Nach unserer Ordnung ist uns heute als Bibelabschnitt der Bericht vom Besuch des zwölfjährigen Jesus im Tempel von Jerusalem gegeben.
Seine Eltern gingen jedes Jahr nach Jerusalem zum Passafest. Als Jesus zwölf Jahre alt war, nach der Bar Mitzwa, also als er religionsmündig geworden war, ging auch er hinauf. Gemeinsam gingen sie nach dem Brauch des Festes.
Als die Tage jedoch vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem zurück, ohne dass seine Eltern es wussten. Sie meinten, er sei unter den Gefährten. Eine Tagereise weit suchten sie ihn unter Verwandten und Bekannten.
Als sie ihn aber nicht fanden, gingen sie zurück nach Jerusalem und suchten ihn dort. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern. Er hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Als Josef und Maria ihn sahen, entsetzten sie sich. Seine Mutter sprach zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“
Er antwortete ihnen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.
Dann ging er mit ihnen hinab, kam nach Nazaret und war ihnen untertan.
Die lange Sendepause und das Leben in Nazareth
Das ist nun das letzte, liebe Gemeinde, was wir von Jesus berichtet bekommen haben: Bis zu seinem Auftreten, als er dreißig Jahre alt war, gab es eine Sendepause von achtzehn Jahren.
Ihr jüngeren Leute, wenn wir Eltern auf unser Leben zurückblicken, sehen wir, dass das Entscheidende zwischen dem zwölften und dem dreißigsten Lebensjahr passiert. In dieser Zeit geht es um Berufsfindung, Berufsausbildung, die Idee, wer einmal der Lebensgefährte sein könnte, und darum, wo wir zu Hause sein könnten. Es werden wichtige Weichen gestellt.
Bei Jesus war es so, dass er nach Nazareth kam und dort achtzehn Jahre blieb. Schon zuvor, nach dem Aufenthalt in Bethlehem und in Ägyptenland, verbrachte er zehn Jahre in Nazareth.
Nun wissen wir einiges aus dem, was die Evangelien über den Alltag in Nazareth berichten. All die Gleichnisse von Jesus und auch seine Worte sind voll davon, dass einem bei Zimmermannsarbeiten ein Splitter ins Auge fliegen kann. Es wird gesagt, dass es nicht gut ist, beim Pflügen zurückzuschauen, weil dann der Pflug aus der Furche geht. Auch wird erwähnt, dass man unnützes Salz wegwirft.
Wenn man genau hinsieht, sind die Evangelienberichte voll davon, den Alltag und den ganzen Mief von Nazareth widerzuspiegeln. Aber von Jesus selbst wissen wir nichts.
Die Bedeutung Galiläas und Nazareths im göttlichen Plan
Warum hat Jesus seine gesamte, eigentlich seine ganze Wirksamkeit fast hundertprozentig nach Galiläa verlegt, nach Nazareth, nach seinem Auftreten? Warum hat er seine Jünger nach der Auferstehung nach Galiläa befohlen? Was ist denn da los mit Galiläa, mit Nazareth?
Mich bewegt das schon lange. Und jetzt, in diesem Jahr, ist mir aufgegangen: Es gibt keine bessere Veranschaulichung, keine bessere Illustration für unsere Jahreslosung „Was bei den Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich“.
Nazareth war eigentlich eine Region, in der Gott keine Chance hatte. Von Anfang an war in Galiläa, dem Land am Meer – so heißt es bei Jesaja 8, das wir in der Schriftlesung gehört haben – der Wurm drin. Es lag wie ein Fluch über dem Land. Entschuldigung, wenn ich Sie so früh im Jahr mit Geographie und Geschichte des Heiligen Landes belaste, aber wir müssen es wissen.
Wie ein Fluch lag Galiläa da. Die andere Stimme hat mit Jubel den von Gott ihnen bereitgestellten Besitz besiedelt. Nur Sebulon, Asser, Isaschar, Naftali – so im mittleren Bereich des sogenannten Heiligen Landes – konnten die Einwohner nicht vertreiben, vielleicht wollten sie auch gar nicht. Sie haben sich arrangiert, es waren tolerante Leute. „Wir können auch ein bisschen Ihre Religion. Ihr seid ja so fromme Leute, die meinen es doch auch ernst“, wurde übernommen in Sebulon, Asser, Naftali in Galiläa.
