Herrentag
Jeden Morgen pressiert’s, sagt der Schüler. Mit Windeseile geht es in die Kleider. Für die Zahnbürste bleibt nur ein müder Blick. Der Kaffee wird im Stehen verschüttet. Oft genug fährt einem der Bus vor der Nase weg. Und diese Hektik geht so weiter. Nachmittag sind Hausaufgaben angesagt und abends kommen die Kumpels. Irgendeine Fete steht immer auf dem Kalender. Erst um Mitternacht sinke ich todmüde in die Federn. Von Montag bis Samstag toujours la même chose, immer die gleiche Sache, außer am Sonntag. Der Wecker ist abgestellt. Das Frühstück wird gespart. Die Läden bleiben bis 12 Uhr dicht. An diesem Tag bringt mich keiner vom Sofa: dösen, lesen, fernsehgucken. Der Sonntag ist mein Ruhetag. So ist der Mensch ein Herr auch über den Sabbat.
Jeden Tag schaff ich mein Sach', sagt der Arbeiter. Von Schlag 7 bis 16 Uhr stehe ich an der Werkbank. Nur 50 Minuten bleiben mir am Mittag für die Kantine. Früher war das ein normales Arbeiten, aber heute soll alles fertig sein, bevor ich angefangen habe. Der Akkord ist miserabel und der Meister macht ständig Druck. Am Feierabend bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Kein Hammer und keine Hacke rühre ich mehr an. Meine Frau muss den Dreck alleine schaffen, außer am Sonntag. Zehn volle Stunden am Stück im Garten, der endlich abgeräumt werden muss oder im Haus, um neue Tapeten im Wohnzimmer zu kleben. Der Sonntag ist mein Werkeltag. So ist der Mensch ein Herr, auch über den Sabbat.
Jede Woche kann ich den Betrieb nie dicht machen, sagt der Unternehmer. Die neuen Roboter sind zu teuer, als dass man sie ein ganzes Wochenende abschalten könnte. Auch die großen Härteöfen vertragen nicht, dass sie nach fünf Tagen auskühlen und zurückgefahren werden. Und die Computerchip-Produktion ist so kompliziert, dass man sie keinen Tag unterbrechen kann, auch nicht am Sonntag. Das Schichten muss weitergehen. Die Feiertagsarbeit ist unumgänglich. Schon die knallharte Konkurrenz zwingt zu diesen unpopulären Maßnahmen. Der Sonntag ist mein Überlebenstag. So ist der Mensch ein Herr auch über den Sabbat.
Aber Jesus sagt: "So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat", und das ist ein gewaltiger Unterschied. Der jüdische Sabbat als letzter Tag der Woche, beziehungsweise der christliche Sonntag als erster Tag der Woche, beides ist hier einmal gleichzusetzen, dieser gottgewollte Feiertag ist nicht mein Ruhetag oder mein Werkeltag oder mein Überlebenstag, sondern sein Herrentag. Er hat ihn geheiligt, das heißt: Er hat ihn beschlagnahmt, das bedeutet: Er hat ihn für sich in Anspruch genommen. Es geht nicht an, zu sagen: "Mein Sonntag gehört mir", so wie wir heute sagen: "Mein Bauch gehört mir". Das ist schlimme Selbsttäuschung. Es geht nicht an zu behaupten: "An meinem Sonntag verfüge ich über die Zeit." Das ist Besitzergreifung fremden Eigentums, weil alle Zeit Gottes Zeit ist. Es geht nicht an zu statuieren: "Mit meinem Sonntag werde ich ja wenigstens noch anfangen können, was ich will." Das ist schlichtweg prometheus'scher Raub und Diebstahl, weil meine Zeit nie in meiner Hand, sondern immer nur in Gottes Händen liegt. Merken wir denn immer noch nicht, dass dieser mein Sonntag zum unbefriedigendsten Tag der Woche verkommt, der von der Melancholie der Leere durchzogen ist und uns in ein schlimmes Montagstief stürzen lässt. Gottes Tag muss Herrentag bleiben und darf kein Menschentag werden.
Gottes Tag muss Herrentag bleiben und darf kein Menschentag werden.
Was das heißt? Drei Antworten:
1. Herrentag ist Freudentag
"Und es begab sich", das fängt ja gut an, denn die Weihnachtsgeschichte fängt genau so an: "Und es begab sich, dass Jesus durch ein Kornfeld ging." Er ging also nicht über die Straße, um in Simons Haus nach dessen fieberkranker Schwiegermutter zu schauen. Er ging also nicht zu der Stadtmauer, um im Zollhaus mit hohen Herrschaften zu disputieren. Er ging also nicht durch das Tor, um in der Leprakolonie die Verkrüppelten zu besuchen. Jesus ging am Sabbat durch ein Kornfeld, so wie wir am Sonntag durch den Schlossgarten oder durch den Killesberg oder durch die Wilhelma gehen. Er macht mit seinen Jüngern einen Ausgang. Sie sollen wieder einmal aufatmen können. Er macht mit seinen Jüngern einen Spaziergang. Sie sollen wieder einmal durchatmen können. Er macht seinen Jüngern Freude.
