Einführung in das Thema Textkritik und persönliche Haltung
Gott wird Mensch – Leben und Lehre des Mannes, der Retter und Richter, Weg, Wahrheit und Leben ist.
Episode 440: Gedanken zur Textkritik.
Es tut mir leid, dass ich einige meiner Hörer mit meiner Haltung zu Johannes 7,53–8,11 überfordert habe. Als Prediger stehe ich bei offensichtlichen Hinzufügungen zum Bibeltext jedoch in einem Dilemma.
Ich möchte nicht, dass einfache Christen der Bibel misstrauen, durch die Gott täglich in ihr Leben spricht. Gleichzeitig möchte ich als Bibellehrer aber auch auf Probleme im Text aufmerksam machen dürfen, wenn mir das notwendig erscheint.
Vielleicht fragen sich jetzt einige Hörer, warum ich drei Episoden lang einen Text ausgelegt habe, von dem ich denke, dass er textkritisch betrachtet eigentlich nicht zur Bibel gehört. Wäre es nicht besser gewesen, wie zum Beispiel Andreas Köstenberger in seinem Kommentar zum Johannesevangelium, diesen Text einfach zu überspringen?
Die textkritische Problematik der Perikope von Johannes 7,53–8,11
Soweit wir wissen, ist Johannes 7,53 bis 8,11 nicht historisch. Diese Passage fehlt in den uns bis zum fünften Jahrhundert vorliegenden Bibelausgaben. Auch in den frühen Übersetzungen, zum Beispiel ins Syrische oder Koptische, ist sie nicht enthalten.
Dort, wo der Text später auftaucht, fügen die Schreiber des Neuen Testaments oft ein Zeichen hinzu, um auf die Unsicherheit dieser Passage hinzuweisen. Wenn dieser Abschnitt also nicht historisch ist, hat Johannes ihn nicht verfasst und er ist somit auch nicht apostolisch.
Warum sollte man ihn dann predigen? Im Skript verlinke ich dazu einen ausgezeichneten Artikel auf Englisch, der die ganze Problematik gut beleuchtet.
Persönliche Begründung für die Predigt über einen umstrittenen Text
Also, warum ihn dann predigen? Meine persönliche Antwort ist folgende:
Der Text klingt authentisch. Es handelt sich um eine Episode, die gut zu dem Jesus passt, der uns in den Evangelien vorgestellt wird. Der Text wurde in der Kirchengeschichte vom Heiligen Geist benutzt.
Zudem enthält er weder eine Irrlehre noch gibt er Anlass zu merkwürdigen Praktiken. Das ist beispielsweise beim langen Markus-Schluss der Fall, der Christen dazu gebracht hat, im Gottesdienst mit giftigen Schlangen zu hantieren.
Der Text ist mir lieb und wertvoll. Ich kann ganz ehrlich sagen, ich mag ihn. Und ich kann mir vorstellen, dass er insofern authentisch ist, als dass die beschriebene Episode wirklich passiert ist.
Johannes selbst schreibt am Ende seines Evangeliums ja auch davon, dass Jesus noch viel mehr getan hat als das, was aufgeschrieben wurde. Unter den frühen Christen wurden zudem Aussprüche Jesu weitergegeben, die wir nicht aus den Evangelien kennen.
Beispiele für überlieferte, aber nicht kanonisierte Aussprüche Jesu
Das wissen wir aus der Apostelgeschichte, wo Paulus sagt: „Ich habe euch in allem gezeigt, dass man so arbeitend sich der Schwachen annehmen und an die Worte des Herrn Jesus denken müsse, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen“ (Apostelgeschichte 20,35).
Interessant ist, dass dieser Ausspruch Jesu – „Geben ist seliger als nehmen“ – in den Evangelien nicht überliefert ist. Es handelt sich also um einen Ausspruch Jesu, den die frühe Kirche weitergegeben hat. Dieser war Paulus bekannt, fand aber keinen Eingang in den Text der Evangelien.
In ähnlicher Weise denke ich, dass es sich bei der Perikope von der Ehebrecherin ebenfalls um eine solche Überlieferung handeln könnte. Eine Überlieferung, die es zwar nicht in den ursprünglichen Text der Evangelien geschafft hat, aber dennoch nicht vergessen wurde.
Offenheit und Transparenz im Umgang mit Textkritik
Also warum predige ich den Text? Weil ich ihn mag. Es ist eine Bauchentscheidung.
Wenn jemand diese Entscheidung für etwas schwierig hält, weil man ja nicht predigen darf, was nicht eindeutig Gottes Wort ist, dann ist das verständlich. Deshalb produziere ich ja auch diese Episode, um mein Denken transparent zu machen.