Was Gott wirklich wollte, wer Gott wirklich ist, das war denen in Galiläa piepegal. Dazu kam noch, dass Galiläa das Aufmarschgebiet war im großen Ringen der Großmächte zwischen Assur, Babylon auf der einen und Ägypten auf der anderen Seite. Viele Verheerungen, Furchtbares haben die Leute in Galiläa erlebt.
733 v. Chr. wurde Galiläa endgültig von Assur eingenommen, und die Mehrzahl der Bewohner deportiert. Sie sind irgendwo im weiten assyrischen Reich untergegangen. Dann strömte eine Mischbevölkerung ein, multireligiös. Wer noch wirklich ein bisschen fromm war, der wurde von den makkabäischen Freiheitskämpfern, so um 130 vor Christus, mitgenommen nach Jerusalem. Im Dritten Reich hätte man gesagt: heim ins Reich. Zurück blieb der Abschaum.
Wir werden im Neuen Testament Stellen finden, dass aus Galiläa keine Propheten stammen. Von Galiläa kann man nichts erwarten. Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Die kannst du vergessen, die sprechen ja schon in eigenem Dialekt. Ein Land, in dem sich die Gottesfinsternis ausgebreitet hatte.
Jesus geht nach Nazareth – ein Zeichen göttlicher Möglichkeiten
Eigentlich müsste es in dem Bericht vom zwölfjährigen Jesus heißen: Jesus wehrte sich mit Händen und Füßen und sagte: Nein, nach Nazareth gehe ich nicht mehr. Nein, ich bleibe hier in Jerusalem. Hier ist Gott im Tempel. Was soll ich in Nazareth? Dort kann ich höchstens verdorben werden – nach menschlichem Ermessen ein unmöglicher Aufenthaltsort für den Sohn Gottes.
Aber was bei den Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich. So ging er mit seinen Eltern nach Nazareth und war ihnen untertan, weil Nazareth und Galiläa im Masterplan Gottes standen.
Lies noch einmal die Stelle aus Jesaja 8. Durch den Propheten Jesaja hat Gott mit genauer Ortsbezeichnung ankündigen lassen: „Du Land Sebulon und Naftali, das Land am Meer, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, es soll nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind, du Galiläa der Heiden.“
„Du Volk, das im Finstern lebt, du wirst ein großes Licht sehen. Über euch, die ihr da wohnt im finsteren Land, wird es hell scheinen, denn für euch wird ein Kind geboren sein, ein Sohn wird euch gegeben sein.“
Jetzt verstehen Sie, warum Jesus, der gesagt hat: „Ich habe hier im Tempel Gott gefunden, ich muss dort sein“, warum er dann doch sagt: „Warum sucht ihr mich in den Hinterhöfen? Wenn irgendwo, dann bin ich im Tempel, dort wo Gott ist.“
Aber dann geht er auch nach Nazareth, denn dort will Gott auch sein, wie er es angekündigt hat. Gottes Wort und Ankündigung sind verlässlich. Er kam nach Nazareth, in das Land, in dem Gottes Finsternis zu sein schien, und blieb dort achtzehn Jahre.
Als wollte er deutlich machen: Für euch, gerade für euch, zu euch bin ich gekommen, und bei euch will ich bleiben.
Das Nazareth-Programm Gottes – Hoffnung für alle Menschen
Das ist das Programm unseres Gottes. Ich möchte es fast das Nazaret-Programm Gottes nennen. Es gibt kein einziges Menschenleben, über das Gott sagt: Das kann ich vergessen, um den brauche ich mich nicht mehr zu kümmern. Es gibt keine Region, keinen Volksstamm, keine Familie, die meinen müsste: Ich bin von Gott ausgeschlossen, ich bin verdammt, mit uns ist nichts los, uns hat er vergessen.
Er kam nach Nazaret, dorthin, wo es nach menschlichem Ermessen hoffnungslos war. Er war willig, den lebendigen Gott dort zu offenbaren. Die Herrschaft ist auf seiner Schulter. Die Weissagung des Jesaja schließt mit den Worten: „Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.“ Die ganze Emotion unseres Gottes ist: Ich will dorthin gehen, wo nach menschlichem Ermessen nichts zu hoffen ist.
