Überblick über die evangelische Theologie der letzten fünf Jahrhunderte
Es geht also heute Abend um die Geschichte der evangelischen Theologie von Martin Luther bis zur Gegenwart. Das sind knapp 500 Jahre, die wir in einem Überblick betrachten wollen.
Vor vier Wochen, als wir das Thema römisch-katholische Lehre hatten, waren es 18 Jahrhunderte, die wir angeschaut haben. Heute Abend also nur fünf. Ich habe das so gemacht, dass ich die Zeit in fünf Gliederungspunkte unterteilt habe, jeweils ein Jahrhundert unter die Lupe genommen.
Ich muss gleich bei den Vorbemerkungen sagen: Natürlich ist es unmöglich, innerhalb von einer Stunde alle Entwicklungen, Verästelungen und Differenzierungen eines so komplexen Themas darzubieten. Ich kann nur Schwerpunkte setzen, einige Schneisen schlagen, Linien verfolgen und Zusammenhänge zeigen – besonders die Zusammenhänge von Theologie und Philosophie.
Das ist ein Hauptdilemma, das ich sehe: Solange es auf dieser Erde Theologie gibt, wurde immer wieder Philosophie hineingemischt. Schon bei den alten Griechen und auch in den letzten Jahrhunderten ist viel Philosophie in die Theologie eingeflossen.
Eine weitere Vorbemerkung, die ich machen möchte, ist folgende: Wie mal jemand gesagt hat, ist die Not des deutschen Volkes die Not seiner Theologen – und die Not der deutschen Theologen ist die Not ihrer Ausbildung an den Universitäten. Das sind zwei ganz wichtige, zentnerschwere Sätze: die Not des Volkes, die Not der Theologen; und die Not der Theologen ist die Not ihrer Ausbildung an den Universitäten.
Ich habe das mal in einem Bild so verglichen: Eigentlich ist unser Land überzogen mit Kirchen und Einrichtungen – so wie unser Boden überzogen ist mit Stromleitungen. Überall verlaufen Überlandleitungen, jeder Punkt in unserem Land kann mit Strom erreicht werden. Mit ein paar Verlängerungskabeln bekommt man überall einen elektrischen Anschluss hin.
So ist es auch geistlich gesehen: Über unser ganzes Land zieht sich ein Netz von Kirchen und Möglichkeiten, das Wort Gottes zu hören, christliche Kreise und Gruppen. Aber die Frage ist, ob Strom in diesem Netz ist, ob da auch etwas fließt.
Der Strom kommt normalerweise aus den Kraftwerken. Und die Kraftwerke sollten die Universitäten sein, also die Ausbildungsstätten der Theologen. Wenn dort keine Kraft produziert wird – sprich, wenn dort kein wirkliches Geistesleben ist, sondern nur das, was man wissenschaftliche Theologie nennt, für die man einen gewissen Intelligenzprozenten braucht und ein bisschen Eifer, aber mehr nicht – dann hindern eigentlich nur die Drähte das ganze Land und verschandeln die Gegend. Es fließt jedoch nichts mehr, es kommt nichts mehr bei den Endverbrauchern an.
Wie weit noch Strom produziert wird oder wie sehr das ganze System hinderlich geworden ist, überlasse ich eurer Beurteilung heute Abend.
Wir wollen jetzt einfach mal zurückgehen in das sechzehnte Jahrhundert, in die Zeit Martin Luthers, und zunächst den geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Zeit betrachten.
Geistige und religiöse Voraussetzungen der Reformationszeit
Da herrschte natürlich der Humanismus der Renaissance vor. Ich erinnere an Michelangelo, der in dieser Zeit seine Kunstwerke schuf – seine unvergesslichen Gemälde und auch Statuen, zum Beispiel den David. Wer die Schäffer-Filme vor zwei Jahren gesehen hat, kann sich an diese fünfzehn Meter hohe Statue erinnern, die von allen Seiten gezeigt wurde: der David.
Diese Statue hatte eine Botschaft, die Michelangelo hineingelegt hat: Der Mensch ist groß. Er zeigt den schönen, idealen und starken Menschen. Er soll ja der David sein, aber eigentlich stellt er den humanistischen Menschen der Renaissance dar. In diesem geistesgeschichtlichen Klima bewegte sich damals Martin Luther.
Der Humanismus der Renaissance verbreitete die Botschaft: Der Mensch ist gut, der Mensch ist groß, der Mensch kann alles schaffen, er ist das Maß aller Dinge. Luthers Partner, mit dem er sich in dieser Richtung auch auseinandersetzte, war Erasmus von Rotterdam, der stark humanistisch beeinflusst war.
Der religiöse Hintergrund: Wir können wohl sagen, dass in dieser Zeit finsterster Katholizismus herrschte. Der Katholizismus hatte verschiedene Phasen durchgemacht, wie wir ja schon hörten, aber damals herrschte wohl der finsterste Katholizismus. Der Ablasshandel blühte. Ich erinnere an Tetzels berühmten Slogan: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“ Es wurde gegen Geld Ablass versprochen – nicht nur für einen selbst, man konnte sich völlig freikaufen, auch noch die Verwandten bis ins x-te Glied. So machte die Kirche natürlich großen Gewinn mit dem angeblichen Seelenheil oder Unheil der Menschen.
In dieser Zeit gab es schon Vorreformatoren. Nicht erst Martin Luther hat einiges bewegt, sondern es waren schon Weichen vorhergestellt worden. Zum Beispiel durch den Engländer John Wycliffe, nach dem heute die Wycliffe-Bibelübersetzer benannt sind. Er hatte wesentliche Gedanken, die Martin Luther später auch in seiner Theologie hatte. Er musste diese Gedanken mit dem Leben bezahlen.
Johannes Hus, der deutsche Vorreformator, wurde am 6. Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen in Konstanz verbrannt, nachdem man ihm freies Geleit zugesichert hatte, dann aber diesen Eid schmählich brach und ihn hinrichtete. Auch in Italien gab es den Dominikanermönch Savonarola, einen gewaltigen Bußprediger, der viele Gedanken der späteren Reformation in seiner Verkündigung hatte.
Da bahnte sich also schon etwas an. Es brach hin und wieder auf, es brodelte bereits. Aber Gott hat es in seiner Weisheit gefallen, einen Mann in besonderer Weise zu gebrauchen. Damit kommen wir zur Reformation.
Martin Luther, der Augustinermönch, war zunächst Jurastudent und hatte sein Studium abgeschlossen. Durch ein besonderes Erlebnis trat er ins Kloster ein: Bei einem Gewitter wurde er auf freiem Feld überrascht und versprach, wenn er lebend davonkäme, ins Kloster zu gehen. Das tat er, erhielt dort die Priesterweihe, wurde Doktor und Professor der Theologie in Wittenberg.
Im Jahr 1515 oder 1516 war er sehr umgetrieben von der Frage: Wie finde ich einen gnädigen Gott? Der Mensch der Renaissance bewegte höchstens die Frage, wie er mehr Wissen über Gott erlangen kann oder wie er noch mehr von Gott erfährt. Luther hatte eine andere Frage: Wie finde ich einen gnädigen Gott? Wie kann ich, ein unheiliger, sündiger Mensch, vor einem heiligen, gerechten Gott bestehen?
Ihr wisst, dass er in der katholischen Tradition stehend zunächst den Weg der Werkgerechtigkeit ging. Er hat sich selbst gekastet, lag mit nacktem Oberkörper auf dem kalten Zellenboden und holte sich dabei auch Gesundheitsschäden. Als er im Jahr 1511 in Rom war, ist er alle Stufen zum Papst auf Knien hinaufgerutscht und hat auf jeder Stufe zahlreiche Gebete gebetet. Das alles brachte ihm keinen Frieden.
