Heute steht unser Predigttext in Hesekiel 34. Das Prophetenbuch des Hesekiel ist uns manchmal etwas schwer zugänglich.
Sie kennen aus dem Hesekiel-Buch jedenfalls zwei Stellen gut: eine von dem neuen Herzen, das Gott uns gibt, wo das steinerne Herz aus uns weggenommen wird (Hesekiel 36). Ich hoffe, Sie kennen auch dieses Kapitel vom guten Hirten und von den schlechten Hirten in Hesekiel 34.
Die Anklage gegen die Hirten Israels
Und das Wort des Herrn geschah zu mir: „Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels!“
Es hat mir in der Woche sehr viel Not bereitet, dass wir heute gerade beim guten Hirten ein so starkes Wort gegen die Hirten haben. Wir wollten ja alles gerne positiv sagen, aber das Wort Gottes zwingt uns auch, etwas dagegen zu sagen.
Weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen nicht die Hirten die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett, gleitet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete. Die Schafe aber wollt ihr nicht weiden.
Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht. Das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht. Das Starke aber tretet ihr mit Gewalt nieder.
Meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden. Sie sind zerstreut und umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln. Über das ganze Land sind sie zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.
Darum hört, ihr Hirten, das Wort des Herrn! So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nicht nach meiner Herde fragten, sondern sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten,
darum, ihr Hirten, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott, der Herr: Siehe, ich will an die Hirten herantreten und meine Herde aus ihren Händen fordern. Ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden.
Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, damit sie sie nicht mehr fressen sollen.
Gottes Verheißung als der gute Hirte
Denn so spricht Gott, der Herr: Siehe, ich will mich selbst meiner Herde annehmen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen. Ich will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren, zur Zeit, als es trüb und finster war.
Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln. Ich will sie in ihr Land bringen und sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen. Das Verwundete will ich verbinden, das Schwache stärken und das Fett und Starke behüten.
Ich will sie weiden, wie es Recht ist. Herr, lass uns dein Hirtenamt so groß erkennen. Amen.
Die soziale Verantwortung in der heutigen Gesellschaft
Liebe Gemeindemitglieder, heute spricht man viel von sozialer Verantwortung, die neu entdeckt wurde – und das ist richtig. Schauen Sie sich nur einmal um: In unseren modernen Großstädten sind viele Menschen in die Einsamkeit geraten. Sie kommen abends nach der Arbeit in ihre vier Wände, und dann spricht sie niemand mehr an. Sie drücken auf den Knopf und sehen das Bild eines Fernsehsprechers vor sich. Doch das ist etwas anderes als eine Familie, in der Menschen einen in ihre Liebe hineinnehmen.
Wir sehen, wie dringend das heute ist, wenn ältere Menschen sich plötzlich an den Rand gedrängt fühlen und sagen: „Wir sind allein, wir haben niemanden mehr.“ Wenn unsere jungen Leute aufwachsen und niemanden haben, der sie führt und ihnen ein Vorbild sein kann, haben sie zwar alle Möglichkeiten. Was wird ihnen gegeben? Oft haben sie so viel Geld gespart, dass sie sich einen Fernsehapparat oder bald ein Moped kaufen können. Aber ihnen fehlt die Bindung zu Menschenliebe und Verständnis.
Deshalb ist es klar, dass heute von sozialen Bindungen gesprochen wird. Das spielt auch im Kreis der Christen eine große Rolle. Man sagt, man braucht Fachkräfte und all die Fachbegriffe von Sozialisation und den Möglichkeiten, Menschen aufzunehmen und in herzlichen menschlichen Verbindungen zu verbinden. Das ist wichtig.
Doch wenn wir in der Bibel lesen, erkennen wir noch viel mehr. Wir merken plötzlich: Das, was uns hier gegeben ist, ist sehr wichtig für die Forschung und Sozialarbeit. Dort lernen wir, wie ein Mensch behandelt werden muss, welche psychologischen und soziologischen Voraussetzungen nötig sind, um einem Menschen gerecht zu werden.
