Die Handschrift Gottes

Konrad Eißler
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Wer Gott kennen will, muss seine Handschrift kennen. Unser Gott, der sieht, der hört, der spricht, der läuft, der schreibt auch, und zwar plötzlich, verschlüsselt und persönlich. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


“Ein handgeschriebener Lebenslauf ist den Bewerbungsunterlagen beizufügen.” So lesen es viele, die sich um eine Stelle bewerben. Warum handgeschrieben, liebe Gemeinde? Maschinengeschrieben, mit elektrischer Schreibmaschine getippt, wäre doch lesbarer, oder computergeschrieben, mit Tintenstrahldrucker ausgedruckt, wäre doch eindrücklicher, oder gar kunstgeschrieben, mit kalligraphischen Federn hingemalt, wäre doch überzeugender - aber handgeschrieben, kuligeschrieben, tintegeschrieben, verwackelt, verbessert, verkleckst? Warum ist ein handgeschriebener Lebenslauf verlangt?

Doch einfach deshalb, weil die Handschrift einen Menschen zeigt, wie er wirklich ist. Ein Foto kann mit ein paar Strichen retuschiert werden. Ein Gesicht kann mit ein bisschen Kosmetik geschminkt werden. Eine Schwäche kann mit wenigen Worten überspielt werden. Eine Handschrift jedoch offenbart das eigentliche Wesen: großzügig oder kleinkariert, liebevoll oder herrschsüchtig, ausgeglichen oder unberechenbar. Wer Menschen kennen will, muss ihre Handschrift kennen. Wer Menschen verstehen will, muss ihre Handschrift verstehen. Wer Menschen entziffern will, muss ihre Handschrift entziffern.

Und das gilt auch für Gott. Ein paar theologische Bücher im Schrank helfen nicht viel. Ein paar fromme Gefühle in der Brust bringen nicht viel. Ein paar religiöse Erinnerungen im Gedächtnis führen nicht weiter. Wir brauchen ein paar Augen im Kopf für die Schriftzüge dieses Herrn. Wer ihn kennen will, muss seine Handschrift kennen. Wer ihn verstehen will, muss seine Handschrift verstehen. Wer ihn entziffern will, muss seine Handschrift entziffern.

Aber, das ist die Frage, hat denn Gott eine Handschrift?

Dass der Tod eine hat, wissen wir. Jeden Morgen, wenn wir die Zeitung aufschlagen und die Todesanzeigen überfliegen, ist die schwarze Schrift des Todes unübersehbar. Der Tod schreibt eine schreckliche Handschrift. Und dass die Krankheit eine hat, wissen wir auch. Jeden Abend, wenn die Schmerzen kommen und eine lange Nacht bevorsteht, ist die kalte Schrift der Krankheit unübersehbar. Die Krankheit schreibt eine furchtbare Handschrift. Und dass das Leid eine hat, wissen wir erst recht. Jeden Tag, wenn wir von Not und Elend gezeichnet werden, ist die böse Schrift des Leids unübersehbar. Das Leid schreibt eine seelenlose Handschrift.

Aber schreibt Gott per Hand? Greift Gott zur Feder? Hat Gott eine Handschrift?

Kapitel 5 des Danielbuches gibt eindeutige Antwort. Den Partygästen in Babylon gingen die Augen auf. Die Gipswand des Ballsaales wurde zur Wandtafel des Himmels. Keiner konnte es mehr übersehen. Gott schreibt. Ihm macht kein Tremor zu schaffen. Gott schreibt. Ihm fällt kein Griffel aus der Hand. Gott schreibt. Ihm stehen alle Schreibgeräte zur Verfügung. Dieser unser Gott, der sieht, der hört, der spricht, der läuft, der schreibt auch, und zwar plötzlich, verschlüsselt und persönlich. Dies wird in unserem biblischen Text näher erklärt.

1. Gott schreibt plötzlich

Lange kann er schweigen. Lange Zeit kann er nichts von sich hören lassen. Fast eine Ewigkeit kann er die Leute sich selber überlassen, so wie in Babel. Dort wurde dem Gott Israels seine Ohnmacht bescheinigt und dem Volk Israel die Allmacht der Gottkönige demonstriert. Deshalb bauten sie eine riesige Mauer, 92 km lang, einen riesigen Garten, drei Quadratkilometer groß, einen riesigen Tempel, acht Stockwerke hoch, und, das war die Bauleistung Belsazars, jenem letzten und degenerierten Königsspross, eine riesige Kneipe mit 1000 Plätzen. Dort wollte er sich als glänzender König präsentieren und sich als höchster Gott inthronisieren. Deshalb wurde die Hautevolee des Landes eingeladen. Deshalb wurde das Beste aus Küche und Keller aufgetischt. Deshalb wurde das große Fass aufgemacht. Und deshalb ließ er sich noch einen tollen Gag einfallen, eine besondere Nummer, eine einmalige Überraschung, die sie nie wieder vergessen sollten. Die heiligen Kelche, die sein Vater als Kriegsbeute aus dem Jerusalemer Tempel mitgebracht hatte, wurden hereingebracht und randvoll gemacht.

