Unser Thema heute Abend lautet: Ist Selbstliebe biblisch?
Vielleicht können einige mit diesem Thema gar nichts anfangen und denken, es gäbe wichtigere Dinge, die wir in der Bibel betrachten könnten. Doch ich glaube, dass es sinnvoll ist, auch einmal einen Abend diesem Thema zu widmen. Es hat eine gewisse Aktualität und betrifft jeden von uns persönlich.
Wir wollen uns dabei nicht nur gegen eine bestimmte Richtung absichern, die Selbstliebe vertritt. Vielmehr möchten wir uns selbst hinterfragen: Wie steht es eigentlich bei uns? Sind wir mehr von Selbstliebe geprägt oder von Christusliebe und Nächstenliebe? Diese Begriffe spielen in unserer Betrachtung ebenfalls eine wichtige Rolle.
Die Verbreitung der Selbstliebe-Ideologie im christlichen Raum
In den letzten Jahren sind auf dem evangelikalen Büchermarkt immer mehr Bücher erschienen, in denen selbst Liebe und Selbstannahme als grundlegende christliche Tugenden dargestellt werden. Manche dieser Autoren behaupten sogar, dass Selbstliebe die Voraussetzung sei, um Gott und den Nächsten lieben zu können.
Inzwischen haben diese Gedanken das Bewusstsein vieler Christen bereits vollständig durchdrungen. Wie sonst ist es zu erklären, dass die Selbstliebe-Ideologie auf großen Kongressen, Konferenzen und Jugendtreffen vor Tausenden von Menschen verkündet wird, ohne dass auch nur eine Person aufsteht und widerspricht?
Wenn jemand widerspricht, erhält er oft die Antwort: „Ja, aber es steht doch in der Bibel, dass man erst sich selbst lieben muss, um den Nächsten lieben zu können.“ Dann wird der Satz zitiert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Wir wollen nun die Frage stellen: Ist es wirklich so? Ist Selbstliebe biblisch? Ist Selbstliebe vielleicht sogar ein Gebot des Herrn? Oder wird hier etwas in die Bibel hineininterpretiert, was sie gar nicht sagen will? Handelt es sich am Ende gar um eine Unterwanderung durch die humanistische Psychologie?
Zu diesem Thema wollen wir die Schrift befragen. Bevor wir dies tun, möchte ich in einem ersten Gedankengang kurz skizzieren, woher die Theorie der Selbstliebe eigentlich stammt und wie sie sich entwickelt hat.
Ursprung und Entwicklung der Theorie der Selbstliebe
Also, zunächst zur Theorie der Selbstliebe. Diese Theorie hat erst in unserem Jahrhundert ihren vollen Durchbruch erlebt. Grundlage dafür war die jahrtausendealte Lehre des Humanismus und vor allem die am Ende des letzten Jahrhunderts entstandene neue sogenannte Wissenschaft der Psychologie.
1956 veröffentlichte der amerikanische Psychologe deutscher Herkunft Erich Fromm sein Hauptwerk „Die Kunst des Liebens“. Fromm war ein Schüler Sigmund Freuds und wurde später zum Wortführer der Neopsychoanalyse. In seinem Buch formulierte Fromm als einer der Ersten die Theorie, dass ein Mensch zuerst sich selbst lieben muss, um andere lieben zu können.
Ich gebe eine Kostprobe aus Fromms Gedanken, die aber gar nicht so „fromm“ sind. Fromm schreibt zum Beispiel: „Die heutige Kultur ist von einem Tabu verseucht, nämlich dem Tabu, egoistisch zu sein.“ Mit anderen Worten: Man darf nicht egoistisch sein. Uns wird beigebracht, dass es Sünde ist, sich selbst zu lieben, und eine Tugend, andere zu lieben. Fromm sieht das negativ, dass uns das so beigebracht wird.
Vielleicht ist in diesem Zusammenhang noch erwähnenswert, welches Gottesbild bei Erich Fromm vorlag. Er äußerte sich dahingehend, dass er den Gott der Bibel als einen grausamen Diktator ansah, der unter anderem Abel dazu getrieben hätte, seinen Bruder zu ermorden – Kommentar überflüssig.
Fromm war also der Erste, der diese Gedanken so klar formulierte und mit brillanten Gedankengängen in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ (The Art of Loving), das 1956 erschien, entfaltet hat.
Andere Psychologen griffen dieses Thema auf und arbeiteten es weiter aus, vor allem die beiden amerikanischen humanistischen Psychologen Carl Rogers und Abraham Maslow. Es dauerte nicht lange, bis die Gedanken von Selbstannahme und Selbstliebe auch im christlichen Gewand auftauchten. Bis dahin war das Thema vor allem im säkularen, weltlichen Bereich der Psychologie verankert. Im christlichen Kontext kam es mit einer gewissen Zeitverzögerung.
In den USA spielte der berühmte Fernsehprediger Robert Schuller eine gewisse Vorreiterrolle. Sein Buch „Self Esteem – The New Reformation“ (Selbstachtung – die neue Reformation) löste tatsächlich eine Reformation aus, allerdings leider keine positive.
Ich zitiere Bob Schuller, den man auch auf einer Folie betrachten könnte. Er sagt: „Gott möchte, dass wir alle gut über uns denken. Wiedergeboren zu werden bedeutet, dass wir von einem negativen Bild über uns selbst zu einem positiven verändert werden.“
Das erinnert an Doktor Murphy. Schuller behauptet weiter, dass Luther und Calvin sich in ihrer Theologie geirrt hätten, indem sie Gott und nicht den Menschen zum Zentrum ihrer Theologie gemacht hätten. Das sind harte Sätze. Schuller ist ein Evangelikaler in den USA, der auch heute noch sonntags in seiner Kristallkathedrale in Kalifornien mehr als zehntausend Menschen zu seinen Predigten anzieht. Diese werden zudem in einigen Fernsehkanälen und im Radio übertragen.