Und trotzdem merken wir erst unter dem Wort Gottes: Ein Mensch ist nicht dann eingebettet in Liebe und Verständnis, wenn wir ihm menschliche Bindungen geben. Ein Mensch findet erst dann Heimat und Geborgenheit, wenn er erkennt, dass er zur Herde Gottes gehört und dass der lebendige Gott der Hirte ist.
Da wollen wir doch den Mund nicht halten: Die große Einsamkeit heute herrührt letztlich daher, dass die Menschen keine Heimat mehr bei Gott haben. Sie können nicht mehr beten, sie kennen sein Wort nicht mehr, sie kennen auch seine Liebe nicht mehr. Und dann wirkt sich diese Einsamkeit verhängnisvoll aus.
Dann spürt man die Härte der Menschen so stark. Das alles wirkt sich so aus, dass man heute im Beruf so gefordert ist. Schon in der Schule fängt das bei unseren jungen Leuten an. Von ihnen wird etwas verlangt, was sie gar nicht bieten können, weil ihre Gaben dazu nicht reichen. Sie fühlen sich überfordert.
Dann kommt all das dazu, dass man sich missverstanden fühlt in einer Welt, in der man meint, das Glück sei einem vorübergegangen. Man flüchtet sich in Verzweiflung und Schmerz und bleibt allein in seiner Klage.
Dabei ist nicht allein die Hilfe wichtig, auch wenn sie dazugehört, indem man einem Menschen seine soziale Bindung zeigt. Aber ich bin so froh, dass wir heute dieses ganze Thema einmal von diesem großen Reden Gottes her aufrollen können: Dass er der gute Hirte ist, dass er seine Herde sucht und dass unser Gott heute brennt in Liebe und Erbarmen über dieser Welt.
Gott als Anwalt der Verstreuten
Mein erster Punkt: Ich habe es wieder versucht, ein bisschen zusammenzufassen. Das ist ein Stück geistlicher Zucht bei mir, sonst fliegen die Gedanken wild im Raum herum.
Das Erste, was ich sagen will: Gott ist ein Anwalt der Versprengten. Mich beeindruckt bei unseren Gerichten, wie der Staatsanwalt sein Amt ausübt. Wenn ein Mensch erschlagen wurde und nicht mehr lebt, kann er ja nicht mehr nach seinem Recht rufen, er ist ja tot. Aber der Staat hat ein Amt geschaffen – den Staatsanwalt –, der für den eintritt, der nicht mehr schreien kann.
Der Staatsanwalt hat noch einen weiteren Aufgabenbereich: Er umfasst auch allgemeine Verbrechen, die einfach zum Schutz der Menschen notwendig sind. Der Staatsanwalt muss sein Amt sehr streng für diese Leute verstehen. Deshalb ist es so hart, dass es nicht irgendwelche finsteren Gesellen sind, die eine Freude daran haben, einen Angeklagten möglichst lange ins Gefängnis zu stecken. Vielmehr sind es Menschen, die für andere rufen und schreien.
Und Gott ist dieser Anwalt der verstreuten und verzweifelten Menschen. Manchmal entsteht heute der Eindruck – auch in unseren Gottesdiensten oder in den Verlautbarungen, die wir machen –, als ob wir Menschen wären, die für die Entrechteten der Welt brüllen. Wenn man dann auf die Straße zieht und Kundgebungen für die unterdrückten, entrechteten und ausgebeuteten Menschen macht, muss man sich in Erinnerung rufen: Der heilige Gott ruft von Anfang an für die geknechteten und leidenden Menschen.
Das war so, als ganz am Anfang in der Bibel erzählt wird, wie Kain seinen Bruder Abel totschlägt. Dann ist Gott dieser Anwalt, der ruft: „Wo ist dein Bruder?“ Wir sehen in diesem Kain immer wieder ein Spiegelbild von uns selbst, weil wir diese Frage, die Gott an uns richtet, wegschieben. Wenn wir kein Interesse am Wort der Bibel haben, wenn uns der Gottesdienst langweilt, dann liegt das doch nicht daran, dass Gott nicht konkret redet. Er fragt mich doch: „Wo ist dein Bruder?“ Und das geht uns auf die Nerven, und dann wollen wir diese Stimme loswerden.
