
Wie? Hier ist Toni. Und ich bin Philipp. Ich heiße Marie. Ah, und einer darf bei uns auch nicht fehlen: Sammy.
Uhuh, hier bin ich. Komm in die Karte.
Hey Leute, könnt ihr mir mal kurz helfen?
Oh klar.
Oh, danke. Was ist da drin? Backsteine?
Nee, Deko, stark!
Die Doppeldecker-Crew steckt mitten in den Weihnachtsvorbereitungen. Maries Cousine Amy ist auch dabei. Sie hat sich extra heute Nachmittag freigenommen. Passt ja perfekt.
Ja? Wir stützen doch heute die Decker ab, um später den Doppeldecker aufzuhängen. Mega!
Wir brauchen die Leiter, um Stützpfeiler aufzustellen. Da können wir auch direkt oben mitdekorieren. Super!
Amy, Marie und Philipp entwirren die Lichterketten. Toni und Maik stellen solange einen Pfeiler nach dem anderen auf. Bald sind alle sechs an ihrem Platz.
Dann heißt es jetzt wohl: ran an die Deko!
Mit einer Lichterkette um die Schulter steigt Marie die Leiter hinauf. Sie schlingt die Arme um einen Querbalken unter der Decke und klettert darauf. Das alte Holz knarzt bei jeder Bewegung. Langsam robbt sie los und wickelt die Lichterkette in großen Schlaufen um den Balken.
Da entdeckt sie etwas. „Hä, was ist denn das? Ob Onkel Mike davon weiß?“ Vor ihr ist ein kleiner Zwischenboden, auf dem etwas liegt, das Maries Aufmerksamkeit für einen Moment ganz einnimmt.
„Marie, kommst du zurecht? Noch ein bisschen strecken.“ – „Hab’s. Von Tante Julia. Ich steck sie in meine Hosentasche.“ – „Ja, alles okay. Ist da was?“ – „Huch, was war das? Sammy! Hab gar nicht gemerkt, dass du mit mir hochgeklettert bist.“ Sammy blickt die überraschte Marie kurz an, springt blitzartig auf ihren Kopf, trippelt über ihren Rücken den Balken entlang und klettert eilig die Leiter herunter. Er springt in Amys Schoß und rollt sich ängstlich zusammen.
Marie sieht nun den Auslöser dafür. „Whoa, weg, weg!“ Sie gerät ins Schwanken, verliert den Halt und stürzt herunter. Zum Glück konnte Toni ihren Aufprall abfedern.
Gerade in diesem Moment kommt Gudrun herein. „Du meine Güte, ist alles in Ordnung?“ – „Ja.“ – „Was hast du da oben gesehen?“ – „Fledermäuse.“ – „Nein, ich meine davor.“ – „Jetzt löcher sie doch nicht so mit deinen Fragen. Setz dich erst mal aufs Sofa, Marie. Kannst du aufstehen?“ – „Ja, geht schon, war vor allem der Schreck.“ – „Gott sei Dank.“ – „Ja, allerdings.“
Wenig später bei Tee und Cookies.
Ich weiß gar nicht, wie man in Brasilien Weihnachten feiert. Erzählst du uns eine Geschichte darüber, Onkel Mike? Da wäre ich auch dabei, habe schon lange keine mehr gehört.
Wie schön, habt eine gute Zeit zusammen. Danke, Gudrun.
Also dann, ihr wisst ja, dass in den Regenwaldstationen immer eine Menge los ist. Forscher, Vogelbeobachter, Wasserexperten – alle wuseln immer eifrig umher. In der Weihnachtszeit ist das ein bisschen anders. Da hört man viel weniger Stimmen als sonst.
Worüber die sich wohl unterhalten? Wenn ihr ganz still seid, könnt ihr es hören.
Ja, unbedingt.
Ach, bis morgen schon? Verbringst du dann das Fest mit uns?
Hm, so bald?
Ach, schade, hm.
Ja, ja, das will ich irgendwie möglich machen.
Ciao!
Hm, bis morgen schon.
Tja, ah, er hat mir seinen Standort geschickt. Du liebe Güte, da muss ich aber bald los, um rechtzeitig dort zu sein.
Nanu, was war das für ein Gespräch, so mitten in der Nacht! Niemand bekommt mit, wie sich eine mit Rucksack bepackte Gestalt in aller Frühe und auf leisen Sohlen davonmacht.
Als Mike die Geschichte erzählt, fühlt es sich für die Doppeldecker-Crew so an, als wären sie mittendrin. Die Sonne strahlt schon warm vom Himmel. Hier sieht es nicht aus wie Weihnachten – wo ist der Schnee? Hä, bei der Hitze? Sammy, Lamy? Psst, Marie! Toni? Nein, Philipp! Sammy mit Y!
Also, ich muss schon sagen: Papa hat mir früher auch gern Geschichten erzählt, aber so gut konnte ich mir das noch nie vorstellen. Und Sammy war da auch noch nicht dabei. Oh, hört mal! Aber er hat’s doch geschrieben, du kennst ihn. Hier, mitten im Dschungel, ohne GPS, wie eine Nadel, die durch den Heuhaufen wandert.
Toll, da streitet jemand. Und kommt näher. Und ich sag dir noch, dass... Na sowas! Hallo! Hä, wo kommt ihr denn her?
Für Carlos und Tina, die hier arbeiten, ist dieser Besuch schon die zweite Überraschung heute. Wenigstens kennt Tina die Crew schon aus einem früheren Abenteuer. Sie lädt sie zu einem schnellen Frühstück ein, um alles zu erklären.
„Danke für die Einladung.“
„Klar, gerne. Aber sag schon, was macht ihr hier?“
„Wir wollen erleben, wie man in Brasilien Weihnachten feiert.“
„Da hättet ihr euch ja keinen schlechteren Tag aussuchen können. Weihnachten ist dieses Jahr kräftig über den Haufen geworfen.“
„Das finde ich auch. Über dreißig Grad sind im Dezember schon heftig.“
„Das ist hier immer so. Aber Carlos meint, was in der Station los ist.“
„Was denn?“
„Wir wären hier über die Feiertage eigentlich zu dritt, der Rest ist heimgeflogen zu den Familien. Aber wie ihr seht, sitzen hier nur Carlos und ich. Neil fehlt.“
„Habt ihr schon mal unter den Schränken nachgeguckt? Vielleicht ist er da.“
„Das wohl eher nicht. Er hat uns eine Notiz dagelassen.“
„Okay. Hier ließ Rick Philipp: ‚Hab was Besonderes vor und muss weg, treffe meinen Vater, bin zum Fest zurück. Liebe Grüße, Neil.‘“
„Wir müssen uns jetzt aber ein bisschen beeilen mit dem Essen und Zusammenpacken.“
Ich bleibe dabei, wir lassen das. Geht das schon wieder los? Was denn? Wir sind uns nicht einig, ob wir Neil folgen sollen. Ja, es ist hier allein im Wald recht gefährlich. Eben. Aber er ist ja gar nicht allein. Vielleicht. Und wir können nicht einfach die Station unbewacht lassen.