Übrigens ist Bob Schuller der geistliche Vater von Bill Hybels – so sieht man ungefähr die Linie, wie sich das dort weiterentwickelt hat.
Weitere amerikanische Autoren griffen das Thema Selbstliebe auf und machten es in christlichen Kreisen populär. Einige bekannte Namen sind James Dobson, Bruce Naramore, Charles Swindoll, Norman Wright und auch Josh McDowell. Letzterer hat sehr gute Bücher über die Bibel und Jesus Christus geschrieben, doch leider hat auch er diese Theorie angenommen.
In Deutschland gibt es ebenfalls eine Reihe bekannter Autoren, die diese Sicht übernommen haben. Der bekannteste ist Walter Trobisch, aber auch Professor Michael Dieterich und Doktor Hori sind wohl die bekanntesten deutschen Autoren.
Gerade bei uns in Deutschland erschien 1975 das kleine Büchlein von Walter Trobisch mit dem vielsagenden Titel „Liebe dich selbst“. Elf Jahre später, 1986, hatte es bereits die sechzehnte Auflage erreicht – das schaffen nicht viele Bücher. Ich weiß nicht, wie viele Exemplare heute davon vertrieben werden.
Das Buch beginnt mit einem üblen Zitat aus Hermann Hesses destruktivem Buch „Steppenwolf“ und entfaltet dann völlig unverblümt die Selbstliebe-Ideologie von Erich Fromm. Es ist also offensichtlich, dass Walter Trobisch hier bei Fromm Anleihe genommen hat.
Im zweiten Kapitel schreibt Trobisch über die Quelle seiner Gedanken. Er sagt: „Die Bibel nimmt die Erkenntnis der Tiefenpsychologie vorweg, dass es keine Nächstenliebe ohne Selbstliebe gibt.“
Er meint also, das sei zwar schon in der Bibel enthalten, aber die Tiefenpsychologie habe es nun richtig entdeckt und offenbar gemacht, dass es ohne Selbstliebe keine Nächstenliebe gibt.
Man merkt hier, wie Trobisch offenbar die Bibel durch die tiefenpsychologische Brille von Freud und Fromm liest. Das machen leider viele Psychologen: Sie färben ihre Sicht durch bestimmte psychologische Richtungen und lesen dann so die Bibel.
Trobisch fährt auf Seite 14 seines Büchleins fort: „Jedenfalls enthält für mich das Liebesgebot Jesu nicht nur einen Imperativ, einen Befehl, und einen Indikativ, eine Aussageform – also ein Befehl: ‚Liebe deine Nächsten‘ – und eine feststehende Aussage: ‚Du liebst ja auch dich selbst‘ –, sondern das Liebesgebot Jesu enthält für mich auch einen zweiten Befehl: ‚Liebe dich selbst‘.“
Also sagt er: „Liebe deine Nächsten“ ist das erste Gebot, „wie dich selbst“ das zweite Gebot, „Liebe dich selbst“ oder moderner ausgedrückt: Nimm dich selber an. Nur wer sich selbst annimmt, kann den anderen annehmen; nur wer sich selbst liebt, kann den anderen lieben.
Übrigens betreuten wir damals in unserer Karlsruher Zeit ein junges Mädchen, das psychisch nicht stabil war. Eines Tages kam sie in das recht frisch eingerichtete Seelsorgezentrum des EC in Kassel.
Das erste Buch, das sie dort ausgehändigt bekam und als Pflichtlektüre lesen musste, war „Liebe dich selbst“ von Walter Trobisch. Meine Proteste halfen nichts. Ich habe mich mit dem Leiter dieses Zentrums angelegt, der auch noch ein entfernter Verwandter von mir ist, aber es half nichts. Er blieb dabei.
Sie verwenden wahrscheinlich auch heute noch dort dieses Büchlein, das ich schlichtweg für eine Katastrophe halte.
Ich erspare mir jetzt, alle deutschen christlichen Autoren aufzuzählen, die das Gedankengut der Selbstliebe verbreiten. Einige habe ich bereits genannt. Es wäre einfacher, die wenigen zu nennen, die sich bisher noch weigern, von der Selbstliebe im positiven Sinn zu sprechen.
Die Konsequenzen der Selbstliebe-Ideologie
Das Ergebnis dieser Entwicklung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Nach den heutigen Ansichten ist es nicht mehr das Hauptproblem des Menschen, dass er Gott nicht verherrlicht. Wie wir gesungen haben: „Herr, mein ganzes Leben soll dir Ehre geben.“ Dieses Problem steht heute nicht mehr im Vordergrund.
Vielmehr besteht das Hauptproblem darin, dass der Mensch sich selbst nicht genügend achtet und sich selbst nicht liebt. Das ist heute das zentrale Problem des Menschen – des psychologischen Menschen, wie er durch bestimmte Theorien der Psychologie umfunktioniert wird.
Deshalb haben wir heute weitgehend ein Evangelium der Selbstsucht. Dieses überschüttet uns lange Zeit mit Selbstbestätigung und bläht uns psychotherapeutisch auf, bis wir eines Tages in der Selbstanbetung enden.
Diese Prognose mag etwas düster erscheinen, doch die Entwicklung verläuft ganz sicher in diese Richtung.
