Einleitung: Die Herausforderung, Jesus zu vermitteln
Ich lese heute ein Wort, das über unserer Predigt steht, aus Jesaja 53. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg. Herr, rede jetzt zu uns! Amen!
In dem Jugendkreis, in dem ich aufwuchs, bemühten wir uns, nicht nur die jungen Mädchen, sondern auch die jungen Burschen einzuladen – nicht nur zu Film- und Kriminalabenden, sondern auch zu Bibelstunden. Wenn unsere Mitarbeiter dann loszogen, machten sie die Erfahrung, dass sie gar nicht weit kamen. Das war einfach nicht attraktiv genug.
So erinnere ich mich, wie wir einmal Walter Tlach, damals Leiter des Jugendwerks, des Jungmännerwerks in Württemberg, eingeladen hatten. Ein Mitarbeiter sagte ganz verzweifelt bei seinen Einladungen: „Heute Abend kommt Kriminalkommissar Tlach!“ Man braucht irgendetwas Attraktives, sonst kann man das Evangelium in dieser Welt nicht verkaufen.
Sie wollen doch sicher auch für Jesus die Werbetrommel rühren. Doch dann macht man die Erfahrung: Es gelingt nicht. Heute wird vieles versucht, aber wenn man das einmal kritisch beobachtet, fällt auf, dass alles, was man groß herausbringen kann, Rand- und Nebendinge sind.
Wenn Sie jemanden einladen wollen, können Sie sagen: „Wir haben eine prima Orgel“, oder „Wir haben ein nettes Publikum“, oder „Wir haben eine schöne Kirche.“ Doch Sie reden immer von Randdingen.
Jesus können Sie einem Menschen nicht attraktiv verkaufen, so wie man in der Werbung gewisse Dinge frisiert. Man sagt etwa: „Ein Haarwuchsmittel – und dann kommen wieder die Haare.“ Oder: „Ein neues Lebensgefühl, wenn man raucht.“ Oder: „Ein Getränk, das neue Lebensgeister weckt.“ Das kann man einem Menschen suggerieren, einflößen.
Aber Jesus können Sie einem Menschen nicht verkaufen wie eine Werbesache. Das geht nicht.
Die Unattraktivität Jesu und ihre Bedeutung
Jesus wirkt nicht anziehend, Jesus wirkt nicht attraktiv. Es wird immer wieder eine Versuchung für uns sein, Jesus unseren Mitmenschen so zu präsentieren, dass er zumindest von ihnen angenommen wird. Wenn wir Jesus in der Sprache der Werbung „verkaufen“ wollen, dann ist es immer ein verfälschter Jesus.
Es kann durchaus sein, dass eine Zeit oder eine Generation Jesus aufgenommen hat und das Christentum annahm. Doch wir sehen den Kontrast ganz deutlich: Es war nicht Jesus, es war ein Christentum. Es war etwas ganz anderes als das, was Jesus wollte – eine verfälschte Form.
Deshalb wollen wir uns heute einfach still damit beschäftigen, warum Jesus so wenig anziehend ist. Er war der allerverachtetste und unwerteste Mensch. Er wurde so sehr verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg.
Darüber möchte ich heute zwei Dinge sagen.
Menschen rücken von Jesus ab
Das Erste: Menschen rücken von Jesus ab. Wenn wir mit anderen über Jesus reden, machen wir immer wieder die Erfahrung, dass wir nicht weit kommen. Ein großer Teil davon mag unsere Schuld sein, und wir wollen uns dieser Schuld stellen. Vielleicht liegt es daran, dass wir es so schlecht weitersagen können oder dass unser Leben ein schlechtes Beispiel dafür ist, dass wir den Weg mit Jesus gehen. Doch es bleibt nicht allein dabei.
Es liegt auch an der Person Jesus selbst. Schon im Neuen Testament steht, mit welch großen Massen von Menschen er reden konnte. Fünftausend folgten ihm bis in die Wüste nach und versorgten sich dort mit Essen. Doch es wird gleich anschließend erzählt, dass sie sich an Jesus ärgerten und dann doch wieder von ihm wegliefen.