Das ist der ursprüngliche Sinn des Herrentages, dass Gott uns eine Freude machen will. Einatmen sollen wir, weil es die ganze Woche durch dicke Luft ist. Aufatmen sollen wir, weil wir die ganze Woche durch so viel schlucken müssen. Durchatmen sollen wir, weil uns die ganze Woche durch eng auf der Brust wird. Einfach einmal verschnaufen.
Aber wie ist das möglich, wenn man die ganze Last von sechs Werktagen auf dem Buckel hat? Normalerweise ist es gar nicht die Last der Arbeit, die uns so beugt. Arbeiten tun wir in Schwaben in der Regel gar nicht so ungern. Vielmehr ist es der Ärger, den Eltern mit ihren heranwachsenden Kindern haben, die Sorge, die Studenten mit ihren bevorstehenden Examen haben, die Angst, die Kranke vor dem fressenden Krebs haben, die Enttäuschung, die Verheiratete mit ihren zerbrochenen Ehen haben, die Depression, die Geschlagene mit ihren seelischen Tiefs haben. Diese Zentnerlast, die wir durch alle Werktage hindurchschleppen müssen, nehmen uns auch am Sonntag den Atem. Verschnaufen wäre nur dann möglich, wenn ein anderer diese Last auf seine Schultern und sein Gewissen laden würde.
Und genau dies will dieser Herr tun. Er lädt doch ein: "Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken", ich will euch einatmen, aufatmen, durchatmen lassen, ich will euch verschnaufen lassen. Im Gebet, im Abendmahl, im Gottesdienst legen wir ihm diese ganze Last auf den Rücken. Und dieses "Weltgewichte", wie es in einem Passionslied heißt, wird so schwer sein, dass er darunter zusammenbricht. Aber er bleibt nicht liegen. Jesus schleppt sich weiter bis zum Kreuz. Mit dem letzten bisschen Atem, dem ihm noch bleibt, haucht er: "Es ist vollbracht". Das ist der Karfreitag, der zu unserem Freitag wird, frei von Sünden, Schuld und Tod. Deshalb brauchen wir ihn am Sonntag. Mit etwas Ruhe, einer abgestellten Hausglocke und einem ausgehängten Telefon ist uns nicht gedient. Ohne ihn sind wir elende Gepäckträger. Auf ihn können wir alles lasten, was uns das Kreuz bricht.
Hinter ihm drein ist Verschnaufen möglich. Herrentag ist ein Tag der Freude.
2. Herrentag ist Freiheitstag
"Und es begab sich", das fängt ja gut an, geht aber leider gar nicht so gut weiter: Und es begab sich, dass die zwölf Sonntagsspaziergänger Hunger bekamen. Das ist nichts Außergewöhnliches, wenn sich nach ausgedehntem Marsch in frischer Luft der Magen meldet. Deshalb greifen wir in ähnlichen Fällen nach dem Schokoriegel, den wir vorsichtshalber in die Tasche gesteckt haben, oder steuern wir die nächste Gaststube an, in der es nach Zwiebelkuchen und frischem Wein riecht, oder gehen schleunigst nach Hause zu Kaffee und Hefezopf. Dies alles stand unseren Ausflüglern nicht zur Verfügung. Trotzdem wussten sie sich zu helfen. Sie fühlten sich in Gottes Selbstbedienungsrestaurant, griffen nach links und rechts in die Naturkost und mahlten ihre Körner. Wie gut dies Müsli schmeckte! Leider war aber solche Help-yourself-Aktion nicht nach dem Geschmack der Pharisäer. Plötzlich waren sie am Kornfeldrand aufgetaucht und gifteten dieses Jesus an: Warum tun deine Jünger am Sabbat, was verboten ist? Nun war das Ährenrupfen nach 5. Mose 23 ausdrücklich erlaubt, aber nach Ansicht dieser pharisäischen Erbsenzähler durfte dabei das Sabbatgebot nicht verletzt werden. Für solche haarspalterische Schriftauslegung war jedoch der Herr nicht zu haben. Er blieb extra stehen und mit einer Heilandsgeduld sondersgleichen versuchte er seine Haltung zu erklären: Was lehrt denn die Schrift, liebe Schriftgelehrte? Als David von Saul gejagt wurde wie ein Tier, bettelte er im Heiligtum von Nob um Marschverpflegung für sich und seine Kumpanen. Weil aber dieser gute Priester Abjatar keinen Bissen Brot mehr in der Speise hatte, gab er ihm die Schaubrote vom Altar. Und David lehrte nicht ab: Die sind nur zum Anschauen. Die sind nur zum Angucken. Die sind nach dem Gesetz nicht zum Essen. Nein, nein. David biss hinein und ließ sich’s mit seinen Mannen schmecken. Wenn aber David solche Übertretung seinen Mähern erlaubte, was sollte ich meinen Jüngern den Mund verbieten?