Eine wichtige Sache hast du aber noch vergessen. Die Amazonastation hat uns mitgeteilt, dass Wilderer entdeckt wurden. Weiß Neil davon? Nein, die Meldung kam erst später. Aber umso wichtiger ist es auch, dass wir unsere Station hier nicht unbewacht lassen. Ich habe mit unseren Kollegen dort am Telefon gesprochen. Sobald sie auf Neil aufmerksam werden, sagen sie uns sofort Bescheid.
Wir haben auch versucht, Neil auf dem Handy anzurufen. Wundert es dich gar nicht, dass wir ihn nicht erreichen konnten? Doch schon. Aber er wird es einfach ausgeschaltet haben, um Akku zu sparen. Also, es ist schon ziemlich gefährlich im Wald. Ich glaube, da würde ich mir auch Sorgen machen. Ist doch easy, wenn er sich hier auskennt. Ja, da wird er sicher nicht unüberlegt losgegangen sein. Es passt eben überhaupt nicht zu ihm, einfach nur einen Zettel dazulassen.
Wir wissen nicht, was los ist. Wenn er ein Problem hat, ist das wichtiger, als die Station zu bewachen. Im Nussbeutel ist er jedenfalls nicht. Du hast Krümel an der Nase. Na, also, ich musste ja gründlich suchen. Vielleicht müsst ihr gar nicht mehr weiter streiten. Wir sind ja jetzt hier und können helfen. Was? Au ja, ziemlich gute Idee eigentlich. Da könnten ein paar von uns Neil suchen und die anderen bleiben hier.
Du willst echt mit den Kindern losziehen? Wir haben schon eine Menge Abenteuer erlebt. Ich werde wohl nicht mitkommen können. Au, klar, der Rollstuhl und das Gebüsch passen nicht so super zusammen. Wie wär’s, drei von uns gehen los und drei bleiben hier? Um das Gebiet, in dem die Wilderer gesichtet wurden, machen wir einen großen Bogen. Na gut, bin dabei.
Hä, aber ich dachte, du meinst, Neil kommt zurecht. Klar, aber ein bisschen Action im Wald ist doch immer cool. Nur habt ihr vielleicht Schuhe, gegen die ich meine Sneaker tauschen könnte? Müssten ja. Ich würde auch gern mitkommen. Äh, ist das okay, Amy? Klar, ich mache mich dann hier nützlich. Ich würde nämlich lieber hier bleiben. Sammy nimmt ja am besten als Spürhund mit. Pah, Streifenhändchen sind viel cooler als Hunde.
So bleiben Amy, Philipp und Carlos in der Station. Sie sehen sich zuerst die Aufnahmen der Überwachungskameras an. Mit Kompass, Karte und GPS-Gerät machen sich die anderen auf den Weg. Sie folgen einem Bachlauf in der Hoffnung, dass auch Neil hier entlanggegangen ist.
Schaut mal, Schuhabdrücke! Sind die von Neil? Das werden wir gleich sehen. Sammy, schnuppere bitte mal an dem Halstuch, das ist von Neil. Okay, und jetzt die Spur. Ja, vielleicht. Dann mal los. Neil ist vielleicht die ganze Nacht durchgewandert. Sie brauchen eine gute Fährte, um ihn zu finden.
Sammy schnuppert fleißig, aber das klappt leider nicht gut. Zu viele Gerüche gibt es hier im Wald. So folgen sie erst mal weiter dem Bach. Regelmäßig schicken sie eine kurze Information an Carlos, wo sie gerade sind.
Nach einer Weile klingelt Tinas Handy. Sagen Sie ihn ruhig selbst. Eigentlich war das gar nicht so besonders. Wenn man die Frequenzen kennt, ist es relativ leicht herauszufinden. Sag schon, Phil. Ja, ja, ist ja gut. Also, Neil hat einen aktiven GPS-Tracker mitgenommen. Der hat seine Daten hier an den Computer gesendet. Jetzt sehen wir, welchen Weg er gegangen ist. Wir speichern die Datei und schicken euch das Bild zu. Oh, sehr gut, danke euch.
Bis das Bild ankommt, gehen sie weiter am Wasser entlang. An einer Verzweigung entscheiden sie sich für die rechte Seite. Dort verraten einige zertretene Farne, dass hier vor kurzer Zeit jemand entlanggegangen ist. Immer wieder schaut Tina auf ihr Handy, um nachzusehen, ob die Karte da ist.
Boah, nur noch ein Balken. Mit mobilen Daten geht hier wohl nicht so viel. Mitten im Wald eben. Weißt du doch, mich wundert das schon mit dem schlechten Empfang, die Karte ist immer noch nicht da. Ich versuche mal anzurufen. Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar. Das gefällt mir nicht.
Tina versucht es mehrere Male, auch mit den anderen Handys. Nichts geschieht. Was jetzt? Sollen wir zurück, ohne Navi und Handy? Aber was ist mit Neil? GPS haben wir ja noch, das geht ohne Internet. Was macht denn deine Fährte, Sammy? Hier riecht’s nach ganz viel Obst. Und Neil? Der Verschwindibus-Mann? Weiß nicht. Also wissen wir gar nicht, ob er hier war. Wir können es nur vermuten, wegen der Spuren bis hierher.
Wenn wir jetzt zurückgehen, können wir ihn gar nicht mehr einholen. Von wem kam das? Meins war das. Schnell, guck nach! Ja, ja, oh krass, Phil hat die Karte geschickt. Oh, zeig her! Hier, tatsächlich! Können wir jetzt auch wieder telefonieren? Bin schon am Ausprobieren. Ah nein, wir stecken in einem riesigen Funkloch fest. Nur manchmal gibt’s kurz genug Empfang für eine Nachricht.