“Und der König ergreift mit Frevlers Hand,
einen heiligen Becher, gefüllt bis zum Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
und ruft laut mit schäumendem Mund:
Jahwe, dir künd ich auf ewig Hohn,
ich bin der König von Babylon.”

So dichtete Heinrich Heine. Und plötzlich griff Gott ein. Plötzlich griff Gott zu. Plötzlich griff Gott zur Feder und ließ eine Nummer steigen, die wahrlich nicht im Festprogramm vorgesehen war. An der Wand, dem König gegenüber, tauchten Zeichen auf: “Mene mene tekel ufarsin.”

Zeichen tauchen immer auf. Matthäus spricht von den Zeichen der Zeit. Der Gott, der so oft im Dunkeln bleibt, setzt helle Zeichen. Zugegeben, diese Zeichen haben nicht immer einen so geisterhaft-dramatischen Charakter wie damals bei der feucht-fröhlichen Kingsparty in Babel. Denn Gott schreibt nicht nur auf verputzten Wänden. Er kann auch auf asphaltierten Straßen schreiben, wenn uns ein Verkehrsunfall aus dem Rhythmus des Alltags reißt. Er kann auf bedrucktem Papier schreiben, wenn eine Traueranzeige den Tod eines lieben Menschen meldet. Er kann auf einem ausgefüllten Krankenschein schreiben, wenn eine Krankheit alle Pläne zunichtemacht. Es gibt überhaupt kein Material, auf das er nicht schreiben könnte.

Gewiss, man kann alles hinterfragen und zu erklären versuchen. Wenn Belsazar im Jahre ‘95 gelebt hätte, dann wäre eine Expertenkommission zusammengetreten, die dem Hausherrn in einem Gutachten bescheinigt hätte, dass die schriftähnlichen Risse in der Wand von einem Düsenknall herrührten. Er solle möglichst rasch die Tiefflugschneise über der Bierschwemme sperren lassen, um weiteren Schaden abzuwenden. Wir haben erstaunliche Fähigkeiten, die Warnzeichen Gottes zu entschärfen: Ein Aquaplaning verursachte den Verkehrsunfall, ein schwaches Herz führte zum Tod, eine schlichte Erkältung löste die Krankheit aus.

Die Bibel aber sagt: Er hat seine Hand im Spiel. Er ruft sich in Erinnerung. Er setzt die Zeichen. Gott schreibt plötzlich, aber:

2. Gott schreibt verschlüsselt

Der König war weiß wie die Wand. Den Herrschaften gefror das Lachen auf den Lippen. Todesangst schlich durch die Reihen. Selbst die schnell herbeizitierten Hofgelehrten mussten passen. Handschriftexperten standen vor verschlossenen Runen. Alle Spezialisten waren am Ende mit ihrem Latein.

“Die Magier kamen, doch keiner verstand
zu deuten die Flammenschrift an der Wand.”

Die hochgepriesene Weisheit der Babylonier erwies sich als Flop. Aber bevor die Tür endgültig in Belsazars Prunkschwemme ins Schloss fiel, ging sie noch einmal auf. Daniel erschien, der Gefangene aus Juda, der Musterschüler am Hof, der Staatssekretär in der Regierung. Und er entschlüsselte. “Mene” heißt: Gott hat gezählt. “Tekel” heißt: Gott hat gewogen. “Ufarsin” heißt: Gott hat dich zu leicht befunden und deshalb dein Reich zersägt. Er schaut nicht ewig zu. Er lässt sich nicht ungestraft verhöhnen. Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten.

Hatte Daniel Linguistik studiert? Hatte Daniel graphologische Studien betrieben? Hatte Daniel gar okkulte Beziehungen? “Er hat den Geist des heiligen Gottes”, sagte die Königinmutter. Er hatte die Gabe von oben. Er besaß die Begabung vom Himmel. Er kannte die Hand Gottes und konnte deshalb seine Handschrift lesen.

