie voll, und deshalb führte Gott ein Gericht über diese Völker aus. Dieses Gericht erfolgte wegen ihrer Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit.
Der Bundesschluss mit Abraham wird in Kapitel 15, Vers 18 beschrieben: An diesem Tag schloss der Herr einen Bund mit Abraham und sprach: "Deinem Samen habe ich dieses Land gegeben."
Nun, was macht Abraham mit dieser Verheißung, was macht er mit dieser Zusage?
Abraham, als Glaubender, bekommt zwischendurch, als er diesen Taucher hat, mit der Magd Hagar den Sohn Ismael. Das führt zu großen häuslichen Konflikten, wie auch viele andere Beispiele noch zeigen werden, etwa bei Jakob. Wir sehen große Konflikte durch diese Mehrfachehe. Es gibt auch erhebliche Probleme bei Elkan im ersten Buch Samuel, ebenso bei David. Das zieht sich durch die gesamte Geschichte, auch bei Salomo. Überall bereitet diese Mehr- oder Vielfachehe große Schwierigkeiten.
Der Schreiber scheut sich nicht, auch diese Schattenseiten der Sünde innerhalb dieser Generationen aufzuzeigen. Gleichzeitig ist es unglaublich tröstlich, dass sich Gott auch Hagar offenbart – und zwar zweimal: in Kapitel 16 und in Kapitel 21. Hagar wird durch den Engel des Herrn angesprochen, der hier übrigens auch mehrmals in der Geschichte Abrahams auftaucht.
Der Engel des Herrn macht ihr eine Zusage, als ihr Leben auf der Kippe steht und sie verzweifelt ist. In Kapitel 16, Verse 6 und 7, findet der Engel des Herrn sie beim Wasserbrunnen. Er stellt ihr eine wichtige, didaktische Frage: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Das sind grundsätzliche Fragen an den Menschen: Wo kommst du her, und wo willst du hin?
Auch Ismael erhält die Verheißung, dass er Nachkommenschaft haben wird und ein Fürst sein wird. Später, im Kapitel 21, wird beschrieben, dass er ein Experte im Bereich der Jagd und des Bogenschießens wurde.
Im 17. Kapitel sehen wir nach dieser langen Schweigezeit von 13 Jahren, dann die Bestätigung des Bundes. Einige Jahre später, nach dem Bundesschluss im Kapitel 15, folgt das Bundessiegel, das Bundeszeichen der Beschneidung. Daraufhin geht Paulus in Kolosser 2,12 auf dieses Zeichen ein und deutet im neuen Bund die Beschneidung auf die Taufe hin. Dieses Thema bietet natürlich auch viel Diskussionsstoff unter Theologen.
Jedenfalls spricht das 17. Kapitel in Vers 1 vom Bundeszeichen, dem Siegel, wie es im Römerbrief, Kapitel 4, genannt wird. Dieses Siegel steht auf dem Glauben und ist die Beschneidung der Vorhaut. Bereits im Alten Testament finden wir Hinweise darauf, zum Beispiel in 5. Mose 30 oder Jeremia 4. Dort wird von der Beschneidung des Herzens gesprochen, nicht erst im Römerbrief Kapitel 2 am Schluss.
Diese Beschneidung des Herzens ist ein Hinweis darauf, dass es nicht nur um eine äußerliche Handlung geht. Es ist eine symbolische, schmerzhafte Handlung, die die Heiligung des Menschen, des Glaubenden durch Gott darstellt. Wir sehen, dass Abraham gehorsam ist und die Beschneidung vornimmt.
Sehr wichtig ist auch, wie sich Gott im 17. Kapitel vorstellt: Er ist der Allmächtige, Gott der Allmächtige. Übrigens nennt Hagar ihn bereits mit einem anderen Gottesnamen in 1. Mose 16,13 – sie bezeichnet ihn als „Gott, der mich sieht“.
Dieser Allmächtige fordert auf mit dem Satz, der mir immer wieder in den Sinn kommt: „Wandle vor mir und sei untadelig“ (1. Mose 17,1). Das Leben des Glaubenden findet vor Gott statt. Das ist sehr wichtig.