Was uns wieder zum Thema bringt. Neil kennt sich ja aus. Und die anderen machen sich bestimmt Sorgen, wenn sie nichts mehr von uns hören. Das tun sie. Philipp sitzt am Computer und versucht, sie anhand ihrer GPS-Daten aufzuspüren. Aber auch die konnten ohne Netz nicht mehr senden.
Also, da waren sie vor drei Stunden. Bei dem roten Punkt? Genau. Und da? Da waren sie vor etwas über zwei Stunden. Das war leider das letzte Signal. Ja, ich hatte gehofft, dass das nicht passiert. Was, das mit dem Empfang? Ja, dass wir die Verbindung verlieren. Hoffentlich geht’s ihnen gut.
Hm, aber sie haben Essen für zwei Tage dabei. Bestimmt schaffen sie es, und wir können sie morgen wieder in den Arm nehmen. Das hoffen die vier Abenteurer auch.
Werden sie umkehren oder weiter nach Nil suchen?
Aufmerksam mustert Tina die Karte, die ihnen Philipp gesendet hat. Die gute Nachricht ist, dass der Ort, an dem er zuletzt war, nicht sehr weit von hier entfernt ist. Super!
Gibt es auch schlechte Nachrichten? Ja, leider. Die letzte Aufzeichnung ist über acht Stunden alt. Wo Neil seitdem hingegangen ist, wissen sie nicht.
Nein. Ich würde aber gerne weitergehen, dorthin, wo er zuletzt war. Vielleicht finden wir einen Hinweis. Dann müssten wir die Nacht im Wald verbringen.
Yay, Camping! Gibt es hier denn auch Nussbäume?
Ach, ich habe genug Nüsse für dich. Aber es gibt wirklich riesige Spinnen hier.
Super gruselig, so nachts im Regenwald.
Ja, schon. Aber nur so können wir ihn überhaupt finden, oder?
Wahrscheinlich. Lass es uns versuchen. Wir passen aufeinander auf, dann kann uns nichts passieren.
Okay, bin dabei.
Na dann, ich schicke eine Nachricht. Vielleicht kommt sie irgendwann durch.
Super! Also los, weiter durch das Gebüsch am Bach entlang.
Ein kleines Stück müssen sie zurückgehen und dann bei einer Verzweigung einem anderen Bachlauf folgen als vorher. Nach einem langen Marsch erreichen sie müde ihr Ziel.
Hier ist es, eine Lichtung – aber kein Nil.
In der Station.
„Hey, seht mal, was ich gefunden habe.“
„Was denn?“
„Ein Video von der Überwachungskamera. Man sieht darauf nie, wie er etwas aufschreibt.“
„Ah, bestimmt seine Notiz an uns. Das ist am Forschungshaus. Dort haben wir sie ja gefunden.“
„Ja schon, aber seht mal da unten in der Ecke. Da steht die Uhrzeit der Aufnahme: drei Uhr dreiundvierzig nachts.“
„Ja und?“
„Na ja, wenn die Uhr richtig geht, dann muss er ja irgendwann nach drei Uhr dreiundvierzig losgelaufen sein. Aber schaut mal hier: Der GPS-Tracker hat schon um zwei Uhr sechsundzwanzig aufgezeichnet. Um drei Uhr dreiundvierzig war er schon, äh, hier, weit außerhalb der Station.“
„Hm, Neil kann doch nicht früher loslaufen, als ihn die Kamera filmt. Da ist doch irgendwas faul.“
Das geht auch der Suchtruppe langsam auf.
„Ich habe was gefunden. Guck mal her.“
„Was ist das?“
„Sieht aus wie ein kleiner Kassettenrekorder.“
„Was für ein Ding?“
„Zeig mal, Sammy. Aber nicht kaputtmachen. Ich hab’s zuerst gesehen.“
„Keine Sorge.“
„Na sieh mal einer an. Was ist das für ein Ding?“
„Ein GPS-Tracker. Ich hab auch so einen daheim. Nur ist er nicht so verbeult.“
„Ist das der, den Neil dabei hatte?“
„Das ist zumindest der, dessen Spur wir folgen. Sie endet genau hier, also muss er hier kaputtgegangen sein.“
„Sammy, schaust du dich ein bisschen auf der Lichtung um, ob du noch mehr findest?“
„Okidoki, bleib aber bei Marie. Ihr wisst ja, Tiere lauern, die gerne Streifenhörnchen zum Mittagessen essen.“
„Komm, ich nehm dich an meiner Hand, Sammy, dann kannst du besser sehen und schnuppern.“
„Na gut, ich schaue mich auch ein bisschen um. Lass uns zusammen gehen. Vier Augen sehen mehr als zwei.“
Stück für Stück suchen die vier die gesamte Lichtung ab. Kein Blatt, das sie nicht anheben, kein Baumstamm, hinter den sie nicht schauen, und keine Pfütze auf dem Boden, die sie nicht genau inspizieren.
„Boah, nee, was ist? Bin reingetreten.“
„Aber du hast doch Schuhe von Carlos.“
„Ja, aber meine Hose! Die war teuer. Die Wäsche wird warten müssen.“
„Habt ihr was gefunden, Marie?“
„Nichts, was es nicht sonst auch im Wald gibt.“
„Wir auch nicht. Echt seltsam. Neil würde den Tracker nicht achtlos wegwerfen, selbst wenn er kaputt ist. Und verlieren? Vielleicht, als er mal musste, aber nicht mitten auf der Lichtung. Hier sind auch nirgends Fußspuren.“
„Ha, doch, da drüben!“
„Sammy, das sind doch unsere!“
Als wären sie vom Erdboden verschluckt worden. Oder von den Eichhörnchen entführt.
„Ich denke eher, er war gar nicht hier.“
„Na, und der Sender?“
„Das ist eben die Frage. Auf die sie heute keine Antwort mehr bekommen.“
Weil es bald dunkel wird, spannen sie auf der Lichtung ihre Hängematten auf. Bald prasselt auch ein kleines Lagerfeuer. Es spendet nicht nur Licht, sondern hält auch gefräßige Tiere fern.
Später wird es auch in der Station Zeit, ins Bett zu gehen. Amy und Philipp haben mit Carlos alle Überwachungsvideos angeschaut und die Uhrzeiten verglichen. Sie sind sich sicher, dass Neil wirklich erst gegen vier Uhr morgens aufgebrochen ist. Leider zeigen die Kameras nicht, wohin.