Selbstliebe im biblischen Licht
Kommen wir zu einem zweiten Leitgedanken heute Abend: Selbstliebe im biblischen Licht. Zunächst müssen wir die Frage stellen: Ist Selbstliebe wirklich ein Befehl des Herrn, ein göttliches Gebot?
Wir schlagen dazu Matthäus Kapitel 22 auf und lesen die Verse 34-40:
 Matthäus 22,34-40:
Als aber die Pharisäer hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich miteinander. Einer von ihnen, ein Gesetzesgelehrter, versuchte ihn und fragte:
„Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz?“
Er aber sprach zu ihm:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“
Mit „Gesetz und Propheten“ ist das Alte Testament gemeint.
Wir merken: Auf die Frage, was das größte Gebot ist, zitiert unser Herr zuerst einen Vers aus 5. Mose („Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben“) und dann einen Vers aus 3. Mose 19 („Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“).
Gerade dieser Satz „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ wird mehrmals im Neuen Testament an zentraler Stelle zitiert. Hier in Matthäus, aber auch in Markus 12,31, in Lukas 10,27 – in dem Bericht vom barmherzigen Samariter, der den unter die Räuber gefallenen Mann versorgte –, in Römer 13,9, in Galater 5,14 und in Jakobus 2,18.
Das sind alles sehr wichtige Stellen, in denen diese Aussage aus dem Alten Testament zitiert wird: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Warum Selbstliebe kein biblischer Befehl ist
Aber jetzt die Frage: Warum ist Jesu Aussage kein Befehl zur Selbstliebe?
Wir sehen hier auf der Folie vier Gründe, warum das kein Befehl sein kann.
Erstens: Es ist grammatisch unmöglich. Hier steht kein Befehl, sondern ein Vergleich. Jesus sagt: „Du sollst deine Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das ist ein Vergleich. Er sagt nicht: „Liebe dich selbst.“
Zweitens: Es ist sprachlich unmöglich. Im griechischen Text steht das Wort Agape, also eine Verbform von Agape. Wir wissen alle, dass Agape die sich aufopfernde Liebe ist. Diese wird hauptsächlich für die Liebe Gottes zu uns verwendet, wie Gott sich für uns geopfert hat. Aber sie kann auch im Zwischenmenschlichen gebraucht werden, wenn sich zum Beispiel der Ehemann für die Ehefrau aufopfert, die Ehefrau für den Ehemann, Eltern für ihre Kinder oder andere füreinander. Agape ist die aufopfernde Liebe, und diese wird im Neuen Testament nie auf sich selbst bezogen. Man kann sich nicht für sich selbst aufopfern – das geht nicht. Agape wird in diesem Sinn niemals auf sich selbst bezogen.
Drittens: Es ist theologisch unmöglich. Die Bibel nennt Selbstliebe Sünde und niemals etwas Erstrebenswertes. In 2. Timotheus 3 beschreibt Paulus den Menschen der letzten Tage, wie er sich immer mehr entwickelt. Ein Kennzeichen wird genannt: Er wird selbstliebend sein. Im Griechischen heißt das philautoi, zusammengesetzt aus „autos“ (selbst) und „phil“ (Liebe). Hier steht nicht Agape, sondern Philia, eine andere, schwächere Form von Liebe. So werden die Menschen sein: Sie werden sich selbst lieben. Deshalb wird in diesem Zusammenhang Selbstliebe negativ gebraucht, aber niemals positiv in der Bibel.
Viertens: Es ist numerisch unmöglich. Jesus sagt, an diesen zwei Geboten hängt das Alte Testament. Er sagt nicht an drei Geboten: „Du sollst Gott lieben, du sollst den Nächsten lieben, du sollst dich selbst lieben.“ Das sagt er nicht. Er nennt die Gebote: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben; dies ist das größte und erste Gebot“ (Vers 38). „Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben.“ Er spricht nicht von einem dritten Gebot, sondern sagt, an diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz.
Da muss man genau hinsehen. Man kann nicht einfach von einem dritten Gebot reden und aus einem Vergleich einen Buchtitel machen: „Liebe dich selbst“, was überhaupt nicht dasteht.
Unterschiedliche Menschenbilder im Vergleich
Erich Fromm und Walter Trobisch behaupten, dass bei keinem Menschen die Selbstliebe angeboren sei. Das bedeutet, niemand besitzt von Geburt an Selbstliebe; sie muss erst im Laufe des Lebens erlernt werden. Um diese Sichtweise zu belegen, zitiert Trobisch den Psychotherapeuten Dr. Guido Kröger.
Kröger schreibt, es scheine die Anschauung vorzuherrschen, als sei es selbstverständlich, dass jeder Mensch sich selbst liebt und es lediglich darauf ankomme, ihn ständig dazu anzuhalten, andere zu lieben. Der Tiefenpsychologe stellt jedoch fest, dass es keine angeborene Selbstliebe gibt. Sie wird erworben oder nicht. Wer sie nicht oder nur ungenügend erwirkt, ist auch nicht oder nur ungenügend fähig, andere oder Gott zu lieben.
Diese Aussage wird hier einfach so in den Raum gestellt: Keiner kommt mit angeborener Selbstliebe zur Welt. Sie muss erst erlernt und eingeübt werden.
Hier stellt sich die Frage, ob wir diesem Bild des Menschen, diesem humanistischen Menschenbild, Glauben schenken wollen, wie es zum Beispiel Dr. Kröger entfaltet, oder ob wir dem biblischen Menschenbild folgen. Denn da liegen Welten dazwischen; das ist wirklich diametral entgegengesetzt.