Wir sehen immer wieder in den Mosebüchern und auch bei den frühen Propheten den Ausdruck, dass etwas „vor ihm“ getan wird. Unser Leben, das Leben der Glaubenden und auch derer, die Gott verwerfen, findet stets vor ihm statt. Ihm ist nichts verborgen, alles ist aufgedeckt.
Im achtzehnten und neunzehnten Kapitel sehen wir zusammenhängend einen deutlichen Kontrast. Er zeigt sich im Glauben Abrahams, der Fürbitte leistet – nicht nur für den heidnischen König der Philister im zwanzigsten Kapitel, sondern auch angesichts der drohenden Zerstörung von Sodom. Abraham tritt für die Stadt ein und bittet Gott, sie zu verschonen, falls sich wenigstens zehn Gerechte darin finden. Dieser eindrückliche Dialog am Ende des achtzehnten Kapitels verdeutlicht Abrahams Fürsorge und Glauben.
Außerdem wird hier ein wunderbares Zeichen von Abrahams Gastfreundschaft dargestellt, wie sie damals im Alten Orient üblich war. Die erneute Ankündigung des Nachkommens führt dazu, dass Sarah innerlich lacht. In 18,12 wird beschrieben, dass sie in ihrem Herzen lacht, und Gott stellt sie daraufhin zur Rede. In 18,15 leugnet sie dies, obwohl sie in 1. Petrus 3,6 als Mutter des Glaubens bezeichnet wird. Sie sagt: „Nein, nein, ich habe nicht gelacht.“ Dieses Bild zeigt die Heiligen als durch und durch realistisch.
Gott kündigt Abraham im Prophetenstil das bevorstehende Gericht an. Er fragt: „Soll ich Abraham verbergen, was ich tun will?“ Abraham hat bereits einen prophetischen Dienst; in 20,7 wird er als Prophet bezeichnet. Er erhält zudem den Auftrag, seinem Haus zu gebieten, den Weg des Herrn zu bewahren. Dies ist in 18,19 eine der ersten Aufforderungen an einen Hausvater, den dienenden Leiter einer Familie. Er soll diesen Weg, diese Gebote weitergeben und seine Nachkommen ebenfalls dazu anhalten. Ein ähnliches Gebot finden wir auch bei Josua in Josua 24,15: „Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen.“
Die Sünde wird in 18,20 als sehr schwer in den Augen des Herrn bezeichnet. Im neunzehnten Kapitel wird ausführlich geschildert, wie schwer diese Sünde vor Gott wog. Hier zeigt sich ein starker Gegensatz zur Gastfreundschaft Abrahams: die absolute Verletzung der Gastfreundschaft, sexuelle Perversion und mangelnde Selbstbeherrschung. Der Mensch ist von Jugend an böse, wie es im Buch Jeremia heißt. Die Menschen in Sodom wollen die Fremden vergewaltigen, praktizieren Homosexualität und Gewalt.
Das Gericht folgt darauf. Lot flieht und endet in einer Höhle, wo ihn seine beiden Töchter betrunken machen. Hier zeigt sich erneut, dass Alkohol schon seit dem Sündenfall ein Problem ist – nicht nur bei Noah, sondern auch bei Lot. Die Töchter werden von ihrem eigenen Vater schwanger, und so entstehen die Begründer zweier Nachbarvölker, die dem Volk Gottes später große Sorgen bereiten.
Kapitel 21: Endlich diese Geburt – Der Herr sucht Sarah Hein und handelt, wie er geredet hat.
Vers 1 betont immer wieder, durch die ganze Geschichte des Volkes Gottes, die absolute Zuverlässigkeit und Treue. Gott steht zu seinen Verheißungen. Er erfüllt genau das, was er angekündigt hat, zur bestimmten Zeit.
In Vers 2 sehen wir, dass dies erneut zu Spannungen führt, weil Sarah jetzt auch einen Nachkommen hat. Dies führt zum Vertreiben von Saras Magthaga. Erneut wendet sich Gott dieser Frau zu, spricht ihr zu: „Fürchte dich nicht.“ Er hat ihre Stimme erhört, öffnet ihr die Augen und gibt ihr Wasser.
Die Verheißung wird erneuert, dass auch Ismael Nachkommenschaft haben wird und mehr als nur ein Auskommen.