Philipp liegt lange wach und grübelt darüber nach. Haben wir irgendetwas übersehen? Aber wir haben doch alles überprüft. Was war das? Philipp horcht in die Dunkelheit. Erstmal ist es still. Doch da! Waren das Schritte? Bestimmt musste Carlos zur Toilette gehen oder in die Küche für einen Mitternachtssnack. Er versucht, sich mit diesen Gedanken zu beruhigen.
Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Carlos würde doch barfuß oder mit Hausschuhen durch den Flur gehen. Was Philipp gehört hat, klang aber eher nach schweren Stiefeln. Oder ist es vielleicht Neil, der nach Hause gekommen ist? Aber wieso sollte er rennen?
Schnell wird ihm eins klar: Wenn ich nicht nachschaue, werde ich es nicht erfahren. Oh Mann, was, wenn es ein Einbrecher ist? Er macht die Taschenlampe an seinem Handy an und schaut sich im Zimmer um. Der Biologe, der hier sonst wohnt, ist über Weihnachten verreist.
Gibt es hier etwas, das Philipp zur Verteidigung benutzen könnte? Ah, da hinten! Unglaublich, wie viele Leute hier Sportfans sind. Er nimmt den Tennisschläger von der Wand und macht die Taschenlampe wieder aus.
Durch den Türspalt späht er vorsichtig hinaus. In der Küche ist Licht an. Wenn das Carlos ist, hält er mich für komplett bescheuert mit dem Schläger. Und ein Einbrecher würde kein Licht machen, oder? Aber was, wenn doch?
Unruhig verharrt Philipp noch einen Moment an der Tür. Den Schläger nimmt er mit, als er losgeht – zur Sicherheit. Besser wäre es natürlich, er bemerkt mich gar nicht erst.
Vorsichtig schleicht er sich an. Philipp ist selbst ganz erstaunt, wie leise er das schafft. Sein pochendes Herz hört man am lautesten. An der Küche angekommen, bleibt er neben der Türschwelle stehen.
Wie in Zeitlupe späht er um die Ecke. Mucksmäuschenstill atmet er tief ein. Leider atmet er dabei einen kleinen Moskito mit ein.
Wer ... ach, du bist es! Jetzt ist er weg.
Amy, was machst du denn hier?
Ich konnte nicht schlafen. Etwas Obst zu essen beruhigt mich dann immer. Und du?
Ich konnte auch nicht schlafen. Ich verstehe einfach nicht, wie das mit den Videos sein kann. Gerade dachte ich, ich hätte eine Idee, da habe ich Schritte gehört. Aber dann waren die wahrscheinlich von dir.
Das glaube ich eher nicht.
Oh, sorry, so müde bin ich schon.
Schon gut. War es vielleicht Carlos?
Kann sein. Ehrlich gesagt hoffe ich es. Lass uns mal wieder ins Bett gehen. Bestimmt sind wir einfach ziemlich aufgeregt, wenn wir uns Sorgen machen. Morgen früh sieht sich ja alles wieder freundlicher aus.
Ja, vielleicht.
Die beiden verlassen gemeinsam die Küche. Amy wendet sich nach rechts zu ihrem Zimmer, Philipp nach links zu seinem.
Im dunklen Flur kann er kaum etwas sehen und tastet sich an den Wänden entlang. Zu blöd, dass er das Handy mit der Lampe im Zimmer gelassen hat.
Ich war’s nicht, Carlos?
Während Philipp seine Gedanken ordnet, ist der andere losgerannt. Nur Sekunden später hört Philipp, wie die Eingangstür des Wohnhauses ins Schloss fällt.
Schnell will er zu Carlos, hält aber inne, als er von draußen Stimmen hört.
Das hättest du wohl gern, du kommst schön mit!
Au Mann, lass mich los, ich hab gar nichts gemacht!
Wenig später sind alle in der Küche versammelt: Carlos, Philipp, Amy und Thiago.
„Und was machst du hier, Thiago?“
„Äh, euch besuchen?“
„So, du besuchst uns mitten in der Nacht. Du glaubst mir nicht, oder?“
„Gut erkannt, hier streunen gerade noch mehr Leute herum.“
„Nee, das muss ich alleine machen.“
Das klang ehrlich. Carlos stellt ihm noch einige Fragen, doch von Thiago kommen nur wenige Antworten, bis Amy sich einschaltet.
„Darf ich ihm auch eine Frage stellen, Carlos?“
„Klar.“
„Thiago, bist du freiwillig hier eingebrochen?“
„Äh, das hat ins Schwarze getroffen.“
Auf Tiagos Stirn bilden sich dicke Schweißperlen. Nervös schaut er zwischen Carlos, Amy und Philipp hin und her. Verstohlen sieht er sich nach allen Seiten um, als könnte noch jemand das Gespräch mithören. Schließlich atmet er langsam aus.
„Also eigentlich nein.“
„Na, rück schon raus mit der Sprache!“
„Na gut, da gibt’s so eine Gang von, na ja, Wilderern. Die Bande fängt seltene Affen- und Vogelarten, um sie als exotische Haustiere auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Vor kurzem hatten sie hier in der Nähe einen besonderen Vogel mit lila und orangefarbenen Federn gesehen. Sie hatten ihn nicht fangen können. Dabei waren sie aber auf die Station aufmerksam geworden. Immer wieder hatte sich jemand eingeschlichen, um Lebensmittel zu stehlen. Meistens musste das ich machen, weil ich der Jüngste bin. Letzte Nacht war ich auch hier.“
„Und wieso hat dich dann niemand bemerkt, weder Niel, der ja auch wach war, noch die Überwachungskameras?“
„Euren Niel habe ich nicht gesehen, weil er erst deutlich später wach war. Und die Kameras haben tote Winkel.“
„Aha, und dann?“
„Na ja, ich habe ein paar Sachen mitgehen lassen: eine Kamera, bisschen Geld, so Zeug halt.“
„Ach ja, und noch so eine kleine Box. Dachte, es wäre vielleicht ein wasserdichtes Handy.“
„Du dachtest?“
„Äh ja, wartet mal, okay.“
Philipp tippt etwas auf seinem Handy ein und zeigt Tiago ein Bild von einem GPS-Tracker.
„War das zufällig eine wie die hier?“
„Ja.“
„Oh nein!“
„Was?“
„Die Karte, die wir den anderen geschickt haben.“
„Ja?“
„Das war nicht der Weg, den hier jemand gegangen ist, sondern Tiago.“
Sofort versucht Carlos Tina zu erreichen, vergeblich. „Jetzt schlafen sie und die anderen wahrscheinlich. Aber irgendwie muss es doch möglich sein, ihnen morgen früh eine Nachricht zu hinterlassen.“ Jeder Anhaltspunkt, wo Niel sein könnte, ist verloren. Sie haben keine Ahnung, wo er ist.