Auf der nächsten Folie habe ich versucht, die humanistische Sicht des Menschen zusammenzufassen: Der Mensch ist ein Produkt der Evolution. Er hat einen guten Kern in sich – das haben schon die alten Griechen wie Plato und Sokrates gesagt. Die Umwelt macht ihn schlecht, also Erziehung, Religion, Gesellschaft und Ähnliches. Dennoch kann er das Gute in sich entfalten und entwickeln. Das ist die humanistische Sicht des Menschen.
So haben auch Erasmus von Rotterdam, Goethe und viele andere gedacht, die ich hier nicht alle aufzählen kann. Das ist die humanistische Sicht des Menschen.
Die biblische Sicht des Menschen nach dem Fall sieht anders aus. Die Bibel sagt, der Mensch sei tot in Sünden und Übertretungen (Epheser 2,1). Jesus schildert den verlorenen Sohn: Der Sohn kehrt zurück, nachdem er lange Zeit bei den Schweinen war. Dann sagt der Vater: „Dieser mein Sohn war schwer verletzt, aber jetzt ist er wieder gesund geworden.“ Doch wie sagt der Vater weiter? „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden.“
Das ist das biblische Menschenbild: Der Mensch nach dem Fall ist tot in Sünden und Übertretungen, geistlich tot, ohne Beziehung zu Gott. Deshalb ist er unfähig, Gott zu suchen und Gutes zu tun, wie der Römerbrief in Kapitel 3 sagt. Wenn wir anfangen, Gott zu suchen, wirkt bereits der Heilige Geist in uns. Von uns aus würden wir Gott nicht suchen.
Der Mensch ist ein Rebell und Feind Gottes (Römer 5,10). Dort steht: „Wir waren Feinde.“ Der Mensch ist von Natur böse, verhasst und hasst andere (Titus 3). Er ist durch und durch egoistisch. Die Stelle, die wir eben gelesen haben, zeigt, dass der Mensch sich selbst liebt. Das Ego steht im Zentrum.
Man könnte nun einwenden, es gebe Menschen, die ein so gestörtes Verhältnis zu sich selbst haben, dass sie sich sogar selbst hassen, ihren Körper hassen und alles an sich hassen. Das gibt es vordergründig betrachtet. Phänomenologisch sieht es so aus, als würden diese Menschen sich hassen. Aber bei genauerer Untersuchung stellt man fest, dass es eine subtile Form von Selbstliebe ist. Es ist eine andere Spielart der Selbstliebe, oft eine Art, auf sich aufmerksam zu machen, und vieles mehr, was hier nicht näher entfaltet werden kann.
Der Mensch ist durch und durch nach dem Sündenfall böse, verkehrt und kann Gott nicht gefallen. Er ist einfach durch und durch ein Sünder. Das ist das biblische Bild des gefallenen Menschen.
Weil diese Lehre in den letzten Jahrzehnten immer weniger gepredigt wurde, stattdessen aber viel von Selbstachtung, Selbstliebe und Selbstannahme zu hören und zu lesen ist, gibt es heute zum Teil eigenartige Bekehrungen. Dabei entsteht der Eindruck, dass das Kreuz Jesu nicht wirklich seine Arbeit getan hat. Das alte Leben ist nicht wirklich in den Tod gegeben worden. Christus steht nicht wirklich im Zentrum eines Menschen, und neues göttliches Leben ist nicht wirklich in eine Seele eingeflossen.
Die Lehre der Schrift ist eindeutig und widerspricht jeder Idee von Selbstliebe. Da bleibt wirklich kein Raum, nicht einmal ein Millimeter, für diese Art von Selbstliebe, wie sie Erich Fromm, Walter Trobisch und andere propagieren.
Die biblische Haltung zu sich selbst
Dritter Gedankengang
Wir bleiben nicht bei diesem Negativen stehen, keine Sorge.
Wie sieht die biblische Haltung zu mir selbst aus? Lasst uns einen weiteren Vers in den Evangelien aufschlagen, und zwar Lukas 9, Verse 23 bis 24.
Im Lukas-Evangelium ist viel von Jüngerschaft die Rede. Wir haben das Lukas-Evangelium in unserem Hauskreis durchgenommen und dabei diese Stellen gelesen: Lukas 9,23-24.
Jesus sprach aber zu allen: „Wenn jemand mir nachkommen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz täglich auf und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten.“
Jesus sagt also: Wenn jemand mir nachkommen oder nachfolgen will, muss er sich selbst verleugnen. Jesus spricht hier von Selbstverleugnung. Was meint er damit?
Nach Jesu Worten ist das die erste Bedingung oder das erste Kennzeichen der Nachfolge. Wer nachfolgen will, muss bereit sein, sich selbst zu verleugnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass er sein Menschsein oder seine Persönlichkeit verleugnet, seine eigene Identität also irgendwie aufgibt. Nein, sich selbst verleugnen heißt vielmehr, die eigenen Interessen und Lebensvorstellungen zugunsten des Willens Gottes aufzugeben.
Es heißt, die eigenen Interessen und Lebensvorstellungen zugunsten des Willens Gottes aufzugeben und zu sagen: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Das ist Selbstverleugnung, diese Haltung.
Wenn wir grundsätzlich bereit sind zu sagen: Herr, ich will mein Leben in deine Hände geben, hier hast du eine Blankovollmacht über mein Leben, das ist meine Unterschrift auf einem weißen Blatt Papier – hier hast du das Verfügungsrecht über mein Leben –, dann bedeutet das: Nicht meine eigenen Interessen und Lebensvorstellungen, sondern ich will mein Leben nach deinem Willen führen. Nicht wie ich will, sondern wie du willst.