Dann entdeckte er bei einer Vorlesung über den Römerbrief, genauer gesagt bei Kapitel 1, Vers 16 und 17, eine neue Erkenntnis. Er schlug im Alten Testament eine Parallelstelle in Psalm 71 nach und fand dort den Satz: „Herr, errette mich durch deine Gerechtigkeit.“
Da ging ihm Römer 1,16 auf: Wir werden durch den Glauben gerecht. Es gibt eine geschenkte Gerechtigkeit – nicht nur die fordernde Gerechtigkeit Gottes, sondern eine geschenkte in Jesus Christus.
Er schrieb einmal selbst, dass es ihm so vorkam, als würde er durch die geöffneten Pforten ins Paradies hineingehen, als ihm das in der Turmstube in Wittenberg aufging. Das war seine Wiedergeburt, die Stunde seiner Bekehrung, die Stunde, in der er mit Gott versöhnt wurde und den gnädigen Gott fand. Er erhielt Heilsgewissheit, da öffneten sich ihm wirklich Augen und Türen, und er bekam einen ganz neuen, tiefen Blick für die Botschaft der Bibel.
Der Beginn und die Ausbreitung der Reformation
Einige Zeit später ging die Bewegung weiter nach außen. Im Oktober 1517 schlug Martin Luther die 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg. Dies gilt weithin als der Beginn der Reformation.
Die Reformation breitete sich in Windeseile über halb Europa aus, und zwar mehr durch Luthers Lieder, die er dichtete, als durch seine Predigten. Er reiste nicht viel umher, sondern hielt sich meistens in Wittenberg auf. Doch seine Lieder zogen durch die Lande, zum Beispiel das Lied „Nun freut euch, liebe Christen, gemein“. Luther konnte einmal sagen, dass Gott durch seine Lieder Menschen bekehrt, während er gutes wittenbergisches Bier trank. So konnte er sich ausdrücken, und das war wirklich so: Die Reformation breitete sich durch diese herrlichen Lieder aus.
Ein weiterer wichtiger Schritt war die Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche, später folgte das Alte Testament. So entstand die Lutherbibel. Außerdem schrieb Luther viele Schriften. Die Weimarer Luther-Ausgabe umfasst, wie ich schon einmal sagte, 150 Bände.
1529 kam es zum Bruch mit Zwingli. An der Abendmahlsfrage gingen ihre Ansichten auseinander. 1530 wurde das Augsburger Bekenntnis verfasst, bei dem Melanchthon federführend war. Diese sogenannte Confessio Augustana enthält viele gute Lehrsätze der Reformation. Allerdings haben sich hier schon erste Fehler eingeschlichen. Zum Beispiel wird das tausendjährige Reich abgelehnt, und Taufe sowie Abendmahl werden als heilbringende Sakramente gesehen – allerdings nur in einem Nebengedanken.
Wenn heute evangelische Pfarrer angestellt oder ordiniert werden, müssen sie unterschreiben, dass sie zu der Heiligen Schrift und zu den lutherischen Bekenntnisschriften stehen. Das bedeutet im Grunde, dass sie anerkennen müssen, dass die Sakramente heilbringend sind und dass es kein tausendjähriges Reich gibt. All diese Dinge sind Teil dieser Bekenntnisschriften.
Schon die Confessio Augustana, diese Augsburger Bekenntnisschrift, weicht in manchen Punkten von der Bibel ab. Die Bibel allein ist die Wahrheit. Auch die Reformatoren hatten nicht in allen Fragen Licht.
Ich will es nicht weiter ausführen, aber Luther hat auch Fehler gemacht. Zum Beispiel in der Tauffrage oder in der Judenfrage hat er sich ganz gewaltig geirrt. Er war Mensch wie wir alle.
Wir verehren nicht Martin Luther. Wir brauchen weder nach Rom noch nach Wittenberg zu pilgern. Wir verehren allein Jesus Christus und folgen allein seinem Wort. Aber wir können von Luther lernen. Gott hat ihn gebraucht, und ich glaube, keiner von uns wäre heute hier, wenn Martin Luther nicht gelebt hätte. Das müssen wir einfach sehen. Wir können uns nicht nur als einzelne Individuen sehen, sondern als Glieder in einer Geschichtskette der Menschheit und auch der Kirchengeschichte.
1555 kam es zum Augsburger Religionsfrieden. Das heißt, die Evangelischen wurden staatlich anerkannt. Der jeweilige Landesfürst bestimmte die Religion – „cuius regio, eius religio“. Auf gut Schwäbisch ausgedrückt: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Das bedeutet, dass die Untertanen sich nach der Religion ihres Landesfürsten, ob katholisch oder evangelisch, ausrichten mussten.
Die Reformation in der Schweiz und die Täuferbewegung
Dann hat sich die Reformation auch in der Schweiz weiter ausgebreitet. Gottes Werkzeug war dort einmal Huldrich Zwingli, der vor allem in Zürich reformierte, und Johannes Calvin, den Gott in Genf gebrauchte.
In Genf herrschten besondere Umstände. Man kann sagen, dass dort für dreizehn Jahre eine Art Gottesstadt ausgerufen wurde. Es war beispielsweise untersagt, während der Predigt einzuschlafen. Wer dabei erwischt wurde, wurde von der weltlichen Obrigkeit bestraft. Ein Mann, der die Dreieinigkeit Gottes lästerte, wurde mit dem Tod bestraft.
Das war die Situation in Genf zu dieser Zeit. Natürlich war es nicht im Sinne Christi, dass in einer Stadt die Ordnungen der christlichen Gemeinde mit behördlicher Gewalt durchgesetzt wurden. Doch genau das geschah damals in Genf. Heute wäre das undenkbar. Der Islam macht Ähnliches, zum Beispiel im Iran. Dort gibt es einen islamischen Gottesstaat, in dem das Gesetz des Koran für jedermann angewendet wird.
Die Täuferbewegung
Es hat in allen Jahrhunderten seit den ersten Christen immer wieder Menschen gegeben, die allein der Bibel gefolgt sind. Diese Menschen gingen oft außerhalb aller bekannten großen christlichen religiösen Gruppierungen ihren Weg. Das hat es immer gegeben.
Es gibt ein Buch, das liegt hinten auf dem Büchertisch und heißt „Die Gemeinde Jesu in Knechtsgestalt“. Dieses Buch ist sehr wertvoll, und ich möchte es später noch zeigen. Ich empfehle jedem, es zu lesen. Darin sieht man, dass es in den letzten 1900 Jahren Christen gab, die den Weg außerhalb der großen Lager gingen, also außerhalb aller religiösen Systeme. Sie folgten nur der Bibel und kamen natürlich zusammen mit Gleichgesinnten, meist jedoch in Verfolgung.
Solche Menschen gab es auch während der Reformationszeit. Sie nahmen die biblische Lehre von der Taufe ernst. 1525 wurde zum Beispiel eine Taufe durchgeführt, wohl die erste, die damals so öffentlich registriert wurde. Leider entwickelte sich die lutherische Reformation bald sehr entschieden gegen die Glaubenstaufe. Diese Menschen wurden als Wiedertäufer bezeichnet.
Der Begriff „Wiedertäufer“ ist emotional sehr belastet. Ich bitte darum, ihn möglichst nicht zu verwenden. Damit sind Leute gemeint, die erkannt hatten, dass die biblische Lehre von der Taufe eine Taufe durch Untertauchen nach dem Glauben ist.