Draußen im Flur sendet Carlos mehrere Textnachrichten an Tina und die anderen. Amy und Philipp behalten solange Thiago im Auge.
„Warum hast du den Sender mitten im Wald liegen lassen?“
„Weil ich gemerkt habe, was es ist. Wenn das jemand bei mir gefunden hätte, wäre ich bestimmt im Knast gelandet.“
„Und dann hast du es einfach irgendwo versteckt?“
„Ach Quatsch, wäre viel zu gefährlich gewesen. Weggeworfen habe ich’s. Bin eigentlich ein guter Werfer.“
„Wie weit ist es denn geflogen?“
„Bestimmt so fünfzig Meter.“
„Im dichten Regenwald?“
„Ja, vielleicht dreißig.“
„Und dann, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“
„Nix, und dann bin ich heim zur Bande.“
„Wo wohnt ihr denn?“
„Ey, das geht dich gar nichts an.“
„Okay, okay, übermäßig weit kann es aber nicht sein, wenn du es bis jetzt wieder hierher geschafft hast.“
Carlos kommt zurück in die Küche. Den letzten Satz hat er mitgehört.
„Übermäßig weit bis wohin?“
„Zum Unterschlupf von Thiagos Bande.“
„Oh nein, Philipp, kannst du nachschauen, ob die anderen die Karte empfangen haben, die wir geschickt haben?“
„Moment.“
Hektisch tippt Philipp auf dem Handy herum. In der Aufregung vertippt er sich zweimal, bis er endlich ins richtige Menü kommt.
„Ich hatte sie an alle drei geschickt. Warte, da hab ich’s: Toni hat die Nachricht geöffnet, Marie und Tina nicht.“
„Denkst du, genau das denke ich?“
„Sorry, ich bin raus.“
„Erklärt ihr es mir kurz?“
„Bestimmt sind sie der Karte dorthin gefolgt, wo Thiago den Tracker hingeworfen hat. Weil sie dachten, dass Niel dort war. Und es war bestimmt schon recht spät, als sie dort ankamen. Deshalb haben sie da vielleicht ihr Nachtlager aufgeschlagen.“
„Und wenn Thiago keinen weiten Heimweg mehr hatte, heißt das ...“
„Sie schlafen ganz in der Nähe der Wilderer.“
„Aber ich dachte, die wären ganz woanders.“
„Ah, ich auch.“
„Thiago, das heißt, wir brauchen hier deine Hilfe.“
„Weiß nicht.“
Thiago denkt kurz nach.
„Eigentlich ist hierbleiben gar keine so schlimme Vorstellung.“
„Aber wie sollst du denn da helfen?“
„Nun komm schon, nachdem du hier geklaut hast, kannst du uns doch den Gefallen tun, oder? Du bist der Einzige, der weiß, wo genau die Wilderer sind und was sie über die Station wissen.“
Amys gewinnende Art überzeugt Thiago. Schließlich gibt er nach und verspricht zu bleiben. Also geht es gleich morgen früh weiter.
Die Leute hier sind viel netter zu ihm als die Wilderer. Erstaunt und froh darüber schläft Thiago in seinem neuen Zimmer schnell ein. Carlos, Amy und Philipp liegen aber noch lange wach. Von hier aus können sie nichts tun. Kein schönes Gefühl, wenn die Freunde vielleicht in Gefahr sind.
Die drei schlummern friedlich in ihren Hängematten und ahnen nichts. Gegen fünf Uhr morgens, kurz vor der ersten Dämmerung, wird Marie plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Sammy schüttelt sich empört. „Was war das? Hast du das auch gehört? Los, aufstehen, schnell!“
Tina steht zwischen ihren beiden Hängematten und drängt sie, sich zu beeilen. Marie schält sich so schnell sie kann heraus und steht mit wackeligen Beinen auf. „Was ist denn los?“ fragt sie.
„Später. Los, packt alles schnell ein. Ich verwische so lange die Spuren und verstecke das Feuerholz.“
Nachdem alles verpackt ist, fragt Marie: „Und jetzt?“
„Der Knall kam von da!“
„Sicher?“
„Mhm. Dann flüchten wir in die Richtung.“
„Mhm.“
„Seid extra vorsichtig, keine Äste abzubrechen und nichts zu zertreten. Und jetzt schnell!“
„Okay, okay, rein in meine Tasche, Sammy!“
„Okay!“
So eilen sie durchs dichte Gebüsch. Es ist nicht einfach, dabei leise zu sein und keine Spuren zu hinterlassen. Wenigstens wird es zwischen den großen Bäumen langsam hell.
Erst nach zwanzig Minuten hält Tina endlich inne. „Okay, das dürfte reichen. Oder riechst du jemanden in der Nähe, Sammy?“
„Vorhin schon, aber jetzt nicht mehr. Wir haben sie abgehängt, diese fiesen Eichhörnchen!“
„Hoffentlich.“
„Wer war das, Tina?“
„Ich habe einen Schuss gehört. Bestimmt von Wilderern. Wildhüter haben nämlich keine Schusswaffe dabei.“
„Oh Mann, da müssen die ja weit unterwegs gewesen sein.“
„Meine Kollegen, sie hatten sie ganz woanders aufgespürt.“
„Haben die auf uns geschossen?“
„Ich denke nicht. Ich nehme an, sie haben Tiere gejagt.“
„Was? Voll gemein!“
„Ja, aber warum sind wir dann so gerannt?“
„Weil sie Gäste gar nicht mögen. Wilderer verstoßen gegen das Gesetz und wollen dabei auch nicht entdeckt werden. Manchmal werden sie gewalttätig, keine freundlichen Gesellen.“
„Oh.“
„Wer sich im Wald auskennt, ist so früh morgens auch nicht alleine unterwegs. Es müssen mehrere sein. Ich vermute, dass sie dort auch irgendwo ihren Unterschlupf haben.“
„Denkst du, die folgen uns?“
„Eine Weile bestimmt, weil sie sicher gehen wollen, dass wir ihnen keinen Ärger machen. Aber irgendwann ist es ihnen zu mühsam und sie geben auf.“
„Eine SMS?“
„Vielleicht von Fink.“
„Oh oh, da sind sie wieder.“
„Okay, später, wir müssen weiter.“
Wieder eilen die drei mit Sammy durch den dichten Wald. Sie ändern oft die Richtung, um die Verfolger zu verwirren. Bald sind sie abgeschüttelt.