Das ist eine grundsätzliche Entscheidung, die wir in der Stunde unserer Bekehrung, unserer Hinkehr zu Gott, treffen können.
Aber jetzt sagt Jesus weiter: „Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz täglich auf und folge mir nach.“ Täglich.
Es ist also nicht nur dieses einmalige Erlebnis, durch das man ein für alle Mal verändert wird, sondern in der Haltung des Kreuzes und in der Lebensgemeinschaft mit Jesus gilt es, das täglich neu einzuüben: „Herr, nicht wie ich will, sondern wie du willst. Nicht meine eigenen Lebensvorstellungen, sondern ich möchte mein Leben nach deinem Willen leben.“
Als ich heute darüber nachdachte, wurde mir auch wichtig: Es geht nicht anders, als jeden Morgen neu zu sagen: „Herr Jesus, hier hast du mein Leben, ich gehöre doch dir, und auch dieser Tag soll dir gehören. Mein Herz soll dich lieben und mein Wille soll dir übergeben sein. Auch mein ganzes Tagewerk heute – führe und leite mich!“
Diese persönliche Hingabe an den Herrn, wenn sie jeden Morgen geschieht, wird sich in unserem Leben zeigen. Nicht als ein formaler Akt, sondern wirklich als eine Antwort auf das, was er für uns getan hat.
Wenn uns das jeden Morgen wieder neu groß wird, über der geöffneten Bibel, auf den Knien, wenn wir vor dem Herrn sind, dann können wir diese Übergabe, diese Hingabe unseres Lebens täglich neu vollziehen – aber auch täglich unser Kreuz aufnehmen.
Das ist darin eingeschlossen, indem wir immer wieder sagen: Nicht wie ich will, nicht meine eigenen Wünsche, Lebensvorstellungen und Interessen, sondern dein Wille und dein Reich sollen den Vorrang haben.
Auf diese Weise werden wir unser Leben wirklich retten, wie Jesus sagt, und das wahre, überfließende Leben wird sich bei uns ausprägen.
Jesus hat gesagt: „Ich bin gekommen, dass sie Leben und volles Genüge haben“ – oder: Leben im Überfluss haben. Und mit weniger sollten wir uns nicht zufrieden geben.
Ich glaube, dass wir uns oft mit weniger zufrieden geben – ich auch. Aber das ist nicht gut.
Er hat versprochen: Leben im Überfluss. Und das wollen wir uns erbitten, das wollen wir uns schenken lassen.
Wenn wir ihn mehr lieben als uns selbst und ihm erlauben, sein Leben durch uns zu leben, dann werden wir dabei ganz gewiss reich beschenkt werden.
Dabei werden wir nicht zu kurz kommen. Wir selbst werden Leben in wunderbarer Qualität haben, auch wenn wir durch manche Verzichte, Verluste und vielleicht sogar durch Leiden gehen müssen. Aber wir werden Leben in einer Qualität haben, wie es sich andere Leute nicht erträumen können.
Da bin ich ganz gewiss.
Ich habe schon einmal die Geschichte erzählt von dem englischen Missionar Butler, der nach Afrika ging. Er dachte, na ja, er als der gebildete englische Missionar, der Theologie studiert hat, kommt jetzt nach Afrika. Die afrikanischen Brüder werden doch dankbar sein, dass sie so eine Koryphäe bekommen.
Aber dann haben die afrikanischen Brüder ihn getestet und ihm drei Fragen gestellt.
Die erste Frage war: „Bruder Butler, gehört dein Leben wirklich Jesus?“
„Ja“, hat er gesagt, „das gehört Jesus.“
„Bist du bereit, ihm hier unter den Schwarzen in Afrika zu dienen?“
„Ja, bin ich bereit“, hat Butler gedacht, „na ja, schon gelaufen.“
Dann haben sie ihm eine dritte Frage gestellt: „Bruder Butler, fließt dein Becher über?“
Diese Frage kam aus Psalm 23: „Du schenkst mir voll ein.“ Fließt dein Becher über?
Bruder Butler sagte, er müsse Buße tun. Er musste in sich gehen und bekennen, dass er dieses überfließende Leben nicht hatte. Er tat Buße. Danach wurde er der gesegnete Missionar unter den Schwarzen Afrikas.
Ich glaube, dass auch wir uns immer wieder diese Frage stellen müssen: Fließt unser Becher über? Haben wir dieses überfließende Leben?
Ich glaube, es gibt es nur auf diesem Weg, der hier gelehrt wird, durch das, was unser Herr Jesus sagt: „Wenn mir jemand nachkommen will, verleugnet er sich selbst“ – das ist der Schlüssel.
Diese Bereitschaft, „und nehme sein Kreuz auf täglich und folge mir nach“, dann wird er sein Leben nämlich retten. Und es wird ein überfließendes Leben werden, nach den Worten des Johannes-Evangeliums.
Die Forderung zur radikalen Nachfolge und Liebe zu Jesus
Lassen Sie uns noch eine Stelle aus dem Lukas-Evangelium betrachten: Lukas 14, Verse 25-27. Diese Stelle muss eigentlich ganz klar sein. Ähnlich wie in Lukas 9 korrespondiert sie miteinander.
Lukas 14, Verse 25: „Es ging aber eine große Volksmenge mit ihm, und er wandte sich um und sprach zu ihnen: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein Jünger sein.“
Jetzt muss ich etwas zur Erklärung sagen. Wenn hier steht: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht Vater und Mutter“, dann meint das nicht, dass wir Vater und Mutter hassen sollen. Vielmehr bedeutet es, wenn jemand zu mir kommt und Vater und Mutter mehr liebt als mich, dann kann er nicht mein Jünger sein.