Diese Menschen waren alle als Kinder besprengt worden, entsprechend ihrer Tradition. Als sie dennoch die Taufe durch Untertauchen als Erwachsene und Gläubige praktizierten, wurden sie wieder „Täufer“ genannt. Oft wurden sie in demselben Fluss ertränkt, in dem sie sich wenige Stunden oder Tage zuvor hatten taufen lassen.
Das sind erschütternde Zeugnisse, die zum Beispiel in dem genannten Buch über die Täuferbewegung stehen. Wir haben auch einmal eine Diaserie dazu gesehen. Es ist erschütternd zu wissen, dass Christen, die Jesus Christus liebten und sein Wort in allen Dingen ausführen wollten, von evangelischen Leuten, von der offiziellen evangelischen Kirche, ermordet wurden. Sie wurden getötet, nur weil sie diesen Lehrpunkt der Taufe so aus der Schrift sahen.
Ich muss sagen, diese Blutschuld liegt bis heute auf der evangelischen Kirche. Sie hat sich bis heute nie unter diese Schuld gebeugt. Tausende Menschen wurden getötet und zu Märtyrern gemacht, nur weil sie ein anderes Taufverständnis hatten.
Meine Beobachtung ist, dass der Begriff „Wiedertäufer“ so emotional belastet ist, dass man mit jemandem, zum Beispiel einem evangelischen Pfarrer, über alles reden kann. Aber wehe, man kommt auf die Taufe – dann werden die Leute meist fuchsteufelswild. Man sieht, wie emotional belastet dieser Begriff ist. Ich empfehle daher, ihn möglichst nicht zu verwenden.
1527 wurden die Schleitheimer Artikel verfasst. Wenn man nachliest, was diese Täufer damals aufgeschrieben haben, sieht man, wie sie ihre Feinde liebten – jene, die sie töten wollten, weil sie an der Glaubenstaufe festhielten. Sie leisteten keine Auflehnung, sondern gingen still ihren Weg. Das ist sehr bewegend.
Die Täuferbewegung breitete sich aus in der Schweiz, in Süddeutschland, Sachsen, Hessen, Böhmen, Mähren, Tirol und Holland. Dort sind zum Beispiel die Mennoniten entstanden, die auf Menno Simmons zurückgehen.
Leider gab es in der Täuferbewegung auch traurige Verehrungen. 1534 gab es in Münster viele Schwärmer, die das tausendjährige Reich ausriefen und einen Mann zum König von Jerusalem einsetzten. Solche Verirrungen richteten viel Schaden an. Heute wird oft die ganze Täuferbewegung über einen Kamm mit den Entgleisungen von Münster geschert. Das ist nicht gerecht, denn wir distanzieren uns natürlich von diesen Verirrungen.
Es gab leider viele Märtyrer, wie ich bereits sagte. 1528 wurde ein Edikt erlassen, das die Todesstrafe für Täufer vorsah. Ich wiederhole: Die Kirche hat sich bis heute nicht dafür entschuldigt.
Gegenreformation und die Entwicklung im 17. Jahrhundert
Dann kam es zur Gegenreformation als Reaktion auf die Reformation. Ihr müsst euch vorstellen, dass ein Großteil Europas durch die Reformation im Handumdrehen evangelisch wurde. Österreich, unser Nachbarland, war zu fünfundneunzig Prozent evangelisch. Heute ist es genau umgekehrt: Es ist wieder zu fünfundneunzig Prozent zwangsrekatolisiert, und zwar durch die Gegenreformation.
Diese wurde hauptsächlich durch das Konzil von Trient eingeleitet, das längste Konzil der Kirchengeschichte, aber auch eines der schlimmsten, ja fast das satanischste. Dort wurden 135 Flüche gegen die junge evangelische Reformationslehre ausgesprochen. Ich erwähnte das auch an dem Abend über Katholizismus, zum Beispiel den Fluch: "Verflucht ist, wer seines Heiles gewiss ist."
Dann begann Ignatius von Loyola mit seinen Jesuiten, die Gläubigen mit Stumpf und Stil auszurotten. Ein großer Teil Europas wurde zwangsrekatolisiert. Im siebzehnten Jahrhundert versickerte das durch die Reformation aufgebrochene geistliche Leben langsam, aber sicher wieder und erstarrte.
Orthodoxie bedeutet Rechtgläubigkeit. Doch wir verstehen darunter eine Erstarrung des ursprünglichen geistlichen Lebens, das in der Reformation geschenkt wurde. Es erstarrte zur Rechtgläubigkeit. Das heißt, man hatte nur noch die Lehre, die vermeintlich reine Lehre, aber nicht mehr das Leben dazu.
Man unterteilt die Orthodoxie in Frühorthodoxie – da wirkte zum Beispiel ein Professor Gerhard in Jena – und in Hochorthodoxie, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Paul Gerhard, der Liederdichter, war in diesem dunklen, toten Zeitraum eine ganz helle Flamme. Er schenkte herrliche Lieder in dieser Zeit.
Dann gibt es die Spätorthodoxie, den Ausklang Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Man kann sagen, dass dies die theologische Richtung war. Frömmigkeit und Theologie wurden gleichgesetzt – das ist die Orthodoxie. Es kam zur Theologie der reinen Lehre, ein dogmatisches System wurde auf der Grundlage der Bekenntnisschriften ausgebaut.
Man praktizierte Buchstabengerechtigkeit statt früherer Werkgerechtigkeit. Im Katholizismus versuchte man, durch Werke vor Gott gerecht zu werden. Jetzt driftete man ab in eine Buchstabengerechtigkeit: So steht es, so glauben wir es, aber es hatte kaum noch Auswirkungen auf das Leben.
Beides ist nicht das, was uns die Heilige Schrift lehrt.
In der Orthodoxie kam es auch zu starker Lutherverehrung. Er wurde als der Prophet Gottes für alle Zeiten bezeichnet. Es gibt auch heute noch Gebiete in Europa, wo Luther ganz stark verehrt wird. Dort käme es fast einer Lästerung gegen den Heiligen Geist gleich, wenn man Kritik an Luther äußert. Das ist natürlich nicht in seinem Sinn, darüber würde er sich jetzt gewiss nicht freuen.
Die Orthodoxie hatte verschiedene Auswirkungen: Eine positive und eine negative.
Wir sehen in der Geschichte immer wieder eine Pendelbewegung. Das Pendel schwenkte ganz nach links, in die Erstarrung der Orthodoxie. Dann kam es wieder zurück in die Mitte oder vielleicht sogar nach rechts, in den Pietismus.
Eine positive Auswirkung der Orthodoxie war der Pietismus. Eine negative Auswirkung war die geistesgeschichtliche Epoche der Aufklärung.
Pietismus und Aufklärung im 18. Jahrhundert
Und damit kommen wir ins achtzehnte Jahrhundert. Zuerst einige Gedanken zum Pietismus.
Wenn wir ihn definieren wollen, könnten wir das Wort am besten mit Herzensfrömmigkeit wiedergeben. Vorhin hatten wir nur tote Lehre im Kopf: Buchstaben, Dogma, System, so ist es. Jetzt jedoch ein anderer Akzent, ein anderer Pendelschlag – Herzensfrömmigkeit.