Warum ist Jesus so wenig anziehend? Warum wird er so verachtet? Petrus hat einmal fast mit Jesus darüber gestritten. Er sagte zu Jesus: „Du darfst dein Image in der Welt nicht so verachten. Du musst ein anderes Image haben, sonst laufen dir die Leute nicht nach. Du musst etwas für deine Publicität tun, du musst nachgeben.“ Jesus antwortete: „Nein, Petrus, ich muss den Weg gehen, dass ich verachtet und als unwürdig angesehen werde.“
Hier wird deutlich, dass das nicht irgendein Versehen, Ungeschick oder Fehler an Jesus ist, sondern dass er das bewusst will. Er will der Verachtete und der Unwürdige sein. In dieser Welt werden ihm die Massen nicht zulaufen. Es mag sein, dass Massen für ein Christentum streiten, aber für Jesus werden es immer wenige sein, die ihn wirklich erkennen. Er geht den Weg des Verachteten und Unwürdigen.
Das ist nicht leicht zu begreifen, und es ist auch nicht leicht, das Angesicht vor ihm zu verbergen. Das tun nicht nur Menschen, die nicht an ihn glauben, sondern sogar seine Jünger. Gerade Petrus, der mit Jesus gestritten hatte, konnte es in der Nacht vor der Hinrichtung Jesu selbst nicht mehr aushalten. Als ihn dort die Macht ansprach und sagte: „Du bist doch auch mit Jesus von Nazareth“, da wich er zurück und sagte: „Nein, ich kenne ihn nicht.“
Er konnte sich nicht mit diesem verachteten Jesus identifizieren. Dazugehören war zu schwer, zu tief. Man verbarg das Angesicht vor ihm – man könnte es auch so übersetzen, dass man von ihm wegrückte, den Blick zur Seite lenkte und ihm nicht mehr in die Augen sehen wollte. Das war einem zu wenig, das war zu arm.
Es wäre furchtbar, wenn wir Menschen nur in einem falschen Jesusbild Begeisterung finden ließen. Wir wollen entdecken, was es mit diesem verachteten und unwürdigen Jesus auf sich hat, denn genau das will uns Jesus schenken. Alles andere ist nur Rand, nur Nebensache.
Denke noch einmal an die Nachtstunde, die ich vorher in der Textverlesung genannt habe, als sie vor Pilatus standen. Pilatus spürte, dass dieser Jesus menschliches Mitleid verdient. Dann kam es zu einer Konfrontation. Pilatus rechnete kaum damit, dass es so ausgehen könnte, wie es schließlich geschah. Er stellte neben Jesus eine andere Figur in unserer Welt – jemand, zu dem viele Menschen die Nase rümpfen und sich distanzieren: einen Mörder, einen Gewalttäter.
Plötzlich wurde es interessant, dass die Leute sagten: „Lieber den, den verstehen wir wenigstens noch. Der hat wenigstens ein Ziel mit seiner Gewalttat. Für den kann man sich noch begeistern. Vielleicht war er nur falsch erzogen.“ Man kann sich sogar für den schlimmsten Ausgestoßenen in der Welt begeistern, man kann sich für einen Inhaftierten begeistern, aber für Jesus nicht mehr.
Das wird in dieser Nachtstunde besonders deutlich, in der Barabbas neben Jesus steht. Es gibt keinen, der so verachtet und so unwürdig ist wie Jesus. Man möchte fragen: Was steht hinter dieser Verachtung gegen Jesus? Was steckt hinter diesem unwürdigen Jesus?
Ich möchte ein Modewort unserer Zeit verwenden. In der Sprache der Parlamentarier redet man heute oft von der Solidarität der Demokraten. Die einen sagen, das sei Heuchelei, die anderen sprechen vom Dunstkreis, der über diesem Begriff liegt. So haben wir in den letzten Tagen gehört, was Solidarität eigentlich bedeutet – nicht so, wie wir es heute oft gebrauchen.
Jesus will mit verachteten Menschen Bruder sein, solidarisch sein. Man versteht Jesus erst, wenn man Verachtung in dieser Welt spürt, wenn man sich unwürdig fühlt. Ich glaube nicht, dass andere Menschen Jesus wirklich begreifen können.
Vielleicht sitzt hier jemand im Gottesdienst und denkt: „Wer fragt schon nach mir? Ich bin ein einsamer Mensch, wer schreibt mir schon einen Brief? Ich bin doch vergessen. Wenn ich einmal sterbe, reiße ich keine Lücke. Was kann ich mit meinem kleinen Leben schon ausrichten? Meine Lebenspläne sind zerschlagen.“ So ein Mensch spürt, wie andere ihn übersehen, wie er auf die Seite gelegt wird, wie Verachtung weh tun kann.