Der Hebräer im Orient hatte keine Steigerungsform. Die hebräische Sprache kennt keinen Komparativ. Wir sagen zum Beispiel „groß“, „größer“ (Komparativ) und „am größten“ (Superlativ). Das gibt es im Hebräischen nicht. Der Hebräer drückt Vergleiche in starken Gegensätzen aus: „Ich klein, du groß“. Wenn er sagen will: „Du bist intelligenter als ich“, sagt er: „Ich dumm, du clever, du intelligent.“ Er verwendet keine Zwischenstufen, sondern immer ganz schwarz-weiß.
Wenn er sagen will: „Du sollst Gott mehr lieben als Vater und Mutter“, dann sagt er: „Vater und Mutter hassen, Gott lieben“. In diesen ganz scharfen Gegensätzen wird das ausgedrückt. Und das hat auch die griechische Übersetzung so übernommen, um den starken Gegensatz, der in der mündlichen Überlieferung im Aramäischen wohl so vorhanden war, zu erhalten.
Darum steht hier „Vater und Mutter hassen“. Natürlich will Gott nicht, dass wir Vater und Mutter hassen. Das würde ja gegen das Gebot verstoßen. Ebenso wenig sollen wir die Frau oder die Kinder hassen. Das wäre völlig unsinnig.
Nein, hier ist der Komparativ ausgedrückt: Wir sollen Jesus mehr lieben als Vater und Mutter, als Ehepartner, als Kinder, als leibliche Geschwister und auch als unser eigenes Leben. Deshalb heißt es hier „dazu aber auch sein eigenes Leben hassen“. Das bedeutet, Jesus mehr lieben als das eigene Leben.
So kann er nicht mein Jünger sein. Dann erwähnt Jesus das noch einmal mit dem Kreuztragen. Wie kann man angesichts dieser eindeutigen Worte Jesu von einem Befehl zur Selbstliebe sprechen? Das geht nur, wenn man die biblischen Aussagen wirklich auf den Kopf stellt. Genau das tun die Selbstliebe-Ideologen, wie Fromm, Tropisch und Co. Sie behaupten nämlich: Zuerst musst du dich selbst lieben, damit du zweitens andere lieben kannst. Und im anderen liebst du Gott.
So wird die Reihenfolge auf den Kopf gestellt: Zuerst musst du dich selbst lieben, dann den anderen, und dann liebst du Gott. Im Neuen Testament steht etwas anderes, das sehen wir auf der nächsten Folie.
Diese Stelle wollen wir auch noch aufschlagen: Erster Johannesbrief, Kapitel 4 – eine sehr wichtige Stelle. Wir fragen jetzt: Stimmt es wirklich, dass wir zuerst uns selbst lieben müssen, um andere oder gar Gott lieben zu können? Hier haben wir die Antwort in 1. Johannes 4.
1. Johannes 4, Vers 10: „Hierin ist die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden.“
An erster Stelle stand also die Liebe Gottes zu uns Menschen, bevor irgendetwas anderes da war. Zuerst hat Gott uns geliebt.
Weiter heißt es in Vers 19: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“
Sehen wir den Kreis: Zuerst hat Gott uns geliebt und uns seine Liebe am Kreuz von Golgatha gezeigt. Wenn wir das erkennen, glauben und den Herrn Jesus Christus annehmen, empfangen wir auch den Heiligen Geist. Die Liebe Gottes wird in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist.
Die Liebe Gottes kommt in unsere Herzen, und dann können wir lieben – nämlich Gott lieben und auch den Nächsten lieben, wenn die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist. Aus uns selbst heraus können wir überhaupt nicht wirklich lieben.
Unsere Liebe ist entweder eine sehr egoistische Liebe, die etwas vom Anderen zurückhaben will. Oder es ist eine Form von Liebe, die nur uns selbst schmeichelt und uns letztlich aufblähen soll. Oder es ist eine Affenliebe oder etwas anderes. Wir können nicht wirklich in diesem Sinn lieben.
Aber wenn die Liebe Gottes in uns hineingekommen ist, wenn wir diese Liebe erkennen und annehmen, dann können wir wieder lieben: zuerst Gott, und dann werden wir auch fähig, andere Menschen zu lieben.
Das ist die biblische Botschaft, die vor allem der Johannesbrief entfaltet. Deshalb gab uns der Herr Jesus auch das neue Gebot, dass wir uns untereinander so lieben sollen, wie er uns geliebt hat.
Jesus sagt nicht: „Wir sollen uns so lieben, wie wir uns selbst lieben“ – das war das alttestamentliche Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Er sagt: „Wir sollen uns untereinander so lieben, wie er uns geliebt hat.“
Natürlich können wir das nicht vollkommen, aber das ist unser Ziel. Das ist unser Maßstab, die Messlatte: so zu lieben, wie Jesus uns geliebt hat.
Das hat Zinzendorf in seinem wunderbaren Lied verarbeitet, wo er sagt: „Legt es unter euch, ihr Brüder, auf solches Lieben an, dass ein jeder für die Brüder selbst das Leben lassen kann.“ So ähnlich hat er es ausgedrückt.
Jesus sagt in Johannes 13,34, dass wir uns untereinander so lieben sollen, wie er uns geliebt hat. Darum können wir nun lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.
Und das ist keine erlernte, eingeübte oder selbst produzierte Liebe des Menschen, sondern eine von Gott geschenkte Liebe, die durch den Heiligen Geist in unser Herz ausgegossen ist.
Das ist wirklich etwas anderes. Diese Liebe gibt es. Gott kann sogar Feindesliebe schenken, die wir aus uns heraus niemals produzieren könnten.