Kapitel 22 ist vor allem durch Kierkegaards Schilderungen bekannt geworden. Es erzählt die Geschichte von Abrahams Opferung Isaaks beziehungsweise von der Aufforderung, Isaak zu opfern.
Wenn man das Kapitel genau liest, erkennt man, dass es sich um einen Test handelt. Gott prüft Abraham (1. Mose 22,1). Er ruft ihn zweimal, das erste Mal mit dem Namen Abraham, und fordert ihn zum Gehorsam auf. Wenn man dann den Hebräerbrief Kapitel 11 hinzuzieht, sieht man, dass Abraham darauf vertraute, dass Gott auch seinen Sohn, den er zum Opfer vorgesehen hatte, wieder aus den Toten auferwecken würde.
Diese ganzheitliche Betrachtung – ein sorgfältiges Lesen des Kapitels, der Heilsgeschichte und die Ergänzung durch den Hebräerbrief – hilft, das Kapitel besser zu verstehen. Wir sehen, dass es letztlich nicht zur Opferung kommt. Stattdessen sieht Gott einen Ersatz vor, was ein Hinweis auf das Opfer des kommenden Retters ist. Anstelle Isaaks wird ein Bock geopfert.
Erneut steht das Opfer im Vordergrund – dieser Gedanke von Opfer, Sühne und Stellvertretung. Würde man diese biblischen Konzepte weglassen, fehlte ein zentrales Element des Verständnisses.
Abraham wird nochmals gerufen: „Abraham, Abraham, lege deine Hand nicht an den Knaben.“ Es geht darum zu zeigen, dass Abrahams Gehorsam geprüft wurde und dass Gott für Ersatz sorgt. Er sorgt für ein Opfer – übrigens genau an dem Ort, an dem später Jesus sterben wird: dem Berg Moriah.
Dieser Berg ist auch der Ort, an dem Salomo nach 2. Chronik Kapitel 3 den Tempel bauen ließ.
Sarah stirbt, und Abraham sucht als Fremdling in diesem Land ein Begegnnis. Er wird von diesem Volk sehr anerkannt, wie wir in 1. Mose 23,6 sehen: „Du bist ein Fürst Gottes mitten unter uns.“ Abraham genießt hohen Respekt bei den Bewohnern, obwohl er ein Fremdling ist.
Er wählt in dieser Gegend ein Begräbnis für Sarah aus und weist dann seinen Knecht Eliezer an, für seinen Sohn keine Frau aus der Umgebung zu nehmen, sondern aus seiner Heimat. Nach einem Schwur schickt er Eliezer los.
Im 24. Kapitel, das mit 67 Versen das längste Kapitel im ersten Buch Mose ist, wird ausführlich geschildert, wie Gott diesen Knecht führt. Eliezer erhält Zeichen zur Bestätigung seiner Suche. Schließlich findet er Rebekka, die als sehr schöne Frau beschrieben wird. Das erste Buch Mose legt immer wieder Wert auf Schönheit und Ästhetik – von Anfang an. Auch wenn Schönheit durch die Sünde missbraucht wird, ist sie doch von Gott gegeben. Diese Wertschätzung zieht sich durch die gesamte Bibel.
Am Ende nimmt Isaak Rebekka zur Frau und gewinnt sie in 1. Mose 24,67 lieb. Für den Knecht ist dies ein wunderbares Zeugnis von Gottes Führung in so zentralen Fragen.
Im 25. Kapitel wird der Tod Abrahams beschrieben. Nachdem er noch weitere Söhne gezeugt hatte, stirbt er in gutem Alter, lebenssatt, wie in 1. Mose 25,8 berichtet. Er wird zu seinem Volk versammelt und von seinen beiden Söhnen begraben.
Abrahams Leben war ereignisreich und kontrastreich. Er war ein Glaubender, dessen Glaube ihm zur Gerechtigkeit angerechnet wurde. Zugleich war er ein begnadigter Heiliger und ein begnadigter Sünder. Immer wieder sündigte er, zeigte aber auch überdauernden Glauben. Er wurde von Gott ausersehen – durch reine Gnade und Vorsehung –, damit aus seinen Nachkommen der Christus, der Retter, kommen würde.
So sehen wir von Anfang an eine wunderbare heilsgeschichtliche Einbettung, die sich auch im Leben der Patriarchen widerspiegelt.