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Dass das Wort über die Lippen und durch die Herzen und in die Füße ging, das war das Wunder von Pfingsten und das ist es heute noch. - Predigt zum Pfingstmontag in der Stiftskirche Stuttgart


Sie verwunderten sich. Sie hörten Wunderbares. Sie erlebten ein Wunder in Jerusalem. Wer Pfingsten sagt, sagt Wunder. Aber was ist ein Wunder, liebe Gemeinde?

Die Historiker sagen uns, dass das Stadtschloss von Babylon ein Wunder gewesen sei, sogar eines der sieben Weltwunder der Antike. Nebukadnezar II. baute nach glänzenden Siegen über die Nachbarvölker seine Residenz mit verschwenderischer Pracht aus. Zu Ehren der sagenhaften Semiramis entstanden die Hängenden Gärten mit Bäumen, Bächen und Blumen, ein blühendes Barock des vorchristlichen Jahrhunderts, eine Reichsgartenschau des babylonischen Reiches, eine Weltausstellung der damaligen Welt. Babylon, das war ein Wunder, sagen die Historiker.

Und die Kleriker sagen uns, dass die Marienerscheinung von Lourdes ein Wunder gewesen sei. Vier Tage nach jener Vision, die die vierzehnjährige Bernadette Soubirous in der Höhle Massabielle hatte, floss plötzlich heilkräftiges Wasser aus der Grotte. Ein Gotteshaus wurde gebaut, dann eine Basilika und dann noch eine unterirdische Pilgerkirche. Jährlich kommen zwei Millionen Pilger, unter ihnen 250000 Kranke und Krüppel, um sich am Lourdes-Wasser gesund zu trinken. Lourdes, das war ein Wunder, sagen die Kleriker.

Und die Zeitungsleser sagen uns, dass der Flugzeugabsturz von Oberderdingen ein Wunder gewesen sei. Am vorletzten Freitag fiel ein führerlos gewordener Mirage-Kampfjäger bei Pforzheim vom Himmel. Nach minutenlangem Geisterflug über dem Rheintal bohrte er sich zwischen zwei Häuser dort in die Erde, wo eben noch Kinder miteinander spielten. Auch ein nur zehn Meter entfernter Rentner in seinem Garten blieb unverletzt. Niemand und nichts kam zu Schaden. Oberderdingen, das war ein Wunder, sagen die Zeitungsleser.

Ein Wunder ist also etwas Spektakuläres. Ein Wunder ist etwas Aufsehenerregendes. Ein Wunder macht immer Schlagzeilen.

Wer aber mit dieser Wundervorstellung nach einem Wunder von Jerusalem Ausschau hält, wird enttäuscht werden. Wohl gab es in Jerusalem auch prächtige Bauten, der herodianische Tempel zum Beispiel, aber ein Weltwunder war er wahrlich nicht. Wohl gab es in Jerusalem auch heilkräftige Wasser, die Mineralquelle von Bethesda zum Beispiel, aber der Besucherstrom hielt sich in Grenzen. Wohl gab es in Jerusalem auch Katastrophen, das Turmunglück von Siloah zum Beispiel, aber dort sind sogar Menschen unter den Gesteinsmassen begraben worden. Ein Pfingstwunder als Spektakulum fand nicht statt.

Wahre Wunder sind überhaupt nie vom Theaterdonner begleitet. Gott tut seine Wunder im Abseits. Das war an Weihnachten so, als der Retter der Welt nicht drin in der Suite eines Nobelhotels, sondern draußen im Stall einer Karawanserei zu Welt kam. Das war an Karfreitag so, als der Sündenbock der Welt nicht drin auf dem Markplatz, sondern draußen auf der Müllkippe sein Leben aushauchte. Das war an Ostern so als der Herr der Welt nicht drin im Tageslärm, sondern draußen in der Nachtstille die Todeswand durchbrach. Und das war an Pfingsten nicht anders.

Wer also dieses Wunder entdecken will, darf nicht die gedrängt vollen Gassen Jerusalems absuchen, sondern muss eine jener Lehrhallen aufsuchen, die am Rand des Tempelbezirks standen. Dort draußen hatten sich Leute zum Beten und Singen versammelt, als da Wort Gottes, und das ist das Wunder, sich Bahn brach. Pfingstwunder ist Wortwunder. Pfingstgeschehen ist Wortgeschehen. Dass das Wort über die Lippen ging, dass das Wort durch die Herzen ging, dass das Wort schließlich in die Füße ging, das war das Wunder von Pfingsten und das ist es heute noch. Deshalb müssen wir es uns näher anschauen.