Von den Gegnern des Pietismus wurde diese Art der Frömmigkeit spöttisch „Frömmlertum“ genannt. „Pietisten“ war ursprünglich ein Spottname, die „Frömmler“. Den Beginn des Pietismus setzt man im Jahr 1675 durch Philipp Jakob Spener an. Er schrieb ein Büchlein mit dem Titel „Pia desideria“ – auf Deutsch „Fromme Wünsche“. In diesem Buch entfaltet er einige ganz wichtige Gedanken, weshalb man diese Bewegung, die damals begann, Pietismus, Herzensfrömmigkeit oder eben Frömmlerei nennt.
Der Pietismus hat im Lauf der Zeit ganz verschiedene Prägungen entwickelt. Man spricht vom lutherischen Pietismus, der durch den lutherischen Pfarrer Philipp Jakob Spener geprägt wurde, der in Frankfurt und Berlin wirkte. Dann gibt es den reformierten Pietismus, dessen Hauptvertreter Gerhard Terstegen ist. Weiterhin den hallischen Pietismus mit August Hermann Francke, den Herrnhuter Pietismus mit Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und den württembergischen Pietismus, dessen Hauptvertreter Johann Albrecht Bengel war.
Gerade dieser letzte, der württembergische Pietismus, ist sehr eng und streng an die Kirche gebunden und angelehnt, also sehr kirchenverbunden.
Dann gibt es die andere Richtung, die aus der Orthodoxie entstand. Diese nennen wir Rationalismus oder auch Liberalismus. Bleiben wir beim Begriff Rationalismus, abgeleitet von Ratio, also Verstand oder Vernunft.
Wegbereiter und Hauptvertreter waren deutsche und französische Philosophen. Zum Beispiel Leibniz – der übrigens nichts mit den gleichnamigen Keksen zu tun hat –, Lessing mit seiner berühmten Schrift „Der Ringparabel“ und Voltaire, der Franzose, der radikalste und kirchenfeindlichste Vertreter der Aufklärung. Er hat schlimme Sätze gesagt, aber wahrscheinlich hat er nie in seinem Leben einen echten Christen kennengelernt. Alles, was ihn umgab, waren Namenschristen, soweit man das heute überprüfen kann.
Auch der deutsche Philosoph Immanuel Kant war ein wichtiger Vertreter. Er hat klassisch definiert, was Aufklärung bedeutet – und das hat nichts mit sexueller Aufklärung zu tun. Für Kant ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Damit meinte er unter anderem, dass der Mensch des Mittelalters und der Antike so lange Zeit unter der Vorherrschaft der Kirche gelebt hatte. Die Kirche – hauptsächlich die römisch-katholische, später auch die neu entstandene evangelische – bestimmte, was in der Gesellschaft und im Denken erlaubt war und was nicht.
Die Aufklärung brachte eine ganz neue Freiheit der Gedanken, der Systeme und der Philosophie. Auch im Blick auf die Religion wurden vermeintliche Fesseln abgeschüttelt.
Bald darauf entstand der Rationalismus in der Theologie. Es ist oft so, dass sich zuerst eine philosophische, eine rein geistesgeschichtliche Bewegung bahnbrach. Erst mit ein paar Jahren Zeitverzug kam diese dann auch in die Theologie. So ist es bis zum heutigen Tag, dass meistens Nachzügler in das Theologische einsteigen.
Der Rationalismus in der Theologie entstand und sagte einfach: Die Vernunft ist der Maßstab auch für die Theologie. Eine übernatürliche Offenbarung wurde abgelehnt. Das heißt, die Bibel wurde nicht mehr als von Gott inspirierte Schrift aus der Ewigkeit betrachtet. Das wurde einfach abgelehnt.
Die Bibel galt nun als ein Buch wie jedes andere. Es finden sich fromme Gedanken und religiöse Erfahrungen darin, beispielhaft besonders im Menschen Jesus von Nazareth, aber keinerlei göttliche Offenbarung.
Der Glaube wurde zur Tugend umfunktioniert, Wunder wurden zu Mythen, die Theologie zur Religionswissenschaft. Das waren die Auswirkungen des Einbruchs der Aufklärung in die Geistesgeschichte und dann in die Theologie.
Ein Theologe, den man schwer einordnen kann, weder in das Pietismus- noch in das Rationalismusjahrhundert, habe ich hier einfach mal zwischengefügt. Er lebte in dieser Zeit: Friedrich Schleiermacher, Professor in Berlin.
Er definierte Religion als das schlechthin Abhängigkeitsgefühl. Ein richtiges Element hat er da erkannt. Hermann Betzel zum Beispiel konnte sagen: „Frömmigkeit ist der Entschluss, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu betrachten.“ Das stimmt.
Frömmigkeit ist der Entschluss, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu betrachten, nämlich in einem Kindesverhältnis zum Vater zu stehen. Aber dieses Glück entdeckte Schleiermacher nicht. Er fand das Meer negativ – als schlechthin Abhängigkeitsgefühl von Gott.
Er lehnte Sünde als Übertretung von Gottes Gesetz und die Existenz des Teufels ab. Das Leiden, Sterben und Auferstehen Christi waren für ihn nicht wichtig. Entscheidend war für ihn nur die Person Christi, hauptsächlich natürlich als Vorbild, dem man nachfolgen konnte.
Historisch-kritische Theologie und Biblicismus im 19. Jahrhundert
Ins neunzehnte Jahrhundert hinein geschahen ganz gewaltige Veränderungen. Die sogenannte historisch-kritische Theologie brach sich Bahn. Einer ihrer Gründerväter und Bahnbrecher war David Friedrich Strauss (1808–1874), ein Theologe in Tübingen. Er hatte folgenden Grundsatz: Das Geschehen in der Bibel muss in Übereinstimmung mit dem Geschehen in der Welt stehen, wenn es historisch echt sein soll.
Dieser Satz klingt auf den ersten Blick nicht schlecht, doch bei genauerem Nachdenken und Reflektieren merkt man, dass es ein ganz falscher Ansatz ist. Es wird einfach der Maßstab der weltlichen, historischen Profangeschichte genommen. Alles, was sich mit diesem Maßstab messen lässt, wird akzeptiert. Was sich nicht messen lässt, wird abgelehnt und herausgefiltert.
Folge davon war, dass Strauss alle Wunderberichte der Bibel radikal ausschloss. Er war einer der ersten Theologen, die so radikal vorgingen. Atheisten hatte es schon früher gegeben, die die Bibel ablehnten. Doch hier waren es Theologen, die anfingen, die Bibel so auszuhöhlen. Strauss’ Dogma war einfach: „Das Wunder ist das Merkmal des Ungeschichtlichen.“ Die Aufgabe der Theologie sei es, Entmythologisierung zu betreiben.
Mythos bedeutet Märchen, Sage oder Legende. Strauss behauptete, die Bibel sei voller Mythen, Märchen und Legenden. Die Theologie müsse nun entmythologisieren. Diesen Begriff griff später ein anderer Theologe namens Bultmann wieder auf, mit dem wir heute Abend abschließen werden.
Das Neue Testament wurde entmythologisiert. Strauss wollte vor allem zwischen dem dogmatischen Christus und dem historischen Jesus unterscheiden. Dabei wurde das auseinandergepflückt: Der dogmatische Christus ist die Idealgestalt, die man sich wünscht und an die man gerne glaubt. Diese Gestalt wurde hochstilisiert und aufgebauscht. Der historische Jesus hingegen war ein Mensch wie wir, dem nur einiges angedichtet wurde.
Strauss schrieb ein Buch mit dem Titel „Das Leben Jesu“. Dieses Buch, erschienen 1835, hatte eine sehr verhängnisvolle Wirkung. Unter anderem zerstörte es den Glauben von Friedrich Engels. Ich glaube nicht, dass ein echter biblischer Glaube durch ein Buch zerstört werden kann. Trotzdem löste sich der damalige Glaube Friedrich Engels’ in Wohlgefallen auf, nachdem er Strauss’ Buch gelesen hatte.