Er kann uns sogar befähigen, Menschen zu lieben, die uns Böses wollen oder uns sogar schaden.
Wir haben hier schon Zeugnisse von Geschwistern gehört, die in Russland in Gefängnissen saßen. Ich erinnere mich an einen Abend hier mit einem Bruder, der in Russland im Gefängnis war. Er erzählte, wie er sogar die Menschen, die ihn so übel behandelt hatten, mit der Liebe Jesu lieben konnte.
Das ist keine Einbildung oder eine angeeignete Technik. Das funktioniert nicht durch menschliche Anstrengung. Es ist die wirkliche, echte Gottesliebe, die Agape-Liebe, die sogar Feindesliebe sein kann.
Selbstannahme und ihre biblische Bewertung
Bevor wir zum Schluss kommen, möchte ich noch einen letzten Gedanken zum Thema Selbstannahme teilen. Dieses Thema hängt oft eng mit Selbstliebe zusammen. Interessanterweise kommen weder das Wort Selbstannahme noch das Wort Selbstliebe in der Bibel vor.
Wir sollten diese Begriffe daher mit Vorsicht verwenden. Sie sind oft einseitig und humanistisch geprägt und werden allgemein anders verstanden, als wir es vielleicht meinen. Ich habe mir angewöhnt, nicht von Selbstliebe oder Selbstannahme zu sprechen.
Ich glaube nicht, dass ihr diesen Begriff im positiven Sinn schon gehört habt. In der Psychologie bedeutet Selbstannahme das uneingeschränkte Ja zu sich selbst – inklusive aller Sünden, Schwächen, Neigungen und Verhaltensweisen. Ein uneingeschränktes Ja zu sich selbst. Wozu sollte ich das sagen?
Ich darf Ja sagen zu meinem von Gott gewollten Leben – selbst dann, wenn meine Eltern mich nicht gewollt haben oder es ihnen so gesagt wurde, dass ich eigentlich nicht geplant war. Selbst dann weiß ich: Gott hat mich gewollt. Er hat mich gewollt, sonst wäre ich nicht entstanden.
Ich darf Ja sagen zu den von Gott bestimmten Grundgegebenheiten meines Körpers, inklusive Aussehen, Geschlecht und Sexualität. Ich habe das hier bewusst immer so formuliert: von Gott gegeben, von Gott gewollt, von Gott bestimmt.
Ich sage Ja zu Gott und zu seinem Willen über meinem Leben – nicht zu Selbstannahme, sondern zur Annahme des Willens Gottes. So steht nicht das Selbst, das Ich oder das Ego des Menschen im Zentrum, sondern Gott und sein guter Wille über meinem Leben.
Ich darf auch Ja sagen zu meinen von Gott gegebenen Eltern, ganz gleich welchen Weg sie gehen, welche Prägung sie haben, welche Vorlieben oder welchen Glauben sie besitzen. Ebenso gilt das für Geschwister und Kinder: ein uneingeschränktes Ja zu meinen von Gott gegebenen Verwandten.
Zu meinen von Gott gegebenen Gaben, Fähigkeiten und Grenzen darf ich ein Ja finden. Gaben und Grenzen anzunehmen, ist gar nicht so leicht. Ob intellektuelle Begrenzungen, gabenmäßige Grenzen oder körperliche und gesundheitliche Einschränkungen – ich darf Ja sagen zu meinen Gaben, Fähigkeiten und Grenzen sowie zu meinem unverschuldeten Gesundheitszustand und Lebensalter.
Krankheit, die ich selbst verschuldet habe, werde ich am Ende auch Ja sagen müssen – ja, aber ich habe das hier mal in Klammern gesetzt, weil ich mich hier auf den unverschuldeten Gesundheitszustand und das Lebensalter beziehe.
Nicht alle können das Alter mit seinen Gebrechen annehmen und finden einfach kein Ja zu ihrem Alter. Alt werden wollen ja alle, nur nicht alt sein – das ist das Problem und der Unterschied.
Ich weiß nicht, ob diese Liste vollständig ist. Vielleicht gibt es noch weitere Dinge, zu denen wir wirklich Ja sagen dürfen und sollen. Sicherlich gibt es noch mehr, aber diese sind mir eingefallen und die habe ich genannt.
Wozu darf ich aber nicht Ja sagen, sondern muss ein radikales Nein aussprechen? Wir merken, wir müssen das auseinanderhalten. Wir können nicht, wie die Humanisten, ein uneingeschränktes Ja zu uns selbst sagen, denn wir wissen, dass nicht nur Gutes in uns ist.
Es gibt auch gute Anlagen, aber nicht im Sinne einer Qualität, die vor Gott Geltung haben könnte.
Wozu darf ich nicht Ja sagen, sondern muss radikal Nein sagen? Zu meiner alten, von der Sünde vergifteten Natur – die Bibel nennt das Fleisch. Dazu darf ich nicht Ja sagen. Im Gegenteil: Die Bibel sagt uns überall, dass wir das Fleisch, den alten Menschen, in den Tod geben sollen. Wir sollen ihn radikal verneinen und immer wieder unter Jesu Kreuz bringen.
Zu allen bösen Gedanken, Worten, Taten und Unterlassungen, die aus dem alten Menschen kommen, also zu einem sündigen Wesen, müssen wir Nein sagen. Dazu gehören auch Neigungen.
Wenn zum Beispiel junge Leute kommen, gerade junge Männer, und sagen: „Ich spüre da in mir eine homosexuelle Neigung.“ Man könnte sagen: „Das ist mir so von Gott gegeben, das ist einfach in mir drin.“ Aber ich muss sagen: Nein, das ist nicht von Gott gegeben. Das hat andere Gründe, wie es in deinem Leben entstanden ist.
