Versöhnung

Konrad Eißler

In der Mitte der Abendmahlsfeier am Gründonnerstag soll nicht die alte Leier,sondern ein neues Lied, ein Jesuslied, eine Christushymnus stehen: “Jesus Christus, König und Herr”.


Nicht die alte Leier, nicht der alte Refrain, nicht das alte Lied, nein, der Apostel singt ein neues Lied, ein Jesuslied, einen Christushymnus. Er soll in der Mitte dieser Abendmahlfeier stehen.

Erste Strophe: Der freiwillig degradierte Jesus kam zu uns.

Er wurde nicht einfach abkommandiert. Er entäußerte sich selbst. Aus freien Stücken verließ er den Himmel. Der Schweizer Kurt Marti hat das in einem Gesicht so gesagt: “Ich wurde nicht gefragt bei meiner Geburt, und die mich gebar, wurde auch nicht gefragt bei ihrer Geburt, niemand wurde gefragt.” Das ist menschliche Urerfahrung, in einem Satz geballt und verdichtet. Ich wurde nicht gefragt,ob ich überhaupt leben wollte. Du wurdest nicht gefragt, ob du die weiße oder schwarze Hautfarbe bevorzugst. Er wurde nicht gefragt, ob er mit schweren Belastungen durchs Leben gehen wollte. Niemand wurde gefragt. Doch dann fährt Marti fort: “Außer dem Einen.” Nicht irgendeiner, sondern ein gewisser. Jesus wurde gefragt. Der Vater nahm ihn beiseite, seinen einzigen und geliebten Sohn, und öffnete ihm die Augen: “Siehst du den Menschen, wie er mir aus den Händen gelaufen ist und alles tut, was ihm in den Kram passt? Siehst du den Menschen, wie er den andern übers Ohr haut und nur auf seinen Vorteil aus ist? Siehst du den Menschen, wie er andere überfällt und sie kaltblütig ermordet? Siehst du diesen kalten, gemeinen, egoistischen, siehst du diesen sündigen Menschen? Magst du zu ihm gehen? Willst du bei ihm sein? Kannst du mit ihm leben? Du bist gefragt? Himmel und Erde halten den Atem an. Und in diese atemlose Stille hinein fällt das alles verwandelnde Wort: Ja! Ja, Vater, ja von Herzensgrund. Jesus krallt sich nicht an seinem Besitz fest, so wie wir unseren Besitzstand wahren. Jesus klebt nicht an seinem Stuhl, so wie wir an unseren Stühlen kleb­en. Jesus fühlt sich nicht unter Wert verkauft, so wie wir auf unseren Wert bedacht sind. Er setzt die Herrscherkrone ab. Er legt den Königsmantel beiseite. Er gibt den Zepter aus der Hand. Freiwillig degradiert er vom Sohn zum Knecht. Jesus bei uns. Nun gibt es keinen Hunger mehr, den er nicht kennt. Nun gibt es kein­en Durst mehr, den er nicht durchlitten hätte. Nun gibt es keinen Schmerz mehr, der ihm nicht wehgetan hätte. Nun gibt es keine hoffnungslose Einsamkeit mehr. Der freiwillig degradierte Jesus kam zu uns.

Zweite Strophe: Der schändlich dekorierte Jesus starb für uns.

Er wurde nicht einfach exekutiert. Er ward gehorsam bis zum Tode. Das Ja zum Kreuz kam von ihm. Kurt Martis Gedicht lässt sich weiterführen. “Ich werde nicht gefragt bei meinem Sterben und die vor mir starben, wurden auch nicht gefragt bei ihrem Sterben, niemand wurde gefragt.” Das ist menschliche Existenzerfahrung. Ich werde nicht gefragt, ob ich schnell sterben will. Du wirst nicht gefragt, ob du mit einem Herzinfarkt abscheiden willst. Er wird nicht gefragt, ob er von einem entsetzlichen Krebs zerfressen sein will. Niemand wird gefragt. Außer dem Einen. Nicht irgendeiner, sondern ein gewisser. Jesus wurde gefragt. In Gethsemane spricht der Vater mit seinem Sohn. “Siehst du den Mann, dort an die Säule gepflockt? Siehst du den Mann, dort aufs Kreuz gelegt? Siehst du den Mann, dort an den Querbalken geheftet? Magst du das übernehmen? Willst du das auf dich nehmen? Kannst du das tragen? Du bist gefragt. Totenstille in Gethsemane. Dann fällt das Wort: “Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.” Er erduldet die schändliche Krone. Er schultert den schweren Balken. Er erleidet die grausamste Hinrichtungsmethode. Gehorsam geht er in den Tod. “Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, zur Sünde gemacht. Zur Sünde gemacht. Einer an unserer Stelle. Jesus für uns! Nun gibt es keine Verfehlung mehr, die man mir anhängen könnte, wenn ich mich an ihn hänge. Nun gibt es keine Übertretung mehr, die man mir anlasten könnte, wenn ich an seine Last denke. Nun gibt es keine, aber auch gar keine Schuld mehr, die er nicht tilgen will. Der schändlich dekorierte Jesus starb für uns.

Das Lied ist nicht aus. Es hat eine dritte Strophe. Die letzten Zeilen wechseln von Moll nach Dur. Österliche Klänge schließen alles ab.

Dritte Strophe: Der göttlich inthronisierte Jesus bleibt über uns.

Er wurde nicht einfach vergraben. Seine Lebenslinie verlor sich nicht im Nichts. In einer dramatischen Wende hat Gott eingegriffen und Jesus aus dem Felsengrab herausgerissen. Die Welt gehört heute schon keinem andern Herrn als dem, der für sie gestorben ist. Alle Gegenmächte sind als Scheinmächte entlarvt. Philosophien und Ideologien, Religionen und Weltanschauungen, Überzeugungen und Meinungen haben keine Bedeutung mehr. Gott hat Jesus ausgezeichnet und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist. Auch mein Name fällt der Vergessenheit anheim. Gott hat Jesus zum alleinigen Spitzenmann erklärt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich alle Knie vor ihm beugen müssen. Nun gibt es kein Dunkel mehr, durch den nicht ein Weg führt. Nun gibt es kein Regiment mehr, das mir bange machen könnte. Nun gibt es angesichts dieses freiwillig degradierten, schändlich dekorierten und göttlich inthronisierten Herrn nur noch diese eine Melodie: “In des jüngsten Tages Licht, wenn alle Welt zusammenbricht, wird zu Jesu Füßen, jeder bekennen müssen: Jesus Christus, König und Herr, sein ist das Reich, die Kraft, die Ehr, gilt kein anderer Namen, heut und ewig. Amen.” Der ist es, der uns jetzt würdigt, an seinen Tisch zu kommen.