Ein weiterer Theologe der historisch-kritischen Schule war Albrecht Ritschl. Ritschl lehrte, der Zorn Gottes sei keine Wirklichkeit, sondern ein radikales Missverständnis des Menschen. Christus befreie uns von diesem Missverständnis durch die Offenbarung der Liebe Gottes.
So entstand eine Zweiteilung der Bibel: Im Alten Testament wird Gott als grausamer, rächender und zorniger Gott dargestellt, vor dem man Angst haben muss. Im Neuen Testament dagegen ist Gott der Gott der Liebe. Christus befreit uns von dem alttestamentlichen Gottesbild. Dieser Grundzug findet sich auch in der modernen Theologie wieder, insbesondere bei den Schülern Bultmanns.
Dabei wird übersehen, dass auch im Alten Testament der Gott der Liebe sichtbar wird. Ebenso wird im Neuen Testament der Zorn Gottes ganz klar bezeugt und angekündigt gegenüber denen, die sich der Botschaft Gottes nicht beugen.
Eine biblische Kritik an Ritschl besagt: Wer vom Zorn Gottes nicht mit letztem Ernst spricht, spricht schließlich auch von der Gnade nicht mit letztem Ernst. So wird das Reden von der Gnade zu einer Phrase. Gnade wird zur „billigen Gnade“, mit der man keine Katze mehr hinter dem Ofen hervorlocken kann.
Blumhardt von Möttlingen sagte vor etwa hundertfünfzig Jahren: „Die ständige Predigt von der Liebe Gottes macht unser Volk immer gottloser.“ Stellt euch vor, was er heute sagen würde!
Nicht dass wir ins andere Extrem fallen wollen und nur den Zorn Gottes predigen – das auch nicht. Aber beides ausgewogen zu predigen, gibt der Botschaft das richtige Gewicht. So werden Menschen zur Umkehr und zum echten biblischen Glauben geführt. Sonst ist es, als wolle man ein Kind nur mit Schokolade großziehen. Das geht nicht. Das Kind wird krank und stirbt unter Umständen sogar.
Zweitens: Im neunzehnten Jahrhundert entstand eine andere Bewegung, die man Biblicismus nennt. Wie das Wort schon sagt, geht es hier stark um die Bibel. Der Biblicismus ist eine Sammelbezeichnung für bibelgebundene Theologie. Er entstand als Antwort auf den Rationalismus, auf die historisch-kritische Theologie, die von ihren Kritikern auch „hysterisch-kritisch“ genannt wurde – aber das nur am Rande, das ist polemisch.
Die historisch-kritische Theologie wurde durch einen anderen Pendelschlag beantwortet: durch die biblicistische Theologie. Hauptvertreter waren Johann Tobias Beck, Professor in Tübingen, Martin Kähler, Professor in Halle, Julio Schniewind, Professor in Halle und Greifswald, sowie Adolf Schlatter, ebenfalls Professor in Tübingen.
Diese Theologen haben Beachtenswertes gesagt und gelehrt. Sie lebten selbst eine Frömmigkeit, die viele Studenten zum echten biblischen Heilsglauben führte. Als Professoren konnten sie durch ihre Vorlesungen viel bewirken. Vielleicht haben sie manches gesagt, was wir so nicht direkt in der Bibel sehen würden. Trotzdem hielten sie insgesamt an der Bibel fest – als Offenbarung Gottes, als Gottes Wort, das nicht Fehler enthält.
Dadurch hatten sie einen weithin positiven Einfluss, auch durch ihre Schriften und ihre Wirkung. Der Biblicismus brachte das Ansehen der Bibel als Offenbarung Gottes neu zum Bewusstsein. Er sah Altes und Neues Testament als Einheit an und wies Angriffe auf die Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift im Großen und Ganzen zurück.
Theologie im 20. Jahrhundert: Kierkegaard, Barth und Bultmann
Nun kommen wir in einem letzten Gedankengang zum zwanzigsten Jahrhundert. Bevor wir damit beginnen, müssen wir jedoch einen Exkurs machen. Ich drehe noch einmal die Kassette zurück: Das zwanzigste Jahrhundert brachte einen dänischen Philosophen hervor, der Søren Kierkegaard hieß. Er lebte von 1813 bis 1855 und gilt als Begründer der sogenannten dialektischen Theologie – wieder so ein schwieriger Begriff.
Mit Dialektik wird eine Sichtweise beschrieben, bei der man mit zwei gegensätzlichen Aussagen eine Wahrheit erfassen will. Man beschreibt die Wahrheit also nicht nur aus einer Perspektive, sondern aus zwei gegensätzlichen Aussagen zusammen. Hier lieferte der Philosoph Hegel die Grundlage durch sein System, das immer eine These und eine Antithese umfasst, aus deren Spannung eine Synthese entsteht. Somit muss man These und Antithese zusammen betrachten, um eine Wahrheit zu erhalten, nämlich die Synthese als Ergebnis.
Hegel war der Vorreiter, und sein System prägte das Denken der Neuzeit stark. Kierkegaard kannte dieses System und wurde somit Wegbereiter der dialektischen Theologie sowie des Existenzialismus dieses Jahrhunderts. Zu den bedeutenden Vertretern des Existenzialismus zählen Sartre und Camus, im theologischen Bereich Barth und Bultmann, die wir gleich noch kennenlernen.
Kierkegaard lehrte drei Stadien im Leben eines Menschen, in einer Existenz: das ästhetische, das ethische und das religiöse Stadium. Das ästhetische Stadium beschreibt den Genussmenschen, also einen Menschen, der zunächst ausschließlich für die sichtbaren, zeitlichen und schönen Dinge lebt. Er lebt nur für das irdische Vordergründige, freut sich an einem Glas Bier, gutem Essen und Ähnlichem.
Das ethische Stadium beginnt, wenn der Mensch zum Absoluten kommt und vor der Wahl zwischen Gut und Böse steht. Er erkennt, dass es eine Instanz, ein Absolutes gibt, das ihn in Frage stellt und in Verantwortung setzt. Er muss zwischen Gut und Böse wählen – das nennt Kierkegaard das ethische Stadium.
Das religiöse Stadium beschreibt Kierkegaard so: Wenn der Mensch Reue über seine Sündhaftigkeit zeigt, über sein falsches Leben, und angesichts der Forderung Gottes den im Glauben gegenwärtigen Christus erfasst, vollzieht sich nach seiner Sicht die Synthese. So lebt er in der Existenz.
Das ist philosophisch etwas schwer, aber es war der Vorbau für die gleich folgende Theologie von Karl Barth. Kierkegaard verstand unter dem Existentiellen vor allem die Synthese von Zeitlichem und Ewigem. Der ewige Gott und ich als zeitlicher Mensch finden in Christus zusammen. Christus ist die Synthese zwischen Gott auf der einen Seite und mir, dem sündigen Menschen, auf der anderen.
Hier steht die Synthese: In der Mitte Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch. In ihm fallen Ewigkeit und Zeit zusammen, der heilige Gott und der unheilige Mensch. Wieder wurde das Hegelsche Prinzip angewendet und somit zur Existenz weitergeführt.