Tina blickt auf ihr GPS-Gerät. „Wie weit ist es noch bis zur Station? Wir sind noch nicht näher dran.“
„Was? Wir wollen doch die Wilderer nicht in die Station führen.“
„Klar, wir gehen einen Umweg zurück.“
„Denkst du, sie geben auf, bevor sie uns finden?“
„Wir haben sie ziemlich an der Nase herumgeführt und sie in eine völlig falsche Richtung geschickt. Damit werden sie ein bisschen beschäftigt sein. Nur an Neil kommen wir nicht besser ran.“
„Hoffentlich ist er ihnen nicht begegnet. Und was ist mit Amy, Philipp und Carlos? Wir müssen ihnen doch Bescheid sagen, dass wir noch länger weg sind.“
„Guckt erst mal hier.“
„Ach, die SMS von vorhin, von Carlos.“
„Oh nein! Was steht drin?“
„Dass es gar nicht Nils Sender war, den wir vorher gefunden haben.“
„Was?“
„Ja, sondern?“
„So ein Wilderer hatte den aus der Station geklaut. Der Typ kam wieder und jetzt ist er noch bei ihm. Also gestern Abend.“
„Dann wissen wir nicht mal, ob Nils überhaupt dort bei der Lichtung war. Und noch viel weniger, wo er jetzt ist.“
„Oh nein!“
Das ist zu viel für Tina. Resigniert setzt sie sich auf den Boden. Sie hatte so gehofft, Neil zu finden. Aber jetzt sind sie mitten im Wald und haben ihre letzte Spur verloren.
„Denkst du, die bösen Eichhörnchen kriegen uns, Marie?“
„Die Wilderer?“
Tina meint nicht. „Die erwischen uns schon nicht, Zwerg, sonst kriegen die es mit mir zu tun.“
„Und mit mir, dann laufen die vor uns weg.“
„Mit uns allen. Lass uns zurückgehen. Besser, wir kommen in der Station an, bevor wir selbst noch gesucht werden müssen. Dann machen wir dort einen neuen Plan.“
Schon komisch irgendwie. Der Wald ist so super schön, aber auch super gefährlich. So ist es oft im Leben. Da ist es wichtig, nicht das Schöne und Wahre aus den Augen zu verlieren.
Jetzt geht's zurück, ohne eine Spur von Neil, zum Glück aber auch ohne eine Spur von den Wilderern. Nachdenklich und still wandern die drei durch den dichten Wald. Sammy sitzt in Maries Umhängetasche und schaut hin und wieder verstohlen heraus.
Und was ist gerade auf der Station los? Ich möchte wirklich wissen, wo sie sind. Machst du dir auch Sorgen, Carlos?
Schon, ja. Aber ich weiß auch, dass Neil und Tina beide sehr schlau sind. Sie kennen den Wald in- und auswendig und sind auch schon aus Schwierigkeiten wieder herausgekommen. Ich vertraue fest darauf, dass Gott sie behütet. Ihnen wird nichts passieren, was er nicht zulässt.
Wow, stark! Du vertraust Gott wirklich, oder?
Na klar. Seit ich ihn kennengelernt habe, ist in meinem Leben alles anders geworden. Nicht alles besser, aber ich weiß, dass ich mich immer auf ihn verlassen kann. Selbst wenn etwas Schlimmes passiert, kann er daraus etwas Gutes machen. Es gibt niemanden, dem ich mehr vertraue.
Dann hoffe ich, dass Gott sich nicht dem Wald verweigert und unseren Freunden wirklich helfen kann.
Davon bin ich fest überzeugt. Mir ist auch mal etwas sehr Schlimmes passiert. Bei dem Unfall habe ich meine Mutter verloren und kann seitdem nicht mehr laufen.
Das tut mir wirklich sehr leid, Amy.
Danke, Carlos. Hat Gott deine Mama nicht beschützt?
Gott verschont uns nicht immer vor allem Schlimmen, sie und mich auch nicht. Aber weil sie Gott vertraut hat, lebt sie jetzt bei ihm. Papa und ich sind als Familie dadurch wirklich zusammengewachsen und stark geworden. Dafür bin ich sehr dankbar.
Dankbar? Das finde ich irgendwie schwer zu verstehen.
Nicht schlimm. Wenn man sich damit beschäftigt, wird es irgendwann leichter.
Aber sag mal, wo ist eigentlich Thiago? Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.
Ich auch nicht. Das sollten wir ändern. Wir müssen herausfinden, was die Wilderen über uns wissen.
Denkst du, er plant etwas?
Er wirkt auf mich ehrlich gesagt nicht wie ein Krimineller. Aber so eine Bande – tja, die spielen ohne Regeln. Das ist nicht gut für einen Jugendlichen, der andere beeindrucken will.
Zuerst sehen sie in Tiagos Zimmer nach. Dort ist er nicht, auch nicht in der Küche. Vom Wohnhaus aus kann man das Forschungsgebäude sehen. Dort steht die Tür offen.
Die drei gehen hinein und finden Tiago genau dort, wo sie gestern die Überwachungsvideos angeschaut hatten. Tiago ist ganz in die Aufnahmen vertieft, die er sich anschaut. Erst als schon alle drei im Raum sind, blickt er hoch.
"Oh, äh, hallo, das ist nicht dein Zimmer."
"Oh, ist das so? Hör sofort auf damit! Und alle löschen."
"So, äh, klar, ich hör auf."
"Sag mal, spinnst du? Vielleicht kann ich ein bisschen wiederherstellen."
"Los, auf jetzt hier! Ich bring Tiago nach draußen."
Dort stellt sie ihn zur Rede.
"Du hast die Videos von drei Monaten gelöscht? Warum?"
"Ach Amy, du hast ja keine Ahnung."
"Ach so? Weißt du, auf wie vielen ich drauf bin? Purer Zufall, dass ich das vorgestern nicht war. Boah, hab ja nicht mal gewusst, dass sie alles filmt."
"Na ja, ist gut gegen Einbrecher, schätze ich."
"Haha, sehr witzig. Du bist ja echt okay, aber dieser Carlos, der wird doch hundertprozentig die Polizei rufen, dann bin ich dran. Oder wenn die Bande rauskriegt, dass ich mich erwischen lassen hab."