Das gilt bis heute. Ich habe es einst im Remstal erlebt, dieses Nazaret-Programm Gottes, das viel Frömmigkeit und geistliches Erbe kennt. Aber es gibt auch einzelne Orte, die sind wie ausgespart. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal mit unserem Landesbischof Haug durchs Remstal fahren durfte. Er sagte über einen Ort: „Da drüben war noch nie was los, und da wird nie was los sein.“
Der Pfarrer diesorts, ein treuer Pfarrer, hat sich rechtschaffen um seine Gemeinde bemüht. Doch eines Morgens rief er mich an und sagte: „Können Sie nicht am Sonntag bei uns predigen? Ich kann nicht über das Gleichnis Jesu predigen, von dem Schaf, das verloren gegangen ist. Der Hirte hat neunundneunzig gelassen und ist dem einen nachgegangen, aber bei mir sind alle hundert weg.“
Nach ein paar Jahren brach plötzlich Jugendarbeit auf, aktiv. Die Eltern der jungen Leute kamen in die Kirche – rappelvoll, die Emporen voll. Wenn Sie sich noch an die Gemeindetage im Neckarstadion erinnern, die jungen Leute, die dort das schwäbische Eiserbänle gemacht haben, die Landkarte auf dem Rasen gezeichnet haben – auch von dieser Jugendgruppe hieß es: „Da ist nichts los, und da wird nichts los sein.“
Doch bei den Menschen scheint vieles unmöglich. Bei Gott sind alle Dinge möglich.
Mission und diakonisches Handeln als Ausdruck des Nazareth-Programms
Am Anfang der evangelischen Weltmission unter Nikolaus Ludwig von Zinzendorf hat Graf Zinzendorf staatsmännisch erforscht, wo Menschen leben, die zu den Verachtetsten gehören und die am weitesten von Gott und ihrer Religion entfernt sind.
Klar war für ihn, dass dies die Samojeden ganz im Norden Sibiriens sind. Zu solchen Menschen zählen auch die Inuits, die Eskimos in Grönland und Labrador. Ebenso gehörten die afrikanischen Negersklaven dazu, die man nach Westindien gebracht und dort aufgezogen hatte, um sie als Sklaven verkaufen zu können.
Zu diesen Verachteten und Ausgestoßenen schickte er seine Missionare. Als Gottlieb Wilhelm Hofmann die diakonische Arbeit begann, sahen die Hausväter Banner, Mundle und alle, die nach ihnen kamen, ihre Aufgabe darin, gemeinsam mit den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Hofmann- und im Flattichhaus Menschen zu helfen, die zertreten sind und Furchtbares erlebt haben.
Das war das Nazaret-Programm Gottes. Was bei den Menschen unmöglich ist – denn man könnte doch keinen von diesen Menschen retten oder umdrehen – ist bei Gott möglich. Dieses Wunder, was bei Gott möglich ist, haben wir hier in Korntal erlebt.
Ich möchte nur kurz zurückblicken: Solche Erlebnisse führten oft zu einer gewissen Euphorie in der Christenheit. „Wir können es schaffen, wenn Gott will, dann werden wir die Welt bekehren, noch in dieser Generation“, hieß es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Immer wieder brach diese Hoffnung auf: „Wir werden es schaffen! Die Christenheit wird sich ausbreiten, weil bei Gott alle Dinge möglich sind. Man muss es nur richtig anpacken.“
Es wurden immer wieder Programme entwickelt, wie man am effektivsten Menschen zu Jesus führen kann. Im Konfirmandenunterricht lernten wir: Aus eigener Vernunft und Kraft kann ich überhaupt keine Menschen zu Jesus führen. Ich kann nicht einmal selbst glauben, nicht einer.
Aber wenn ihr unter den Menschen lebt, wenn ihr ihnen Anteil schafft, wenn ihr wirklich Anteil nehmt am Leben der Menschen, wenn ihr ihre Sprache sprecht und auf sie eingeht, dann wird es geschehen. Jesus war achtzehn Jahre unter seinen Landsleuten in Nazareth. Dem musste man nichts von Inkulturation sagen – er hat es gelebt.
Und doch hat es nicht einen von Nazareth zum Nachfolger Jesu gemacht. Wir sollten nüchtern werden. Es wird gesagt, man müsse den Leuten auf den Mund schauen. Luther hat es noch derb gesagt: „Hans und Grete aufs Maul schauen.“ Man darf nicht von oben herab dozieren oder hochgeistig sprechen. Man muss verständlich und warmherzig reden.
Ach, da sind wir alle noch weit entfernt von dem, wie Jesus es gemacht hat – mit seinen Gleichnissen und anschaulichen Beispielen. Der Vater sehnt sich danach, dass ihr heimkommt zu ihm, so wie der Vater vom verlorenen Sohn. Als dieser noch fern war, lief er ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
Du darfst mit dem Heiland verbunden sein wie die Rebe mit dem Weinstock. Anschaulicher kann man es kaum sagen. Und es wird dein Leben verändern. Du wirst erkennbar sein, so wie die Stadt Safed über dem galiläischen Land – die Stadt, die auf dem Berg liegt und nicht verborgen bleiben kann.