Karl Barth (1886–1968) – jetzt kommen wir fast in unsere Zeit hinein – ist ein wichtiger Theologe, zu dem ich etwas ausführlicher eingehen möchte. Von den 25 evangelischen Theologinnen und Theologen, die wir heute in Deutschland haben, sind nach meiner Schätzung etwa 20 stark von Karl Barth geprägt. Das sind immerhin vier Fünftel. Ein Großteil unserer Theologinnen und Theologen ist also ganz entscheidend von Karl Barth beeinflusst, zum Glück nur ein kleinerer Teil von Bultmann. Was davon besser oder schlimmer ist, muss offenbleiben.
Ein Blick in Karl Barths Leben: Er wurde als Schweizer in Basel geboren und wuchs in Bern auf. Das ist nichts Schlimmes. Er studierte Theologie in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg. 1911 wurde er Pfarrer einer kleinen Landgemeinde in Savenwil im Kanton Aargau. 1919 schrieb er einen Römerbriefkommentar, der ihn international bekannt machte.
Ab 1921 wurde er als Professor nach Göttingen berufen, später nach Münster und dann nach Bonn. Dann kam das Dritte Reich. Hitler kam 1933 an die Macht und propagierte mit Rosenberg und anderen das sogenannte deutsche Christentum, die „deutschen Christen“. Es entstand der Kirchenkampf, und Barth wurde der geistige Führer der Bekennenden Kirche im Dritten Reich.
Einer seiner großen Verdienste war die sogenannte Barmer Erklärung von 1934, von der ich garantiert einen Großteil auch heute noch unterschreiben könnte. Die Barmer Erklärung stammt maßgeblich aus der Feder von Karl Barth. Von 1935 bis 1968 musste er dann in seine Heimat, die Schweiz, zurückkehren, weil er unter den Nationalsozialisten nicht mehr lehren durfte.
Sein Hauptwerk war die sogenannte Kirchliche Dogmatik, in Fachkreisen nur Kd genannt – die größte und umfangreichste Dogmatik der Kirchengeschichte mit über zehntausend Seiten hochgestochener Theologie. Unglaublich, was dieser Mann da zusammengeschrieben hat. Neben anderen Büchern ist die Kirchliche Dogmatik das zentrale Werk, und jeder Theologe, der irgendwo auf der Welt Theologie studiert, muss sich irgendwann mit der Kd von Karl Barth beschäftigen.
Kommen wir nun zu seiner Theologie. Barths Theologie ist von drei Grundprinzipien geprägt, die den Charakter von Axiomen, also festen unumstößlichen Wahrheiten, annehmen.
Erstens: Der Mensch kann von sich aus nichts über Gott wissen. Das stimmt hundertprozentig. Alle wirkliche Theologie muss daher Offenbarungstheologie sein. Das stimmt auch. Theologie kann sich nicht vom Menschen aus, also vom Verstand, von Gefühlen oder anderen Dingen her, etwas über Gott sagen, sondern sie muss Offenbarungstheologie sein. Gott hat sich in seinem Wort geoffenbart. Bis hierhin liegt Barth richtig.
Zweitens: Religion geht nicht auf Offenbarung zurück – das gilt für alle Religionen dieser Welt. Er verstand darunter nicht nur den Islam, Buddhismus und andere Religionen, sondern jegliche Form von Religion. Für ihn ist Religion wesenhaft Unglaube. Alles, was sich nicht aus der Bibel ableitet, ist bei ihm Religion und damit Unglaube. Auch hier hat er Recht. Die Religionen haben keine göttliche Offenbarung. Gott hat sich nicht im Koran geoffenbart, nicht in den hinduistischen Veden und nicht in der buddhistischen Bhagavadgita. Gott hat sich nur in der Bibel offenbart.
Drittens: Jesus Christus ist das eine Wort Gottes an die Menschen, und die Bibel ist das Zeugnis dieser Offenbarung. Das klingt auch richtig, ist aber im biblischen Sinne schon eine Verschiebung. Barth sagt nämlich, die Bibel sei nicht das Wort Gottes, sondern nur das Zeugnis des Wortes Gottes. Das Wort Gottes ist nach Barth allein Jesus Christus, das Wort wurde Fleisch. Er ist das Wort Gottes, aber die Bibel ist nur die Beschreibung dieses Wortes Gottes. Das ist ein feiner, aber gravierender Unterschied.
Im Römerbriefkommentar von 1919 entfaltet Barth folgende Sicht: Die Welt steht samt aller Anstrengungen des Menschen unter Gottes Gericht. Das stimmt ebenfalls. Das Kreuz Jesu ist das Zeichen dieses Gerichts. Auch das ist richtig. Das Kreuz ist zunächst ein Nein Gottes zur Sünde und Verlorenheit des Menschen und zu all seinen Versuchen der Selbsterlösung. Da sieht er etwas Richtiges.
Allerdings wird bei Barth jeder Glaube, der in irgendeiner Weise Gestalt gewinnt, sofort zur Religion und damit zur Eigenmächtigkeit und Sünde. Sobald Glaube sich irgendwie äußert, subjektiv wird, persönlich wird, sobald man glaubt, etwas ergreift oder für sich nimmt, ist es für ihn bereits Religion und damit abzulehnen.
Er geht so weit zu sagen, Glaube sei nur noch ein Hohlraum, in den sich Gottes Treue ergießt. Das ist nicht biblisch. Glaube ist kein Hohlraum, sondern Vertrauen. Glauben heißt Vertrauen. Es ist kein leerer Raum. Aber Barth lehnt das Subjektive, das Persönliche völlig ab und bleibt nur das Objektive, was Gott tut, übrig. Er überbetont das Objektive und verneint jegliches Subjektive des Menschen.
Nicht das Vertrauen und das Ergreifen dieser Treue Gottes ist der Glaube, sondern diese göttliche Treue selbst. Das stimmt nicht. Die Bibel lehrt den Glauben als Vertrauen, als Festhalten und Nehmen der biblischen Aussagen und der Person Jesu Christi selbst.
Beim Durchdenken der alten Prädestinationslehre, also der Vorherbestimmungslehre von Calvin, vollzieht Barth eine radikale Wende. Aus etwas Bedrohlichem und Düsterem, wie es bei Calvin war, wird bei ihm die Grundlage einer allgemeinen Heilsgewissheit.
Wie geht das? Barth sagt: Gott erwählt Christus und wendet sich in Christus der Menschheit zu. Die Folge ist: Außerhalb von Christus gibt es kein Heil, und innerhalb von Christus gibt es kein Unheil mehr.
Am Kreuz hat Christus und in ihm die ganze Menschheit Verwerfung erfahren, als er sterben musste. Dann hat Christus und in ihm die ganze Menschheit Wiedererwählung erfahren, als er am dritten Tag auferweckt wurde. Somit ist die ganze Welt jetzt in Christus, und außerhalb von Christus gibt es kein Heil. Aber innerhalb von Christus gibt es kein Unheil.
Damit sind alle jetzt in Christus und damit faktisch gerettet, also des Heils teilhaftig. Das ist eine theologisch verbrämte Allversöhnungslehre. Barth bringt mehr und mehr das große Ja Gottes zum Ausdruck, dass Gott in Christus über seine Schöpfung und seine Menschen spricht.
Barth weitet dieses Ja so allseitig aus, dass es außer diesem Ja nichts anderes mehr gibt. Das Heil ist in Christus erschienen, und niemand kann, weder durch Glauben noch durch Unglauben, etwas dazu- oder davon tun. Faktisch steht Karl Barth auf dem Boden der Allversöhnung. Es gibt bei ihm kein Verlorengehen mehr.