1. Das Wort ging über die Lippen

Beobachten wir es an dem, der vorne in der Halle redete. Petrus war nicht wiederzuerkennen. Wohl war er früher schon nicht auf den Mund gefallen. Sein Meister litt immer wieder an seiner fixen Zunge. In Gethsemane bekam er sogar eine auf seine große Klappe, als dieser “schnelle Schwertdegen”, wie ihn der Heiland bezeichnete, mit dem Säbel durch die Gegend fuchtelte. Aber im Hof des hohepriesterlichen Palastes wurde er ganz klein und mickerig. Nicht einmal vor der Magd mit dem Putzeimer wagte er ein wahres Wort. “Ich kenne den Typ nicht. Nein, ich weiß nicht, wer dieser Jesus sein soll. Ich hab mit diesem Galiläer überhaupt nichts zu tun.” Dann verschanzte er sich mitsamt seinen Freunden hinter verrammelten Türen und sagte kein Sterbenswörtlein mehr. Genau dieser feige, verdruckte, verängstigte Petrus aber steht am Pfingstmorgen vor der Menge und sagt den Leuten ins Gesicht: “Dieser Jesus, den ihr gekreuzigt habt, hat Gott zu einem Herrn und Christus gemacht.” Welchen Mut hat sich dieser Mann angetrunken, solche Wahrheit in die aufgebrachte Menge zu schleudern? Welche psychologische Ego-Behandlung hat dieser Mann durchgemacht, solche Wahrheit unverblümt erbosten Menschen entgegenzuhalten? Welchen seelischen Kraftakt hat dieser Mann vollzogen, solche Wahrheit ohne Rücksicht auf Verluste an die Öffentlichkeit zu bringen? Nichts von alledem. Das war kein Mannesmut und keine Therapie und kein Kraftakt, sondern das Wunder des Heiligen Geistes, der einen schwachen und unvollkommenen Menschen zum Zeugen seiner Hache bestellt.

Immer ist das so, dass dieser Geist Leute befähigt, in aller Schlichtheit und Direktheit weiterzusagen: Jesus ist Christus, der gekreuzigte und auferstandene Herr dieser Welt. Auch heute will er den ergreifen, der am liebsten seinen Mund halten würde: den Vater, der das Tischgebet in der Familie längst gesteckt hat, weil sich die Herren Söhne über solche Leerformeln mokierten, die Mutter, die schon gar kein Wort mehr wagt, weil es der Mann im Hause nicht haben will, den Jugendkreisleiter, der die Andacht gestrichen hat, weil die Buben nur Interesse am Tischfußball und am Film zeigen, den Geschäftskollegen, der schon resigniert hat, weil sie ihm immer die kalte Schulter zeigten. Allen will der Heilige Geist die Zunge lupfen. Aus stummen Hunden sollen fröhliche Zeugen werden, die dann die Wahrheit jener Zusage erfahren: “Ihr seid es ja nicht, die da reden, sondern meines Vaters Geist ist es, der durch euch redet.” Unsere Familien, unsere Nachbarschaften, unsere Schulen, unsere Behörden, unsere Öffentlichkeit ist darauf angewiesen, dass Gottes gute Wort von Jesus zur Sprache kommt.

Und immer, wenn dies Wort über die Lippen geht, dann ist das Wunder von Pfingsten.

2. Das Wort ging durch die Herzen

Beobachten wir es an denen, die hinten in der Halle zuhörten. Bestimmt hatten sie schon viele Predigten gehört, lehrhafte und evangelistische, intellektuelle und volksnahe, liberale und konservative. Predigthörer sind ja Leiden gewohnt. Beim einen Mal ging das Wort weit über sie hinweg, man schien auf einem andern Stern zu leben. Beim andern Mal ging das Wort zum einen Ohr hinein und zum andern Ohr wieder hinaus; man hatte einfach zu viel um die Ohren. Beim dritten Mal ging das Wort durch den Kopf; man machte sich so seine eigenen Gedanken darüber. Und beim vierten Mal ging das Wort sogar unter die Haut; man fühlte sich angeregt und angesprochen. Aber diesmal war es ganz anders. Das Wort Gottes ging nicht nur in die Ohren oder durch den Kopf oder unter die Haut, sondern direkt ins Herz. Wörtlich heißt es sogar: “Das Wort durchbohrte das Herz.” Das war ein Blattschuss, kein Streifschuss. Doch, da wurde gelöchert. Da wurde getötet. Da wurde gemordet. Es starb der Hochmut, der mit Gott umgeht, als sei er im besten Fall die Notbremse für Krisenzeiten. Es starb der Gleichmut, der einem einredet, dass man weder Gott noch eine Hölle fürchten müsse. Es starb der Kleinmut, der einen zittern lässt, wenn ein Großhans mit der Faust auf den Tisch haut. Es starb die Schwermu, weil man glaubte, mit seiner Vergangenheit selbst fertig werden zu müssen. Es starb all das, was einem im Grunde das Herz schwer macht. Der Pfingsttag wurde zum Sterbetag der Schuld.