Am Sabbat bleibt Freiheit den Hunger zu stillen. Am Sabbat bleibt Freiheit den Durst zu löschen. Am Sabbat bleibt Freiheit, seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Was wäre denn das für ein Freudentag, der aus lauter Verboten besteht?
Ein alter Herr erzählte einmal von den tristen Sonntagen seiner Jugend, als er den Matrosenanzug anziehen musste, nicht auf die Bäume klettern durfte, keine Hühner in Nachbars Garten verfolgen konnte und nur leise Spiele im Hause erlaubt waren. "Gott sei Dank war nicht alle Tage Sonntag", sagte er. Was für eine schlimme Verkehrung? Am Herrentag ist Freiheit zur Freude, und zwar die Freude, die einer erlebt, wenn er ein Buch aufschlägt, das er schon lange lesen wollte, wenn einer seinen Tischtennisschläger zur Hand nimmt, um gegen seine Söhne in Folge zu verlieren, wenn einer seine Freunde einlädt, um mit ihnen in Ruhe zu plaudern. Freude erleben und Freude machen, wenn einer seinen Briefblock hervorholt, um seiner alten Mutter im Heim zu schreiben, wenn einer zum Telefon geht, um jene einsame Person nach ihrem Ergehen zu fragen, wenn einer das Krankenhaus aufsucht, um dem Operierten ein paar Blümchen zu bringen.
Freude erleben und Freude machen. Der Herrentag ist der Tag der Freiheit dazu.
3. Herrentag ist Friedenstag
"Und es begab sich", das fängt ja gut an, geht aber gar nicht so gut weiter und führt zu einem schlimmen Ende. Und es begab sich, dass die Pharisäer in ihren Herzen beschlossen, diesen Herrn zu töten. Wer am Sabbat Ähren rauft, übertritt das Gesetz. Wer aber das Gesetz Übertritt, ist des Todes schuldig. Wer aber des Todes schuldig ist, muss getötet werden. Jesus von Anfang an in höchster Lebensgefahr. Und trotzdem zieht er mit seinen Jüngern in großem Frieden weiter, weil er nicht nur zum Herrn über den Feiertag, sondern auch zum Herrn über den Sterbetag gemacht ist. Wer aber Herr über den Todestag ist, ist der Herr aller Tage. Dann sind seine Jünger auch am Montag nicht ohne ihn, am Dienstag nicht ohne ihn, am Mittwoch nicht ohne ihn, am Donnerstag, Freitag, Samstag nicht ohne ihn, denn, und so hat er es vor seiner Himmelfahrt noch einmal ausdrücklich bestätigt: "Ich bin bei euch alle Tage."
Am Geburtstag ist er da, wenn ein Kind zum Leben kommen darf und nicht schon vor der Geburt sein Lebensrecht verweigert bekommt, am Hochzeitstag ist er da, wenn zwei junge Leute vor dem Altar sich das Ja geben und nicht schon vor der Ehe zusammenleben wie Mann und Frau, am Abschiedstag ist er da, wenn ein Liebster der Erde übergeben wird und nicht mehr unser Leben füllen kann, und am Schultag ist er da, wenn schwere Arbeiten kommen, und am Arbeitstag ist er da, wenn die Aufgaben immer schwieriger werden, und am Krankheitstag ist er da, wenn die Kräfte zum Aufstehen nicht mehr reichen. Kein Tag ohne ihn, nicht einmal der Jüngste Tag.
Liebe Freunde, es wird nicht auf jeden Sonntag ein Montag folgen. Es wird nicht nach jeder Woche eine neue Woche anbrechen. Es wird nicht von Monat zu Monat und Jahr zu Jahr gehen. Einmal bleiben die Uhrzeiger stehen. Einmal ist die Weltzeit abgelaufen. Einmal ist aller Tage Abend, nein, aller Tage Morgen. Unser aller Tage münden ein in des Herrn Tag. Jeder erste Tag der Woche erinnert zeichenhaft an den letzten Tag der Welt. Nichts ist so sicher wie dieser Termin.
Wohl dem, der sich dann vor dem Richtstuhl Gottes auf diesen Herrn berufen kann:
das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
darin will ich vor Gott bestehn,
wenn ich zum Himmel werd eingehn."
Dann folgt jener große Friede, an dem all Fehd ein Ende hat. Dann wird ewig Sonntag sein. Bis dahin feiern wir auch diesen Sonntag als seinen Tag des Friedens, der Freiheit und der Freude. Mit Jesus sind wir richtige Sonntagskinder.
Amen