Dazu musst du ein klares Nein sagen und ein Ja zu der von Gott gegebenen Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und Sexualität, die du hast.
Das wird heute oft ganz großzügig gehandhabt. Jemand kommt zum Psychotherapeuten und sagt: „Ich habe so einen Hang zur Kleptomanie, zum Klauen von allem, was nicht niet- und nagelfest ist.“ Dann sagt der Therapeut: „Das ist offensichtlich in deiner Natur drin, da kannst du nichts machen. Lass dich halt nicht von der Polizei erwischen.“ Ich übertreibe jetzt, aber so ähnlich läuft das oft.
Nein, wir müssen sagen: Das ist ganz und gar keine neutrale Eigenschaft in dir, sondern Teil der sündigen, alten Natur. Wenn du so etwas in dir entdeckst, musst du ein radikales Nein sagen.
Oder wenn es der Hang ist, über andere negativ zu reden oder sich selbst in den Vordergrund zu stellen, ein starkes Geltungsbedürfnis und all diese Dinge – das wird heute psychologisch verbrämt und unter einem Deckmantel verdeckt.
Die Bibel nennt diese Dinge Fleisch, Werke des Fleisches, die aus dem alten Menschen kommen. Zu ihnen können wir kein Ja sagen, sondern wir müssen mit ihnen im Kampf liegen.
Wir müssen sie immer wieder, wenn wir sie entdecken, im Gebet vor den Herrn bringen und sagen: „Herr, ich danke dir, dass ich dir ganz gehöre. Aber du siehst, da kommen noch Dinge aus mir heraus, aus dem Alten, und die will ich ablegen bei dir.“
„Lege ab den alten Menschen und ziehe an den Neuen, der nach Gott geschaffen ist.“ Das ist eine tägliche, unter Umständen stündliche Übung des Gläubigen.
Warnung vor der Selbstliebe und Ermutigung zum Leben in Christus
Ich muss zum Schluss kommen: Als Eva von Thiele-Winkler ihr Leben dem Herrn und dem Dienst am Nächsten weihte und ihr Liebeswerk an Armen, Kranken und weisen Kindern begann, betete sie, dass der Dämon der Selbstliebe keine Gewalt über sie gewinnen möge.
Diese Ausdrucksweise mag ungewöhnlich erscheinen. Ja, so hat sie es damals in ihr Tagebuch geschrieben: „Der Dämon der Selbstliebe möge keine Gewalt über mich gewinnen.“ Ich möchte nicht behaupten, dass hinter Selbstliebe tatsächlich ein Dämon steckt. Doch für sie war es damals etwas so Abscheuliches, dass sie es sogar so ausdrücken konnte, dass der Dämon der Selbstliebe keine Macht über sie bekommen möge.
Damals wurde noch eine andere Sprache gesprochen, so vor hundert Jahren oder wann das genau war. Gebe Gott, dass einige seiner Kinder heute auch noch so beten möchten wie Eva von Thiele-Winkler damals. Und gebe Gott, dass wir mit dem Apostel Paulus von Herzen bekennen könnten: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich jetzt im Fleisch lebe, das lebe ich im Glauben, und zwar im Glauben an den Sohn Gottes – oder im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.
Das ist der richtige Weg. Gebe Gott, dass wir auf diesem Weg unterwegs sein können.
Ich möchte gerne diesen Teil mit einem Gebet abschließen. Wir bleiben sitzen.
Herr Jesus Christus, wir danken dir von ganzem Herzen, dass wir auch heute Abend in dir das allerbeste und größte Vorbild haben. Wenn wir dein Leben anschauen, dann sehen wir: Du hast nicht dich selbst geliebt. Du hast nicht dir selbst so gefallen gelebt, sagt der Römerbrief, sondern du hast den Vater geliebt – über alles. Mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft.
Und du hast den Nächsten geliebt. Dein ganzes Leben lang, über Jahre, sterbend am Kreuz, hast du noch den Blick gehabt für deine Geschöpfe und für die Menschen unter dem Kreuz. Wir danken dir, Herr Jesus, dass du auf diesem Wege die Liebe Gottes, die Agape-Liebe, wirklich ausgelebt hast. Und dass diese Liebe heute ausgegossen wird in das Herz aller deiner Kinder.
Wir danken dir, Herr, dass wir wirklich die Qualität dieser Liebe kennen dürfen. Und wir möchten noch mehr davon ganz konkret in unserem Leben spüren. Dass davon noch mehr zu sehen ist, dass davon noch mehr zu dir wieder zurückfließen kann und auch zu anderen.
Herr, wir haben aber auch gesehen, in welcher Zeit wir leben und wie einfach Männer und Frauen diese Ideologie der Selbstliebe übernommen haben – vielleicht ohne böse Absicht, vielleicht einfach nur verblendet und verführt. Aber wir wollen das erkennen, Herr, dass das mit dem Evangelium nicht vereinbar ist, dass das fremd ist deinem Geist. Und wir wollen es entlarven und ablehnen.
Herr, gib uns, dass wir einen gesunden, geraden Weg gehen können – auch im Verhältnis zu uns selbst und zu unserem Körper. Lass es so sein, wie wir am Schluss gesehen haben: dass wir die Dinge, die von dir sind, bejahen, aber alles, was mit der Sünde zu tun hat, mit unserer verkehrten Natur und was daraus kommt, ablehnen können als Werke des Fleisches.
Herr, hilf uns, dass wir so den Weg gehen können. Amen.