Ich habe euch eben gesagt: Die Kirchliche Dogmatik umfasst zehntausend Seiten Theologie. Ein zentrales neutestamentliches Wort wird darin nicht ein einziges Mal zitiert, nämlich 1. Korinther 1,18: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden.“ Dieses zentrale neutestamentliche Wort kommt bei Karl Barth nicht vor. Verloren werden ist bei ihm vorbei.
Emil Brunner, ein Schüler Barths, sagt: Bei Karl Barth schwimmen alle Menschen im seichten Wasser, niemand kann ertrinken. Alles ist geschehen, keiner ist ausgeschlossen.
Darum gibt es bei Barth auch keine Umkehr oder Bekehrung im Sinne des Neuen Testaments. Bekehrung ist für ihn Teilhabe an der in Christus schon vollzogenen Bekehrung. Wörtlich sagt er: „Wer dürfte dem, was seine oder eines anderen Menschen Bekehrung betrifft, im Ernst um einen anderen Termin wissen wollen als um den Tag von Golgatha, an dem er die Wende und Veränderung der menschlichen Situation an unserer Stelle für uns alle vollzogen hat?“
Er sagt also, am Kreuz von Golgatha hat sich die ganze Welt bekehrt. Meine Bekehrung hat sich schon in Christus ereignet. Am Kreuz hat sich der Zorn Gottes ein für allemal entladen. Am Kreuz sind Gericht und Hölle für immer erledigt.
So können wir ganz leicht die Barthianer erkennen, also die von Karl Barth geprägten Theologen. In deren Verkündigung hört man kein Wort vom Zorn Gottes, kein Wort von Gericht, kein Wort von Hölle und kein Wort vom Verlorengehen.
Sei es bei einer Beerdigung: Da kann der größte Sünder und Gottloseste beerdigt werden, ohne dass ein Wort davon fällt. Der Bruder oder die Schwester wird einfach zur letzten Ruhestätte geleitet. Oder bei anderen Predigten, selbst wenn im Predigttext das Wort von Bekehrung steht, wird es nicht in diesem Sinne ausgelegt.
Es gibt auch keine Evangelisation mehr. Ich habe einen Pfarrer in meiner engen Verwandtschaft, der ist schon dreißig Jahre im Pfarrdienst. Überall, wo er war, hat es nie Evangelisation gegeben in seiner Kirchengemeinde. Wozu auch? Alle sind in Christus erwählt, haben sich am Kreuz bekehrt, der Zorn Gottes ist erledigt.
Barthianer haben mit Evangelisation nichts mehr zu tun. Auch Mission ist im Grunde nicht mehr nötig. Wenn überhaupt, dann nur noch unter Heiden oder so. Dann hat Mission nur noch Informationscharakter. Das heißt, den Menschen wird gesagt: „Wisst ihr nicht, dass ihr schon lange am Kreuz von Golgatha bekehrt seid? Jetzt lebt auch so, ihr seid schon lange bekehrt. Ihr seid Christen!“
Karl Barth spricht von einer latenten Kirche und einer offenbarten Kirche. Die latente Kirche ist die verborgene Kirche, in der alle Menschen auf der Erde sind – auch Moslems, Hindus und alle, die noch nicht wissen, dass sie schon am Kreuz bekehrt sind. Die offenbare Kirche, der wir vielleicht angehören, weiß, dass sie bekehrt ist.
Mission hat somit nur noch einen Informationscharakter, aber nicht mehr die dringliche Botschaft zur Umkehr und zum Glauben, die wirklich ein Menschenleben verändern kann.
Ihr merkt, wie gefährlich diese Theologie ist. Sie ist vielleicht unter Umständen gefährlicher als die von Bultmann, gerade auch für viele Christen. Bultmann ist bekanntlich ein rotes Tuch. Aber Barth ist ein Theologe, der alle paar Wochen im Losungsbuch mit einem Gebet, einem Liedvers oder Ähnlichem vertreten ist. Was kann bei Karl Barth schon falsch sein? Ein Mann, der sich im Dritten Reich im Kirchenkampf bewährt hat und von dem die Barmer Erklärung stammt – und dieser Mann hat letztlich eine verhängnisvolle Theologie begründet.
Ich habe hier ein Buch von Heinrich Jochums, einem Mann, der Karl Barth sehr genau kannte, persönlich kannte und studiert hat wie kaum ein anderer. Er hat sein Buch über Barth „Die große Enttäuschung“ genannt. Ich habe es meinem Schwager geschenkt, ich weiß nicht, ob er es bis heute gelesen hat. Die große Enttäuschung – ja, das ist die Theologie von Karl Barth, trotz mancher positiver Ansätze, die er ursprünglich hatte.
Barths Schüler sind hauptsächlich Emil Brunner und auch Rudolf Bultmann. Bultmann ist ein Schüler von Karl Barth. Es ist interessant zu wissen, dass sich Karl Barth zu seinen Lebzeiten nie öffentlich ganz klar von Rudolf Bultmann abgegrenzt hat. Im Gegenteil, sie standen in Verbindung und waren Zeitgenossen, die viele Jahrzehnte zusammen lebten und lehrten.
Damit kommen wir zu dem letzten Theologen, den wir länger betrachten wollen: Rudolf Bultmann. Das sind die zwei großen Theologen dieses Jahrhunderts, die zwei verhängnisvollsten.
Von Deutschland ist viel Segen ausgegangen zur Zeit der Reformation und auch zur Zeit des Pietismus. Aber in diesem Jahrhundert ist von demselben Land viel Fluch ausgegangen – theologischer Fluch, der wieder in die ganze Welt exportiert wurde. Wir sind ja Exportweltmeister, wirtschaftlich und auch geistesgeschichtlich.
Bultmann war Professor in Marburg, ein frommer Mann, der auf dem Harmonium Reichslieder spielte – also solche Glaubenslieder, wie wir sie singen – und den Studenten verheerende Theologie lehrte.
Was hat Bultmann angerichtet? Er ist der Begründer der formgeschichtlichen Schule. Diese geht davon aus, dass die Christenheit nicht zwischen den wirklichen Jesusworten und dem, was ihm in den Mund gelegt wurde, unterschieden hat. Letzteres nennt man Gemeindetheologie. Man musste also unterscheiden, was Jesus angeblich wirklich gesagt hat und was ihm nur von seinen Schülern in den Mund gelegt wurde – höchste Form der Bibelkritik.
Dann liegt es beim Menschen, beim Theologen, beim frommen Menschen, zu entscheiden, was nun im Neuen Testament wirklich biblische Lehre und göttliche Offenbarung ist und was nicht. Das ist die berühmte Apfelsinenschalenmethode: Man muss die Bibel wie eine Apfelsine nehmen und die Schale entfernen, bis man das Essbare hat. Die Schale muss entfernt werden.
Bultmanns Entmythologisierungslehre – ein Zungenbrecher – meint die Lehre, dass man alles Übernatürliche aus der Bibel herausfiltern muss.
Bultmanns Kernsatz lautet: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ (Neues Testament und Mythos, Seite 18)
Die Folge war, dass Bultmann alles, was nicht mit dem menschlichen Verstand erklärbar war, aus der Bibel herausfilterte oder umdeutete.
Zwei Beispiele, die ich vielleicht schon mal erwähnt habe:
Die Speisung der Fünftausend, ein biblisches Wunder, das in mehreren Evangelien berichtet wird. Bultmann sagt: Wie kann man das erklären? Ganz einfach: Jesus hat psychologische Kenntnisse angewandt. So legt das auch Trebermann aus, der die Bibel tiefenpsychologisch deutet. Er sagt, Jesus hat die Leute angesprochen, damit sie ihren Egoismus überwanden. Sie hatten alle ihr Brot dabei, ihren Geiz, ihren „Feschbein“ in der Tasche, wollten nicht heilen und wollten dem anderen nichts abgeben. Jesus hat sie psychologisch mit einigen Kenntnissen überwunden, sie haben dann geteilt und alles abgegeben, und die Fünftausend waren satt.