So wie Kain es von sich schüttelt und sagt: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Ja, natürlich sollst du deines Bruders Hüter sein! Dass Menschen heute leiden in der Welt, das ist doch unsere Schuld!
Vielleicht haben Sie sich auch schon gefragt, warum wir nicht mitmachen. Es wäre doch auch eine Aufgabe, in einem Gottesdienst die ganze Not heute anzusprechen – diese seelenlose Gesellschaft, diese Gewinnsucht, die Ausbeutung und die kriegführenden Nationen. Wir können doch nicht schreien, weil es uns den Hals zuschnürt. Wir wissen doch, wo uns der Geist Gottes gezeigt hat, wie Menschen unter uns leiden und dass wir mit Schuld sind an diesen Leiden.
Und da ist Gott der Anwalt, der ruft. Damals rief er sein Volk Israel zur Sache, über diese Schafe, die keinen Hirten mehr haben. Heute Morgen, an diesem Sonntag vom guten Hirten, ruft er zu uns: „Seht ihr sie draußen, die Menschen? Seht ihr sie, mit denen ihr zusammenlebt? Schafe, die keinen Hirten haben, Menschen ohne Ziel, ohne Weide, ohne Wasserquelle, die leiden in der Hitze des Tages, die ihre Arbeiten nicht mehr schaffen, die müde sind, die verzweifelt sind und die nichts wissen von Führung und Leitung.“
Da ruft Gott Versagen. Man kann nie von all diesen Weltnöten reden, ohne zu merken: Unser Gott hat uns Verantwortung und die Hirtenfunktion in die Hand gelegt. Und er fragt uns, was wir tun.
Die Frage nach dem Versagen der Hirten
Mein zweiter Punkt: Wer versagt heute? Wer versagt eigentlich heute? Es gibt viele moderne und eindrückliche Antworten darauf, was alles falsch ist und was heute alles nicht richtig läuft. Die Diagnose, die Gott uns hier stellt, ist viel einfacher: Schuld sind die Verantwortlichen des Volkes Gottes.
Ich möchte es Ihnen nicht zu leicht machen, indem ich statt "Hirten" einfach "Pastoren" sage, obwohl das stimmt. Sie dürfen wissen, dass wir es so lesen. Aber es sind Menschen, die einmal begriffen haben, dass sie Hüter ihrer Brüder sind. Haben sie das wirklich erkannt? Wir sind doch im Gottesdienst keine unverbindliche Gesellschaft. Ich weiß, wie ärgerlich es Sie macht, wenn man sagt, man solle einander grüßen und Ähnliches. Dabei geht es nicht darum, einen Klaps auszuteilen, sondern wir sind Hüter übereinander.
Heute wollen wir nichts mehr von Autorität wissen. Wir haben Angst und sagen: Das ist doch schlimm. Aber Gott macht uns dafür verantwortlich, ob der neben mir in seinem Glauben zerbricht. Das geht uns doch an! Ob die Kranken, die jetzt zu Hause liegen und in ihren Zweifeln und Anfechtungen sind, im Glauben durchhalten – das geht uns an! Wir sind doch ihre Hüter. Was aus jungen Menschen wird, die sich am nächsten Sonntag konfirmieren lassen, geht Sie an. Sie können doch nicht die Verantwortung abschütteln und sagen: „Ich habe zwar die Namen gelesen, aber ich kannte sie ja nicht näher.“ Ja, warum kennen Sie sie nicht näher? Warum bleiben wir in der Unverbindlichkeit stehen?
Gott macht uns dafür verantwortlich. Wir sagen: Das ist Tradition, das ist bei uns so geworden. Sie haben konkrete Menschen, die Ihnen Sonntag für Sonntag vor Augen treten. Sie werden in eine Gemeinde hineingeführt, in der man Bindungen eingeht, in der einer den anderen trägt. Wo ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit.
Wer versagt denn heute? Wer sind die Hirten? Wir sind es doch! Und Gott sagt: Meine Schafe werden nicht geweidet. Er hat das in unsere Hand gelegt.