Liebe Gemeinde, die Zeichen der Zeit, die Gott in unsere Welt und in unser Leben schreibt, sind nicht ohne weiteres lesbar. Ein kluger Kopf reicht nicht aus, um sie zu entziffern. Es braucht den Heiligen Geist, um die Menetekel Ihres Lebens als Signale Gottes zu erkennen. Schauen Sie nach Golgatha. Dort hat Gott mit den hellsten Leuchtbuchstaben geschrieben. Die grelle Plakatschrift “ecce homo” an der Spitze des Holzes stach allen Herumstehenden in die Augen. Aber der eine sagte: “Das ist ein Revoluzzer.” Der andere sagte: “Das ist ein Hochstapler.” Der dritte sagte: “Das ist ein Verbrecher.” Nur einer, der Hauptmann des römischen Hinrichtungskommandos wusste es: “Das ist Gottes Sohn gewesen.”

Der Heilige Geist ist der Sprachschlüssel für Gottes Wort. Ohne ihn verwechseln wir seine Schriftzeichen mit zufälligen und erklärbaren Vorkommnissen. Aber mit ihm werden auf einmal Ereignisse, die ganz plötzlich in unser Leben hereinplatzen, zu Anreden Gottes. Mitten in der verhauenen Arbeit, mitten in der zerbrochenen Freundschaft, mitten in den elenden Schmerzen, mitten in der tiefsten Depression, da mittendrin blitzt es auf. Er hat mich nicht abgeschrieben. Er schreibt mich an. Er gibt es mir handschriftlich: “Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er umkehre und lebe.”

Gott schreibt verschlüsselt, aber:

3. Gott schreibt persönlich

Er hat seine Botschaft nicht in die Sterne gesetzt, sondern an die Saalwand geschrieben. Und keine Donnerstimme vom Himmel hat sie entziffert, sondern die Predigt eines frommen Menschen: “Mein König”, sagt Daniel: “Gott, der Höchste hat deinem Vater Königreich, Macht, Ehre und Herrlichkeit gegeben.”

Damit ist sofort das Zentralthema angegeben, auf das jedes Zeichen hinweisen will: Gott hat gegeben. Er schuf Himmel und Erde, damit hat uns Gott einen Wohn- und Schlafplatz gegeben. Er blies dem Menschen den Odem ein, damit hat uns Gott ein kostbares Leben gegeben. Er kommandierte Himmelswesen als Schutzengel ab, damit hat uns Gott einen sicheren Personenschutz gegeben. Er gebot den Geistern und Mächten Paroli, damit hat uns Gott eine feste Zuversicht gegeben. Er zeigte einen neuen Himmel und eine neue Erde, damit hat uns Gott eine große Hoffnung gegeben. Und noch viel mehr. Er schickte seinen einzigen Sohn, damit hat uns Gott Vergebung und Freude gegeben. “Sehet, was hat Gott gegeben, seinen Sohn zum ewigen Leben.”

Gibt es überhaupt etwas, was er uns nicht gegeben hat, was er uns nicht gibt, was er uns nicht geben will? Daran werden wir erinnert. Darauf sollen wir gestoßen werden. Dorthin sollen wir umkehren.

Belsazar wollte das nicht. Belsazar wollte es billiger haben. Belsazar wollte nur erschrecken, nicht umkehren. Deshalb wurde Belsazar in derselbigen Nacht von seinen Knechten umgebracht.

Das muss nicht unser Ende sein. Unser Leben darf anders auslaufen. Die Zeichen stehen auf Hoffnung. Der Ballsaal des kleinen Herrschers wird zum Thronsaal des großen Königs. Nicht der Adel und die Militärs und die Diplomaten sind eingeladen, sondern die Krüppel und Lahmen und Blinden. Nicht die gestohlenen Becher werden zum Wohl der Götter herumgereicht, sondern der gesegnete Kelch zur Vergebung der Sünden macht die Runde. Nicht das Herrschaftsmahl wird zelebriert, sondern das Abendmahl gefeiert. Das letzte, große Fest ist im Gange. Der Hausherr feiert in großer Runde. Jeder leere Stuhl ist ihm ein Schmerz. Alle sollen dabei sein. Deshalb lädt er ein. Deshalb greift er zur Feder. Deshalb schreibt er Ihnen persönlich.

Konnten Sie es entziffern in Ihrem Leid des Todes, in Ihrem Schmerz der Krankheit, in Ihrem Schreck des Unglücks, in Ihrem Schock des Versagens? Verstehen Sie doch: Gott lädt Sie ein zu seinem Fest.

Amen.