Jesus sprach anschaulich und warmherzig, nicht dozierend oder überheblich. Doch er sagte auch: „Mit den Ohren hören sie, aber sie verstehen es nicht, denn ihr Herz ist verhärtet.“
Die Unmöglichkeit menschlicher Anstrengung und die Kraft Gottes
Es ist für Menschen unmöglich, aus eigener Kraft jemanden zum Glauben an Jesus zu führen. Wir müssen das Wort des Herrn Jesus in seiner ganzen Tiefe erfassen, was aus menschlicher Sicht unmöglich ist. Aber bei Gott sind alle Dinge möglich.
Die erste Gemeinde des auferstandenen Jesus, ja sogar schon die Jüngerschar, bestand aus Galiläern. Petrus erhielt, wie gesagt, eine besondere Sprache, die sich in der Pfingstpredigt zeigte. Die Pfingstwunder bestanden darin, dass alle, die da redeten, als Galiläer erkannt wurden (Apostelgeschichte 2). War das Wunder, das geschehen war, inmitten von Gottesfinsternis, dass einige Menschen aufwachten? Du, mein Heiland!
Als das bei Petrus geschah, wurde uns klar, was Jesus meinte, als er fragte: Wer bin ich? Bin ich ein Prophet, ein großes Vorbild oder was sonst? Petrus antwortete: Du bist der Sohn Gottes, der Retter. Du bist der, von dem der Prophet gesprochen hat, der Sohn, der uns gegeben ist. Die Herrschaft ruht auf deiner Schulter. Jesus sagte zu Petrus: Diese Erkenntnis kommt nicht von dir. Fleisch und Blut haben sie dir nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.
Das Wunder geschah also bei einem Galiläer: Plötzlich wurde ihm klar, was er an Jesus hat. Als der Galiläer Petrus dann an Pfingsten in Jerusalem Tausenden sagte: „Für euch ist dieser Jesus von Nazareth“, nahm er bewusst den eigentlich als Schmähung gedachten Titel auf. Jesus von Nazareth, König der Juden – ja, von Nazareth, er hält sich zu den Niedrigen. Dieser Jesus von Nazareth wurde von Gott für euch auferweckt.
Und plötzlich geschah es bei Tausenden – nicht, weil Petrus so phantastisch gepredigt hatte, sondern weil bei Gott alle Dinge möglich sind. Selbst ein Fischer aus Nazareth kann vom Segen Jesu zeugen, und Menschen sagen plötzlich: „Das ist es.“ Ich bin dankbar, dass ich sagen kann: Mein Jesus, ich kann zu dir beten und weiß, dass du dich um mich kümmerst, mein Heil bist.
Aber das ist nicht mein Verdienst, nicht meine religiöse Ader, nicht ein außer Kontrolle geratenes religiöses Gen, das mich plötzlich dazu gebracht hat. Nicht einmal der vorbildliche Impuls meiner Vorfahren und Eltern. Sondern welche Mühe muss sich der lebendige Gott gegeben haben, um mich und hoffentlich auch Sie zu erreichen, damit Sie wissen: Mein Heiland ist in meine Gottesfinsternis gekommen.
Wenn die Finsternis überfällt – und das wissen jüngere Menschen ebenso wie wir Älteren – dann können plötzlich dichte Schatten in uns sein, Unmut, Zorn, Ungeduld und Erschrecken darüber, was im Leben daneben gegangen ist. Mein Jesus, der nach Nazareth gekommen ist, will auch in meine Gottesfinsternis hineinkommen und mich nicht loslassen.
Gottes Eifer und die Hoffnung auf Heilung und Gemeinschaft
Solches zu tun, ist der Eifer des Herrn Zeebat nicht nur mein Verlangen, sondern auch die Emotion Gottes.
Ich will es tun, gerade dort, wo alles hoffnungslos scheint, wo Familien so zerstritten sind, dass kein menschlicher Rat mehr helfen kann, wo wir meinen, verdammt und von Gott ausgeschlossen zu sein.
Jesus kam nach Nazaret, in die Gottesfinsternis. Damit Menschen plötzlich froh und dankbar werden und sagen: Herr Jesus, dir lebe ich, dir leide ich, dir sterbe ich, dein bin ich, tot und lebendig.
Mach mich, oh Jesus, ewig selig! Amen.