Manchmal kommt jemand ganz plötzlich in einen Gottesdienst herein. Ich möchte Ihnen auch erklären, warum wir manchmal so formlos sind. Das ist keine Freude an der Zerstörung von Ordnungen. Letztlich ist es immer wieder die Unruhe, die ich habe beim Weiden von Schafen, weil ich weiß, wo Menschen herkommen.
Ich möchte es leid machen, dass ich bei jeder nur möglichen Gelegenheit versuche, so nah wie möglich, so menschlich wie möglich zu kommen. Doch nicht, weil Ordnungen nichts wert sind, sondern weil wir immer wieder durchblicken lassen müssen: Merkst du, da geht es um eine menschliche Beziehung von solchen, die zusammengehören und einander beistehen unter der Last, die sie miteinander zu tragen haben?
Das sind die Vorwürfe, die Gott an die Hirten richtet: Sie weiden sich selbst. Ja, warum weiden die Hirten sich selbst? Weil sie so viele Probleme haben, natürlich. „Ich muss gerade mit meinem Glauben selber fertig werden, ich habe gerade selber so viele Fragen, ich bin müde, ich verstehe auch nicht alles in der Bibel“, sagt dann einer. „Und verstehst du bitte, ich habe auch gerade so eine Zeit, in der ich lau bin“, und so weiter.
Die Hirten weiden sich selbst. Und wenn sie mit den Schafen zusammenkommen, sind sie so voll damit beschäftigt, sich selbst zu erbauen. Das wird von Gott als Tadel genommen: Ich gehe in eine Versammlung und möchte mich erbauen, in meinem Glauben Stärkung haben. Und ich merke gar nicht, dass das zusammengehört mit dem Tragen des Schwachen. Ich muss ein Ohr haben für den, der neben mir sitzt: Woran leidet er jetzt? Was hat er? Wo ist einer, der jetzt sucht?
Sie weiden sich selbst. Hauptsache, sie haben etwas, an dem sie sich festhalten können. Dabei geht es nicht um die soziale Frage von Arm und Reich, sondern im Glauben: Hauptsache, sie haben einen gewissen Glauben, Hauptsache, sie können beten, Hauptsache, ihr Glaube ist froh. Sie hat es nie umgetrieben, wo in ihrer Nähe Menschen sind, die nicht mehr lachen können.
Sie sehen nicht das Kranke und Verwundete am Weg. Sie sehen es gar nicht. Und das Starke zertreten sie noch. Das nimmt Gott zum Vorwurf. Die Menschen, die glauben können und gewiss sind, wollen sie mit ihren Fragen verunsichern. Das macht ihnen eine diabolische Freude: Die noch als Starke schwach zu machen.
Gott will in seiner Herde Hirten haben, und er will starke Schafe haben, die wieder zu Hirten werden. Sie sollen für die anderen Mutterschafe werden, die andere führen und leiden können.
Das eine ist: Die Schafe weiden sich selbst. Das andere ist: Sie haben nicht den Blick für das Schwache und Verwundete. Dann kommt es dazu, dass Schafe irregehen.
Wir haben jetzt ja genügend in Israel diese Berge gesehen, wo Steinfelsen liegen und dazwischen eine kleine Narbe Gras. Und da knabbern sie daran herum und versuchen, ein bisschen Futter zu finden.
Und jetzt bitte ich Sie: Reden Sie in Ihrem ganzen Leben nie mehr anders über die Welt, die Sie umgibt. Reden Sie nie hart von den Menschen!
Mitgefühl für die verlorenen Schafe
Es war gestern sehr eindrücklich für mich. Ich hatte ein Jugendtreffen im Oberland und bin dann die letzte Strecke mit dem T-Zug von Ulm gefahren. Dort war ein Mann, richtig lebensfroh, ein Düsseldorfer, der in München lebte. Er trug ein Käppi, auf dem stand: „New man – ich bin ein neuer Mensch“. Das war nicht ganz richtig auf Englisch.
Er prahlte vor allen anderen. Der Schaffner kam dazu und fragte, was er heute Nacht vorhat. Der Mann antwortete, dass er die ganze Nacht durchfeiern wird. Seine Freunde hatten ihn eingeladen, und Geld spiele keine Rolle. Bis zum Morgen hinein feiern sie.