Das Wunder der fünf Brote und zwei Fische, bei dem zwölf Körbe voller Reste übrigblieben, erklärt er nicht. Ihr seht, das ist keine biblische Lehre.
Oder die Auferstehung Jesu: Bultmann sagt, natürlich ist Jesus auferstanden, selbstverständlich – im Glauben der Jünger, in ihrer Vorstellungswelt. Mit anderen Worten: Sie konnten sich nicht abfinden damit, dass er tot war. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Jesus war tot, sie haben den Leichnam irgendwo vergraben und gesagt, er sei auferstanden. Und in der Verkündigung, im Kerygma, wie Bultmann das nennt – ein griechischer Ausdruck für Verkündigung – lebt Jesus weiter, so wie Goethe heute in seinen Werken weiterlebt. Dort, wo Goethe gelesen wird, lebt er weiter, und dort, wo von Jesus gesprochen wird, lebt er weiter – allerdings nur in einem ideellen Sinn.
Das ist nicht die Lehre der Bibel. Die Bibel sagt: Das Kreuz war leer, das Grab war leer, Jesus ist leibhaftig auferstanden.
Schüler Bultmanns sind Ernst Käsemann, der heute noch in Tübingen lehrt, im hohen Alter. Einer seiner Sätze lautet: „Im Neuen Testament sind Glaube und Aberglaube zugleich enthalten.“ Käsemann geht also noch weiter. Er spricht nicht nur von Mythen und Märchen, sondern sagt sogar, Aberglaube sei im Neuen Testament enthalten.
Oder Dorothee Sölle, die einen Lehrstuhl für evangelische Theologie in Hamburg innehat, von evangelischer Theologie lebt und auch von evangelischer Kirchensteuer finanziert wird. Diese Frau lehrt: „Gott ist tot.“ Sie spricht von der Theologie nach dem Tode Gottes. Ihre Wurzeln hat sie bei einem Bischof Robinson in England, der Ähnliches behauptete.
Muss ich kurz etwas einfügen? Vielleicht kennt der eine oder andere Dankmar Fischer von der Heilsarmee in St. Pauli, Hamburg. Dorothee Sölle hielt irgendwo einen Vortrag, und Dankmar Fischer konnte es nicht lassen und ging in Heilsarmee-Uniform hin. Das war für Sölle natürlich ein rotes Tuch: Da sitzt ein Heilsarmeesoldat! Sie sagte vom Katheter aus: „Was will denn dieses Heilskamel hier?“ und ließ ihn so auflaufen.
Dann stand Dankmar Fischer auf, der nicht auf den Mund gefallen ist, und sagte: „Ich bin froh, dass ich nicht bekennen muss.“ Daraufhin sagte sie eins zu eins: „Also gut, wir wollen auch nicht bekennen.“
Gott ist tot – Theologie. Ich habe eine Predigt von Dorothee Sölle zuhause. Wer interessiert ist, kann sie mal lesen, zum Beispiel wie sie den reichen Jüngling auslegt. Da stehen einem alle Haare zu Berge. Paul Deidenbeck würde sagen: „Da wachsen Sie durch den Stahlhelm.“
Gott ist das Wort für die Endlichkeit des Verstandes, sagt zum Beispiel ein Theologe namens Heinrich Buhr. Oder Sölle selbst sagt: „Gott ist eine Chiffre für Mitmenschlichkeit.“ Es gibt keinen persönlichen Gott, Gott ist nur eine Chiffre für Mitmenschlichkeit oder Erkennen. Das könnt ihr auch bei Bultmann in Predigten hören: „Gott geschieht da, wo Menschen sich lieb haben, wo sie sich vergeben, wo sie aufeinander zugehen.“ Das ist Bultmann-Theologie in Gestalt von Mitmenschlichkeit in der Ausprägung Sölle.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Wir kommen zum Schluss. Ich habe hier versucht, eine Schlussfolgerung zu formulieren.
Der Bultmann-Schüler Heinz Zahnt schließt sein Buch „Die Sache mit Gott“ mit einer etwas umgangssprachlichen Formulierung: „Gott muss uns auch unsere Theologie vergeben, vielleicht nicht so sehr wie unsere Sünden.“ Das wird wahrscheinlich der wahrste Satz sein, den er in diesem Buch geschrieben hat. Gott muss nicht vergeben, aber dort, wo auch ein Theologe von falschen Vorstellungen umkehrt, wird Gott sicher bereit sein, falsche Theologie zu vergeben.
Auch ich habe in meinem Leben schon erkennen müssen, dass das eine oder andere nicht richtig war, was ich einmal für richtig gehalten und weitergegeben hatte. Gott kann auch Theologie vergeben, das ist richtig, und das ist tröstlich zu wissen.
Wir haben heute manches Positive gehört und gesehen, aber auch viel Negatives. Ich denke, ich darf hier für uns alle oder zumindest für viele von uns sprechen: Wir müssen uns von einem großen Teil der sogenannten evangelischen Theologie von Luther bis zur Gegenwart laut und vernehmlich abgrenzen. Manches können wir durchaus unterstreichen, manches ist unser Bekenntnis. Aber wir differenzieren das, und von einem ganzen Teil müssen wir uns leider abgrenzen – nicht hochmütig, nicht überheblich, sondern traurig, leidend und demütig darüber, dass es nicht gelungen ist, das, was in der Reformation aufbrach, weiterzuführen.
Die Reformation ist bis zum heutigen Tag überhaupt nicht vollendet. Sie müsste in manchen Bereichen weitergeführt werden. Stattdessen wurde sie wieder verdunkelt, ging zurück in alte Kanäle und Ähnliches.
Aber stärker als unser Nein zu Strauss, Ritschl, Barth und wie sie alle heißen, ist unser Ja zu Jesus Christus und unser Ja zur Botschaft der Heiligen Schrift. Das habe ich hier versucht, deutlich zum Ausdruck zu bringen.
Stärker als alles Nein, stärker als alle Abgrenzung, ist unser Vertrauen auf unseren Herrn, so wie er uns im Wort Gottes in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Alles wird vergehen – auch die Werke der sogenannten großen Theologen, auch unsere Werke werden vergehen. Aber die Bibel vergeht nicht.
So wollen wir fleißig davon Gebrauch machen, unsere Theologie – in Anführungszeichen – allein aus der Bibel heraus zu sehen, zu lehren und zu leben.
Ich weiß, wir haben alle mehr oder weniger Prägungen mitbekommen – durch unser Elternhaus, durch Bücher, die wir gelesen haben, durch viele Veranstaltungen, die wir besucht haben. Aber ich denke, wenn wir uns an der Schrift orientieren, können wir immer mehr unterscheiden, was biblische Tradition ist und was menschliche.
Ich schließe mit einem Satz, der heute vor einer Woche und auch am Sonntag schon anklang, aus dem Hebräerbrief: „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.“ Das gilt auch im Blick auf manche Theologie, die wir einfach von der Schrift her durchschaut haben. Wichtig ist, wie wir schon sagten, zu ihm hinauszugehen – nicht zu einer besseren Lehre, nicht zu einer vermeintlich besseren Gruppe oder zu irgendeinem Lehrer, sondern zu Christus mit der Bibel in der Hand, ihm nachfolgend.