Noch ein Satz zum Thema Textkritik: Bei der Entscheidung, welche Texte von Anfang an in der Bibel standen und wo eventuell Texte hinzugekommen sind, arbeitet man textkritisch.
Jetzt wird es wichtig: Auch wenn im Ausdruck „Textkritik“ das Wort „Kritik“ steckt, handelt es sich dabei tatsächlich nur um ein wissenschaftliches Verfahren zur Untersuchung von Handschriften. Es ist ein wissenschaftliches Verfahren, um den ursprünglichen Text zu rekonstruieren.
Es geht also nicht darum, Kritik an der Bibel zu üben, sondern darum, aus der Fülle von Abschriften und Übersetzungen, die uns vorliegen, den Originaltext so genau wie möglich wiederherzustellen.
Das ist eine wichtige Sache, weil Menschen Fehler machen – nicht unbedingt bewusst, aber es passiert eben.
Die Bedeutung der Textkritik für die Verlässlichkeit der Bibel
Ich bin deshalb ein großer Freund dieser Form des wissenschaftlichen Arbeitens, weil mir gute Textkritik garantiert, dass ich tatsächlich nach zweitausend Jahren einen absolut verlässlichen Bibeltext in Händen halte. Und zwar nicht, weil ein Konzil seinen Inhalt kanonisiert hat, und auch nicht, weil willkürlich ein bestimmter Text aus dem Mittelalter zur göttlichen Norm erhoben wird, sondern weil Menschen recherchiert und rekonstruiert haben.
Wenn jemand zu mir kommt und sagt: „Jürgen, da gibt es ein paar Stellen in der Bibel, da weiß man nicht, ob sie im Original standen“, dann kann ich nur sagen: Ja, das weiß ich. Lass uns alle 25 relevanten Stellen durchgehen, ich habe da eine Liste.
Und wisst ihr was? Wenn man das macht, also die 25 Stellen durchgeht, dann stellt man fest, dass keine dieser Stellen – egal, ob wir sie in der Bibel drinlassen oder ob wir sie rausnehmen – in puncto Evangelium, Jesus oder Gottesbild irgendeinen Unterschied macht.
Der Heilige Geist wusste schon, wie man ein Buch schreibt, das resistent ist gegen menschliche Nachlässigkeit und Dummheit. Für den Inhalt der Bibel machen die umstrittenen Stellen keinen Unterschied. Aber es macht für mich einen Unterschied, dass ich weiß, welche Stellen umstritten sind.
Intellektuelle Redlichkeit und der Dialog mit Nichtchristen
Und das hat für mich vor allem mit intellektueller Redlichkeit zu tun. Ich unterhalte mich nämlich mit Nichtchristen, und wenn ich ihnen sage, dass die Bibel zuverlässig ist, dann muss das auch stimmen. Deshalb möchte ich genau wissen, worüber ich rede. Die Textkritik als wissenschaftliches Verfahren garantiert mir genau das: die Authentizität des Bibeltextes, der für mich Gottes Wort ist.
Wenn ich mich hinstelle und davon rede, dass über neunundneunzig Prozent des neutestamentlichen Bibeltextes klar sind, dann weiß ich, wovon ich spreche. Ich kenne die wenigen Stellen, die im Lauf der Zeit hinzugekommen sind.
Ich akzeptiere, dass einfache Abschreibfehler passieren können, dass sich ein Schreiber beim Diktat verhört, dass schwierige Formulierungen vereinfacht werden, dass liturgische Formulierungen hinzugefügt wurden oder Randnotizen von späteren Schreibern als Teil des Textes interpretiert wurden.
Ich akzeptiere, dass Menschen Fehler machen. Es ist die Aufgabe eines wissenschaftlichen Vergleichs der uns zur Verfügung stehenden Handschriften, genau diese Fehler zu finden.
Empfehlung und Abschluss
Vielleicht noch ein Lesetipp: Wenn euch das Thema der Bibeltexte interessiert, kann ich euch das leicht zu lesende Buch Pergamente und Papyri von Hans Johann Sagrusten empfehlen.
Es ist, wie ich finde, ein spannender Einstieg in die Entstehung des Bibeltextes, so wie wir ihn heute vorliegen haben.
Was könntest du jetzt tun? Du könntest dir überlegen, ob du meinen Lesetipp lesen möchtest und das Buch bestellst.
Das war's für heute.
Mein Tipp fürs Leben: Lern Englisch. Ich habe, als ich dreißig war, noch einmal damit angefangen, und das war goldrichtig.
Der Herr segne dich, erfahre seine Gnade und lebe in seinem Frieden! Amen.