Doch hinter diesem „New man“ sieht man ein Schaf, das in einer Grasnarbe ein bisschen Futter sucht. Wie wird unser Gespräch mit solchen Menschen sein, wenn wir das wissen? Es ist ein verzweifelter Versuch, aus dem traurigen Leben, das sie nur kennen, ein wenig Freude zu gewinnen.
Und was für eine Liebe könnten wir haben – selbst für ablehnende Menschen, selbst für solche, die sich als Atheisten oder als Zweifler im Glauben verstehen? Für junge Menschen, die rebellieren und sagen: „Wir ahnen etwas von dem, was da tobt an Sehnsucht.“ Wir wissen, dass es im Grunde Heimweh ist – Heimweh zum Hirten, nicht zum Menschen, nicht zur Kirche, sondern zum guten Hirten, der sie allein versteht: zu Jesus hin.
Ein Beispiel aus der Kirchengeschichte
Es war im Jahr 1738, Runde in der Leonhardskirche, als Georg Conrad Rieger einen Gottesdienst hielt. Am Vortag, bevor dieser berüchtigte Süßoppenheimer draußen an der Prag gehängt wurde, hatte Württemberg im Auftrag des Herzogs grausam ausgebeutet.
Über diese Person ist viel geschrieben worden. Sie hat nie zu sich selbst gefunden und lebte eigentlich immer in Feindschaft. Zu dieser Zeit fand das größte Volksfest Stuttgarts statt. Viele zogen hinaus, um dieses Schauspiel zu sehen: Nach Jahren der Tyrannei und der furchtbaren Ausbeutung Württembergs hing dieser Mann endlich am Galgen, und alle triumphierten.
Georg Conrad Rieger, der Mann, der Süß Oppenheimer, auch Jud Süß genannt, als Seelsorger bis zur Hinrichtung begleitet hatte, hielt eine Predigt, die heute noch abgedruckt wird. Er fragte die Gemeinde: Wer von euch hat denn einmal für diesen Mann gebetet? Wer hat verstanden, wie dieser Mann nie zum Frieden kam?
Er begann sehr geschickt. Er sagte, es sei richtig, dass man die Bösen bestraft und dass Ordnung in unserem Staat herrschen müsse. Doch dann drehte er die Sache um und fragte: Wie ist das in eurem Leben? Habt ihr den guten Hirten erfahren? Habt ihr euch jemals bemüht, dass ein solcher Mann, den ihr nur gehasst habt, die Liebe Jesu erfährt?
Deshalb fehlen heute Hirten. Es gibt so viele, die verurteilen. Das kann aber nicht der Dienst der Gemeinde Jesu sein – zu verurteilen. Wir werden uns hüten, hier irgendjemanden zu verurteilen, weder die Yankees noch die Kommunisten. Denn das kann nicht unsere Art sein. Stattdessen wissen wir etwas von diesem großen Hirten, der seine Herde führt.
Die Zuversicht auf Gottes Eingreifen
Das war der zweite Punkt: Wer versagt heute? Der erste lautete: Gott ist der Anwalt der Verzagten, der Versprengten.
Noch ein letztes: Doch Gott greift ein, doch Gott greift ein. Sie wissen, dass dieses Wort auch in unserer neueren Zeit wieder zitiert wurde. Ich wollte ein wenig der direkten Rede des Textes entkommen. Sie haben es gemerkt – es wird für uns alle zugespitzt.
Aber es bleibt für uns alle unvergesslich, wie 1966 bei der großen Kundgebung der Bekenntnisbewegung in Dortmund Wilhelm Busch damals ans Podium trat. Er sagte nur drei Sätze:
„Man kann verzweifeln, dass alle Bemühungen heute um eine Heilung der Schäden der Kirche keinen Erfolg hatten. Wenn dann die Mutlosigkeit mich überfällt, dann tröstet mich dieses Wort: Ich will mich meiner Herde selbst annehmen, spricht der Herr.“
Dieses Wort klingt all denen nach, die es selbst gehört oder gelesen haben. Es ist eine ganz mutmachende Hoffnung für unsere Kirche, für unsere Gemeinden und Gruppen. Jesus lässt sein Volk nicht los.