Goethe hat sich geirrt. Pfingsten ist kein lieblich Fest, an dem die Natur aufblühen will, sondern ein bestürzendes Fest, an dem die Schuld absterben soll. Und Gottes Wort ist das Werkzeug dazu, weil es schärfer ist als ein zweischneidig Schwert. Es will nicht nur über uns hinwegrauschen wie eine Sturmböe, der dann die Flaute folgt. Es will uns nicht nur durch den Kopf gehen, wie eine Zeitungsmeldung, die morgen schon veraltet ist. Es will uns nicht nur unter die Haut gehen wie eine Todesanzeige, die aber auch bald vergessen ist. Gottes Wort von Jesus will in unser Herz. Dort will es töten und neu machen. Aus dieser Rumpelkammer der Schuld kann eine Wohnung seines Geistes werden. Aus dieser Höhle der Verzweiflung kann ein Schacht seines Lichtes werden. Aus diesem Behälter der Hoffnungslosigkeit kann eine Quelle des getrosten Mutes werden. Keiner muss mit beschwertem Herzen weiterleben. Niemand muss mit leidendem Herzen seines Weges ziehen. Jeder kann um dieses erneuerte und damit getroste Herz bitten: “Komm o komm du Geist des Lebens, wahrer Gott von Ewigkeit. Deine Kraft sei nicht vergebens, sie erfüll uns jederzeit; so wird Geist und Licht und Schein, in dem dunklen Herzen sein.”

Immer, wenn dies Wort durch die Herzen geht, dann ist das Wunder von Pfingsten.

3. Das Wort ging in die Füße

Beobachten wir es an denen, die hinten und vorne in der Halle aufstanden. Interessanterweise streckte sie nicht die Hände in die Höhe und riefen: “Hallelujah!” Ekstase, Jubelrufe, Verzückungen sind nicht unbedingt Zeichen des Pfingstgeistes. Auffallenderweise machten sie sich nicht auf den Heimweg und schwärmten von der eindringlichen Pfingstpredigt des Petrus. Schwarmgeist und Pfingstgeist sind zwei Paar Stiefel. Seltsamerweise endete das alles nicht wie ein normaler Gottesdienst mit Lied, Segen und dreimaligem Amen. Die Leute umlagerten die Apostel und fragten: “lhr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?”

Wir fragen gerne: Wie müssen wir jetzt sein? Landeskirchlich oder freikirchlich? Lutherisch oder reformiert? Altpietistisch oder neupietistisch? Als ob es auf unsere Mitgliedskärtlein und Steuerbescheide ankäme! Sie dagegen wollten wissen, welche Konsequenzen aus dieser Herzgeschichte zu ziehen sind. Muss ich nicht neu anfangen in meinem Leben? Muss ich nicht meine Zeit anders einteilen? Muss ich nicht meine Ehe anders führen? Muss ich nicht meine Arbeit anders sehen? Muss ich nicht mein Geld anders verteilen? Muss bei mir nicht alles anders werden? Immer wenn diese Fragen aufbrechen und uns keine Ruhe lassen, ist das Wort ins Herz gebrochen.

Und Petrus antwortet kurz und bündig: Tut Buße! Kehrt um! Geht in die Gemeinde! Dann machen sich Dreitausend auf die Füße und suchen die Gemeinschaft der Christen. Das ist die Geburtsstunde der Gemeinde Jesu, die seither durch Leiden und Verfolgungen hindurch gewachsen ist und heute die ganze Erde umspannt. In ihr will Jesus selbst durch seinen Geist regieren. Er macht sie fest und unüberwindlich bis zum Tage seiner Wiederkunft. Zu viele hocken zuhause und hacken in ihrem frommen Schrebergarten. Zu viele bleiben allein und pflegen ihr Solochristentum. Zu viele sitzen im Winkel und beklagen ihre Einsamkeit. Jesus bietet die Gemeinschaft der Heiligen an, auch an Ihrem Ort und in Ihrer Gegend, die Vergebung der Sündenlast, die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben: “Ich will euch zu mir nehmen, auf dass ihr seid, wo ich bin!” Gibt es ein größeres und schöneres Angebot?

Immer, wenn dies Wort in die Füße geht, dann ist das Wunder von Pfingsten. Verwundern Sie sich nicht, wenn es bei Ihnen passiert. Ja, ich wünsche Ihnen ein wunderbares Pfingsten.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]