Dann versteht er plötzlich, warum Jesus ihm kein Heiland wird, der ihm im Glanz und in der Herrlichkeit begegnet, sondern einer, der Verachtung getragen hat – selbst bis in die tiefsten Tiefen.
Wenn jemand leidet, weil andere ihn verachten wegen der Schuld seines Lebens, dann hat Jesus das auch gespürt. Als sie ihn verurteilten, als sie schrien: „Weg mit diesem, der sein Leben verwirkt hat“, obwohl er unschuldig war, hat Jesus mitgefühlt, was das heißt.
Er ist ein Heiland geworden, der die Nöte dieser Welt durchlitten hat. Ich glaube, dass er nur von Menschen verstanden werden kann, die verachtet sind. Er ist ein Heiland der Verachteten.
Die Reichen in unserer Welt können reich sein. Sie können ihre Freunde reich machen, sie können andere beschenken. Es gibt Menschen, die in der Welt austeilen können, weil sie Güter haben. Aber viele andere bekommen nichts davon und merken nichts davon.
Jesus will nicht so einer sein, der große Geschenke von oben verteilt, sondern einer, der selbst arm ist und Arme reich machen kann. Er hat ein Wort für Menschen, die verachtet, mutlos, verzweifelt und unwürdig sind, die sich selbst nicht mehr bejahen können und sagen: „Mein Leben ist doch sowieso schon gelaufen. Was kann denn aus mir noch werden?“
Für solche Menschen hat Jesus das Zeichen des Kreuzes aufgerichtet. Er war der Allerverachtetste und Unwürdigste, weil er Sünder erretten will, weil er Verlorene retten will, weil er Verzweifelten ein neues Leben schenken will.
Ich glaube, dass hier erst christlicher Glaube überhaupt anfängt, dass man das Evangelium versteht und dass Freude beginnt in einem Leben, das sagt: „Danke, Herr Jesus, dass du so verachtet und unwürdig bist.“
Gerade dort, wo andere sich von Jesus abwenden.
Ich verstehe, dass man in einer Passionswoche viel eher schöne Musik hören kann als stehenzubleiben vor der Geschichte des Leidens Jesu. Ich glaube auch, dass man in einer Passionswoche viel mehr schöne Bilder betrachten kann, als sich wirklich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen.
Doch erst dort, wo man an seiner unwürdigen Gestalt stehenbleibt und die Verachtung noch einmal spürt, die ihn getroffen hat, kommen Freude, Trost und Hoffnung.
Jesus als der, der alles an sich zieht
Und noch ein zweiter Gedanke: Er zieht alles an sich heran. Das eine war, dass alles von ihm abrückt. Auf der anderen Seite zieht er alles an sich heran. Das heißt in diesem Wort, dass er voller Schmerzen und Krankheit war.
Wenn man sich ein wenig Zeit zum Bibellesen nimmt, dann stutzt man und fragt sich: Jesus war voller Krankheit? War Jesus krank? Hatte Jesus Masern, Grippe, Tuberkulose oder Krebs? Wir wissen doch nichts von einer Krankheit Jesu. Nirgendwo im Neuen Testament steht, dass Jesus krank war. Warum heißt es hier, er sei voller Krankheit, voller Schmerzen, voller Krankheit? Was soll das heißen?
Dann wollte ich Ihnen nur hier das Hundertguldenblatt von Rembrandt vor Augen führen, das er einmal gemalt hat. Wie aus diesem Dunkel die Menschen kommen: Einige werden auf Schubkarren herangefahren, andere humpeln mit ihren Krücken und laufen zu Jesus hin. Auf der einen Seite sind die, die abrücken. Dort sind die Gesunden, die Intakten, sogar sehr viele Fromme, die letztlich vom Gekreuzigten abrücken und nichts damit anfangen können.
Auf der anderen Seite sind die, die mit ihrem kranken Leben zu Jesus kommen. Und Jesus hat die Kranken zu sich genommen.
Lassen Sie mich noch einmal das Wort Solidarität strapazieren, das in unseren Tagen so missbraucht wird. Wir verbinden mit Solidarität oft irgendein Gewäsch, eine Art Anteilnahme oder Ähnliches. Ich glaube, dass von uns noch nie jemand wirklich solidarisch sein konnte.