"Und du denkst ernsthaft, dass es deine Probleme löst, wenn du die Videos löschst?"
"Na ja, ja, so kann mir keiner was beweisen."
"Tiago, Schuld verschwindet doch nicht, wenn man sie vertuscht. Das wäre ja so, als würdest du dir mit der Hand die Augen zuhalten und denken, jetzt sieht dich keiner mehr."
"Weiß nicht. Willst du das wirklich? Leute beklauen, Tiere jagen? Bei den Jungs kannst du dich nicht wie ein Weichen übernehmen."
"Und deshalb machst du alles, was sie dir vorschreiben?"
"Ey, ich kann schon selbst entscheiden, was ich mache."
"Klar, aber nicht alle Entscheidungen sind gleich gut. Such dir denn halt lieber jemanden, der dich auch trägt."
"Ach ja, und wo soll das bitte sein?"
"Bei Menschen, die es gut mit dir meinen, und allen voran bei Jesus Christus. Dem kannst du wirklich vertrauen. Der wird dich nicht zwingen, etwas zu tun, das dir oder anderen schadet."
"Jetzt klingst du schon wie meine Mutter früher."
"Anscheinend hast du eine schlaue Mutter. Deine Entscheidung. Aber ich rate dir, solche Dinge nicht mehr zu machen und dir echte Freunde zu suchen."
Darüber muss Tiago erst mal nachdenken. Mehrere Minuten schweigt er. Dann murmelt er ein leises "Danke."
"Dann gehe ich mal besser Story sagen, oder?"
Es ist gegen siebzehn Uhr nachmittags, als drei große und eine kleine Gestalt erschöpft das Stationsgelände betreten. Philipp sieht sie als Erster und informiert schnell Amy und Carlos. Gemeinsam gehen alle nach draußen, schüchtern folgt Tiago in einiger Entfernung.
Es war nicht leicht für ihn gewesen, Carlos um Verzeihung zu bitten, doch sie hatten ein gutes Gespräch geführt. Amy rollt auf Marie zu, und die Cousinen fallen sich um den Hals.
„Wie schön, dass ihr zurück seid – und wie!“
„Oh, hey, Vorsicht, zerquetscht mich nicht so, Nussmus!“
„Yo, Phil! Hi, Tony! Cool, dass ihr wieder da seid.“
„Niles nicht bei euch?“
„Leider nein, wir haben keine Ahnung, wo er ist. Der GPS-Tracker war ja nicht von ihm.“
„Sonst alles in Ordnung bei euch?“
„Soweit schon. Maria und Toni sind echt starke Abenteurer.“
„Na und ich?“
„Ja, du auch, Sammy. Aber wir müssen uns um die Wilderer kümmern.“
„Ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird, nicht wahr, Thiago?“
„Ich.“
„Du bist also der, der unsere Geräte klaut?“
„Äh, für dich müssen wir uns auch noch was überlegen.“
Bis spät abends sitzen alle am Lagerfeuer zusammen und besprechen, was zu tun ist. Dabei hat niemand mehr an den ganzen Trubel und die 32 Grad Lufttemperatur gedacht.
Morgen ist nicht nur der Tag, an dem Nil hoffentlich zurückkommt, sondern auch Heiligabend – der Tag, an dem in der Station gefeiert wird, dass Gottes Sohn Jesus auf die Erde kam.
„Fühlt sich gar nicht weihnachtlich an.“
„Kann sein. Was ist jetzt mit den Wilderern?“
„Stimmt, wissen Sie eigentlich, dass ihr von hier gekommen seid?“
„Na, wahrscheinlich nicht, sie haben uns nicht gesehen. Aber ganz ausschließen können wir das nicht.“
„Wie steht's mit dir, Thiago?“
„Mich suchen sie sicher nicht. Aber vielleicht kommt jemand, um Essen zu klauen. Am besten halten wir Nachtwache.“
„Ach, doch auf Nummer sicher gehen, nicht einfach vertrauen.“
„Vertrauen heißt nicht, sich vor Verantwortung zu drücken.“
„Das verstehe ich jetzt viel besser.“
„Thiago, wir zwei übernehmen die erste Wache. Ihr anderen holt euch erst mal eine Mütze Schlaf, wir machen euch dann rechtzeitig wach.“
Während der ersten Nachtwache ist alles ruhig. Ein paar Stunden später tauschen die beiden mit Tina und Philipp. Diese bemerken ein verdächtig lautes Rascheln im Gebüsch und sehen eine Silhouette. Es stellt sich jedoch heraus, dass es nur ein Faultier war, das auf einen Baum geklettert ist.
Die letzte Wache teilen sich Toni, Marie und Amy – und Sammy. Lange Zeit passiert nichts, doch irgendwann...
„Ich rieche was hier.“
„Psst, ich habe was gehört.“
„Vielleicht war es ein Faultier, so wie bei Phil vorhin.“
„Faultiere summen nicht.“
„Die Melodie kenne ich doch.“
„Na, also hier schläft aber nicht alles.“
„Mir?“
Erst am Morgen erfahren auch die anderen von seiner Rückkehr. Aus der Küche duftet es herrlich nach frischen Pfannkuchen und Früchten.
„So gut, wie es hier riecht.“
„Hä, Nils?“
„Ja, hallo ihr Lieben.“
„Carlos, beeil dich, Nils ist wieder da.“
Jetzt werden sie endlich Nils’ Geschichte erfahren.
„Na ja, mein Vater und ich, wir haben uns ewig nicht gesehen. Und nun war er in der Nähe, um seltene Früchte zu sammeln.“
„Aber wieso bist du so plötzlich gegangen?“
„Ja, er hatte nur zwei Tage und die Strecke war echt weit, da bin ich sofort los. Wir hatten wirklich eine wunderbare Zeit zusammen.“
„Ja, und ich hatte gehofft, dass ihr euch eben keine Sorgen macht.“
„Na, sag ich doch. Aufgegangen ist es nicht.“
„Seid ihr den Wilderern begegnet?“
„Ja, zum Glück nicht, wir waren woanders.“
„Aber nun erzählt mal, hier war ja auch nicht alles wie gedacht.“
„Hä, was meinst denn du?“
„Dich.“
Nils hört aufmerksam zu. Nachdenklich blickt er einen nach dem anderen an. Dann lächelt er.