Dabei meint er mit Volk nicht uns, die versagenden Gläubigen, sondern die, die draußen sind. Er lässt die Suchenden, die Heimatlosen, die Verzweifelten nicht los. Da ist seine Treue so groß: „Ich will.“ Dieses „Ich will“ kennen wir aus der Bibel sehr genau, weil Jesus es so oft gesagt hat. „Ich will, ich will“ – das war das Feste in seinem Leben, wie er durch alle Widerstände durchbrach und seinen Plan verwirklichte.
„Ich will“ – und das wird er auch in unseren Tagen tun. Da werden ihn auch keine untreuen Hirten aufhalten, und auch keine versagende Christenheit. „Ich will mich meiner Herde selbst annehmen.“
Er sucht sein Volk. Und dann wird mir ganz groß, wie der Hirte, der gute Hirte Jesus, immer gewaltiger wird.
Das Bild des guten Hirten in Jesu Leben
Ich möchte Ihnen noch einmal ein Bild vor Augen führen, wie Jesus als Hirte ist. Er sitzt da, und die kleinen Kinder klettern über seine Knie. So groß ist seine Liebe! Die Jünger schieben die Kinder weg, doch Jesus hat ein Herz für sie.
Die Pharisäer dagegen – mit ihnen hat er sogar am Abend noch gegessen und gespeist. Doch mitten im Mahl bemerkt er, wie eine bekannte Hure hereinkommt und über seinen Füßen weint. Er sieht das und versteht es. Kein Vorwurf fällt.
Es fällt auf, dass Jesus in seiner damals politisch so bewegten Zeit kein Wort zu politischen Parteien gesagt hat. Warum? Weil er der Hirte für Menschen aus allen Parteien sein wollte. In seiner Jüngergemeinde hatte er sogar Platz für einen Linken, den Simon, der Zelot war. Und er saß eine ganze Nacht lang da, als der konservative Nikodemus zu ihm kam. Denn er wollte Hirte sein.
Wir sind heute doch nicht feige, oder? Es ist kein Kunststück, ein politisches Wort von der Kanzel zu sagen. Dafür bekommt man selten Prügel, höchstens wenn man es allzu ungeschickt macht. Aber was tun wir? Wir spalten Gemeinden. Wir bringen die Herde noch mehr durcheinander, wegen irgendwelcher bedrängender Fragen, die uns heute bewegen.
Was haben wir seit dem letzten Krieg an Spaltung in unserer Kirche erlebt, wegen politisch vorlauter Worte? Wie hat Jesus an diesen schwierigen Fragen um Herodes und die römische Besatzungsmacht vorbeigehen und dennoch Hirte für sein Volk sein wollen?
Er hat die Theologen nicht abgekanzelt. Er ist ihnen als Hirte nachgegangen. Er stand am Grab des Lazarus und wusste, wo Menschen über dem Schmerz zusammenbrachen. Er hat sie alle gekannt und gesucht.
Wer einmal einen Leprakranken gesehen hat, weiß, wie das aussieht – auch wenn es heute ganz anders ist, weil man die Krankheit längst heilen kann. Aber damals legte Jesus die Hand auf diese ekelerregende Krankheit. Er war Hirte.
Die fortwährende Hirtenarbeit Jesu heute
Soll ich Ihnen noch erzählen, was Jesus in unseren Tagen tut? Wir erleben es: Wenn Sie die Augen öffnen, werden Sie erfahren, wie heute eine Bewegung durch die Welt geht. Jesus sammelt seine Herde, erholt Menschen. Manchmal stehen wir dabei und sagen: Das hatten wir gar nicht gewusst.
Es ist ein kleiner Hauskreis irgendwo in Stuttgart. Dort kommen Menschen zum Glauben. Eine kleine Jugendgruppe, und dort erfahren Menschen eine Begegnung mit dem guten Hirten. Der Hirte sieht das Goldstück, in dem er selbst gesprochen hat. Wie die Frau, die dieses verlorene Goldstück in ihrer Wohnung sucht – er bekommt keine Ruhe, bis er dieses eine Goldstück gefunden hat.