Bei unserem Hauskreis neulich sagte jemand: „Ich kann heute Abend gar nichts mehr denken, nur weil ich daran denke, dass ein Kind auf der Welt hungert.“ Und ich antwortete: Sie können überhaupt nichts mehr denken, wenn Sie mit einem Menschen sein Leid richtig tragen. Wenn Sie an jemanden denken, der jetzt eine Nierenkolik hat oder an jemanden, der durch eine schwere Depression muss. Wenn Sie wirklich mitleiden, wenn Sie solidarisch sind, dann können Sie überhaupt nicht mehr lachen, geschweige denn das Leiden ertragen, das jetzt über Vietnam hinweggeht oder was sonst in der Welt geschieht.
Wer kann das überhaupt aushalten? Wer kann das ertragen? Von einer Frau, die von ihrem Mann verlassen wird, oder vom Gemeinen, das in dieser Welt passiert – wer kann das ertragen? Jesus konnte es. Er hat diese Schmerzen auf sich genommen. Nicht bloß so, wie wir, die in ein Krankenzimmer kommen, eine halbe Stunde da sitzen, zuhören und unsere Teilnahme spüren lassen. Jesus hat das auf sich genommen.
Es war so, als träfe das seinen Körper. Wenn Sie sich noch einmal vergegenwärtigen, wie Jesus vor dem Grab des Lazarus stand – ganz anders als wir an Gräbern stehen – da ergrimmten die Tränen in seinen Augen, die dort von Johannes berichtet werden. Diese Tränen sind nicht Tränen der Trauer, sondern Tränen des Zorns darüber, dass der Tod solche Macht in der Welt hat.
Oder als der Vater dieses taube Kind zu Jesus brachte, da seufzte Jesus. Ich werde nie vergessen, wie ich vor vielen Jahren einen Pfarrer predigen hörte, dessen Sohn taub war. Als Vater konnte er darüber predigen, wie Jesus seufzte über der Krankheit dieser Welt, den ganzen Schmerz, der über dieser kaputten Schöpfung liegt, an der wir mitleiden.
Wir haben einen Heiland, der deshalb so in der Tiefe steht, weil er diese ganze Not auf sich zieht. Ich verstehe, dass die Weltgeschichte am Gekreuzigten vorübergeht. Ich verstehe, dass sich Leute eher für das Christentum begeistern als für den gekreuzigten Jesus. Aber was sie dann nie gefunden haben, ist der, der unsere Not und die Not der Welt in sich ertragen und verstanden hat.
Es wurde einmal an ein Sterbebett gerufen, und bis ich kam, war die Frau gestorben. Ich war sehr verbunden mit ihr und habe sie lange Zeit begleitet, aber man durfte ihr nicht sagen, dass sie unheilbar krank war. Ich wollte noch ein Gebet sprechen am Sterbebett, und das war ein Blick, den ich nie vergesse: Die junge Frau lag auf dem Bett, und neben ihr lag eine ganze Anzahl neuer Illustrierter.
Die Angehörigen entschuldigten sich und sagten, sie wollten sie doch vergessen lassen, dass es ums Sterben geht. Man versteht, dass junge Menschen auf den Bildern dieser Illustrierten eine Antwort sein sollen für einen Sterbenden. So lächerlich, wie es da wirkte, kann man es wohl kaum drastischer machen.
So suchen wir viele Auswege aus unserer Lebensnot. Wir suchen Antworten, wir suchen kurze Freuden, die uns ablenken. Wir suchen Zeitvertreib, statt dass wir den suchen, der uns in der Todverlorenheit unseres Lebens allein halten kann: Jesus, meinen Heiland, der mich zum Kind Gottes macht und der mir die Vergebung meiner Sünden zuspricht. Das ist allein der Gekreuzigte für mein Leben, an den ich mich halten kann, der mich allein tragen kann.
Christian Gregor hat dieses Lied gedichtet, das wir am Anfang gesungen haben:
Ach, mein Herr Jesu, wenn ich dich nicht hätte
und wenn dein Blut nicht für mich Sünder räte,
wo soll ich, Ärmster unter den Elenden,
mich sonst hinwenden?
Ich wüsste nicht, wo ich vor Jammer bliebe,
denn wo ein Herz wie deins vor Liebe.
Du, du bist meine Zuversicht alleine,
sonst weiß ich keine.
Nicht der herrliche Jesus, nicht ein Jesus, den wir aufbauschen, sondern der, der seine Herrlichkeit darin zeigt, dass er der allerverachtetste und unwerteste wird, voller Schmerzen und Krankheit.
Amen.