„Aber schaut mal, was ihr hier erlebt habt, das ist richtig weihnachtlich.“
„Dafür fehlen aber noch die Weihnachtsnüsse.“
„Ach Sammy, wie das, Nils?“
„Ja, Gott will, dass wir ihn von ganzem Herzen suchen, wisst ihr?“
„Ah, so wie Tina nach dir gesucht hat. Obwohl ich natürlich nicht Gott bin.“
„Aber na ja, du hast schon Recht, du hast da echt was auf dich genommen.“
„Klar.“
„Ja, und Gott will auch, dass wir ihm vertrauen, wisst ihr?“
„Wie Carlos.“
„Ja, ich habe es versucht. Aber Gott vertraue ich noch mehr als Nils.“
„Na hoffentlich. Aber eure beiden Ansätze haben sich echt total gut ergänzt, finde ich.“
„Aber was ist daran weihnachtlich?“
„Gott will, dass wir ihn suchen und ihm vertrauen, weil er uns so sehr liebt. Und genau deshalb kam auch sein Sohn Jesus an Weihnachten auf die Erde.“
Wisst ihr was, Leute? Mir fällt gerade noch etwas auf.
Was denn?
Niel war bei seinem Vater. Niemand konnte ihm dorthin folgen, und nach drei Tagen kam er wieder zurück.
Hä, hat da jemand einen Witz gemacht?
Nein, mich hat das bloß an etwas Wichtiges erinnert. An Ostern.
Hä, was hat denn Ostern mit Weihnachten zu tun?
Ja, worüber freuen sich die anderen denn so?
Als später der Weihnachtsbaum dekoriert wird, denkt die Crew noch immer darüber nach. Ein Brasilholzbaum wird mit Lichterketten und Sternen bunt geschmückt. Alle helfen mit.
Superschön! Willkommen hier bei uns, Jesus! Und so kann Weihnachten in Brasilien gefeiert werden.
Krass! Was ist denn dann mit Thiago passiert?
Tja, ihm wurde es ganz wichtig, für seine Diebstähle aufzukommen. Sein Angebot, als Küchenhelfer zu arbeiten, haben sie in der Station gern angenommen. Dort war er auch vor den Wilderern sicher. Von denen hat man dann auch nichts mehr gehört.
Es nimmt immer ein gutes Ende. Wie früher.
Und wie ist es nun mit Weihnachten, Ostern ... und drei Tage verschwunden sein?
Das ist ein Bild für das, was Jesus gemacht hat. Ihr wisst ja, dass er freiwillig gestorben ist. So hat er sich schützend vor uns gestellt und uns davor gerettet, dass wir für immer von Gott getrennt bleiben müssen.
Aber zuerst waren Jesus' Freunde total verzweifelt. Als er tot war, dachten sie, das mit der Rettung hätte nicht geklappt.
Das ist aber auch super traurig.
Ja, aber es musste leider sein. Gott hatte das mit eingeplant.
Echt?
Hm, Gott hat Jesus nach drei Tagen, in denen ihn niemand finden konnte, wieder lebendig gemacht. Das feiern wir an Ostern.
Dafür musste Jesus ja erst mal hier sein. Daran denken wir an Weihnachten. So gehören die Feste zusammen.
Das mit den Feiertagen verstehe ich, aber wie soll das mit dem Lebendigmachen gehen? War Jesus gar nicht richtig tot?
Oh doch, das war er.
Aber dann kann er doch nicht wieder gelebt haben. Oder meinst du das nur als Bild gesprochen, so wie jemand in unseren Gedanken weiterlebt?
Er war wirklich wieder quicklebendig. Viele haben ihn mit eigenen Augen gesehen.
Aber das ist doch völlig unmöglich.
Nicht bei Gott. Aber stimmt, es ist etwas sehr Besonderes.
Klingt schon super besonders. Ich glaube, das ist das, worüber ich am meisten staune. Jesus hat diesen schlimmen Tod auf sich genommen, auch für mich. Und dann wurde er wieder lebendig, er hat den Tod besiegt, und jetzt muss ich mich nicht mehr davor fürchten. Das muss niemand mehr, der Jesus vertraut.
Auch nicht, ähm, na ja, sag schon, Tante Julia.
Meine liebe Julia, sie hat Jesus voll vertraut. Deshalb hatte auch der Tod über sie nicht das letzte Wort.
Aber nach der Logik müsste doch Julia wieder hier sein oder so.
Das war noch nicht das Ende. Jesus blieb eine Weile und ist dann zurück zu Gott gegangen. Dort war er ja hergekommen. Der Ort, wo Gott wohnt, ist der Himmel, und dort ist auch meine Mama jetzt lebendig.
Hä, aber wo soll das denn sein? Auf der Landkarte findet man es bestimmt nicht.
Jetzt können wir das noch nicht sehen, aber ich weiß, dass ich dort eines Tages meine Mama wiedersehe.
Und gehen da alle hin, wenn sie tot sind?
Leider nicht. Gott würde niemanden dazu zwingen. Aber eins ist ganz wichtig: Jeder darf zu ihm kommen, schon jetzt im Leben. Ihm Vertrauen ist alles, was es dafür braucht.
Deshalb kommt ihr zwei so gut damit klar.
Schwer ist es trotzdem. Ich vermisse meine Julia sehr.
Hm, äh, darf ich euch was zeigen?
Ja klar, Marie.
Habe ich das da oben auf dem kleinen Dachboden gefunden? Was ist das? Das möchte ich schon die ganze Zeit wissen.
Hier, Amy. Für mich? Los, falte es auf! Puh, das lag wohl eine Weile da oben. Mal sehen.
Meine liebste Amy, ich wünsche dir von Herzen nur das Allerbeste zum Geburtstag. Für mich und deinen Papa bist du das größte Geschenk, das uns Gott hier auf Erden gemacht hat.
Heute habe ich auch ein Geschenk für dich. Es soll dich immer an uns erinnern, sogar noch, wenn du in vielen Jahren alt und grau geworden bist.
In Liebe, deine Mama.
Und ein Foto von euch, als wir zusammen im Freizeitpark Achterbahn gefahren sind. Du schaust ja lustig auf dem Bild. Es ging auch ganz schön schnell runter.
Ja, Julia hat ihre Geschenke immer vor mir geheim gehalten. Sie hatte Angst, dass ich mich sonst verplappere. Ich wusste nicht, dass sie das vorbereitet hat.
Ja, das passt zu dir. Wie schön das ist. Dann alles Gute zum Geburtstag und frohe Weihnachten.