Ich wollte Ihnen heute keine Forderung predigen. Ich wollte Ihnen nicht sagen: Seien Sie ein guter Hirte. Vielmehr wollte ich Ihnen bewegend vor Augen malen, wie Jesus Sie als guter Hirte gesucht hat. Wie er trotz Ihres ganzen schmutzigen Lebens Sie mit Erbarmen umfangen hat. Und wie er mit ungeheurer Geduld Ihnen nachlief, um das Verlorene zu finden. Die neunundneunzig ließ er in der Wüste zurück, bis er das Verlorene fand.
Doch am Schluss möchte ich es doch noch sagen: Er hat es ja auch seinen Jüngern gesagt: Weide meine Schafe! Es sind nicht seine persönlichen Schafe, und die Kirchenmitglieder sind nicht die Glieder des Pastors oder des Bischofs. Vielmehr sind sie Glieder Jesu. Und sie werden mit in die Verantwortung genommen für die weltweite Gemeinde Jesu: Weide meine Schafe!
Vorher hat er nur gefragt: Hast du mich lieb, Petrus? Wenn du Jesus liebst, dann kannst du Schafe weiden. Dann hast du eine Art, mit anderen umzugehen – in Liebe und Geduld, im Verstehen und doch mit klarer Führung.
Menschen wollen heute zur Quelle, zum Wasser. Sie brauchen Nahrung, sie brauchen Hirten. Sie können sich nicht herausreden und sagen: Ich will keine Autorität sein. Jesus macht sie zu Hirten, er beruft sie dazu. Amen.
Schlussgebet und Segenswunsch
Wir wollen beten. Herr, wir sprechen vor dir unsere Schuld aus. So leicht richten wir andere. Oft wird aus dem, was wir an Lebensinhalt bei dir gefunden haben, eine Anklage gegen andere. Ebenso entsteht daraus ein überhebliches Reden.
So oft haben wir über diese Welt gesagt, dass sie das Leere sucht und sich im Vergänglichen zu befriedigen versucht. Doch Herr, du redest ganz anders von den Menschen. Du siehst so tief in sie hinein und weißt, dass sie Schafe ohne Hirten sind.
Wir möchten dich bitten: Gib uns diesen Blick für die Menschen, denen wir begegnen. Lass uns keine Fanatiker des Glaubens werden, sondern Hirten sein, die voll Liebe, Mitleid und Verständnis sind. Und gib uns die Gabe und die Entschlossenheit eines Hirten, das Schaf nicht in den Dornen zurückzulassen, sondern es zur Weide zu führen. Lass uns sie dorthin mitnehmen, wo ihr Leben bei dir neu wird.
Wir bitten dich auch über unser Versagen und über das Versagen deiner Christenheit heute. Lass dein Hirtenamt wieder groß werden. Begegne du den Menschen und suche unsere Schuld nicht an den Schafen heim.
Wir denken an so vieles, was wir versäumt haben: an die jungen Menschen, die schon in unserer Gemeinde waren und nicht mehr da sind, an andere, die enttäuscht weggegangen sind. Herr, vergib uns diese Schuld und lass sie nicht dazu führen, dass durch unser Versagen Menschen verloren gehen. Du kannst ihnen nachgehen und sie erreichen.
Wir bitten dich für unsere Kirche und für die Not heute: für den fehlenden Zusammenhalt und für die Verunsicherung. Lass heute wieder Gemeinschaft entstehen – Herden und Hirten. Du kannst sie rufen, du kannst sie einsetzen und werden lassen.
Wir bitten dich jetzt auch für alle, die nicht unter uns sein können, die sich abgeschnitten fühlen – sei es wegen ihrer Krankheiten, ihres Schwermuts oder wegen des Redens der anderen Menschen. Herr, lass uns die Verbindungen sehen, die weit über diesen Gottesdienst hinausgehen, auch die ganze Woche über, die uns allein unter deinem Namen zusammenhalten.
Lasst uns gemeinsam beten:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme,
dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute,
und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen,
denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Hingehen in seinem Namen: Herr, segne uns und behüte uns.
Herr, lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig.
Herr, erhebe dein Angesicht auf uns und gib uns deinen Frieden.