Der richtige Ton
In Jerusalem war Demo angesagt. Die Passahfeierlichkeiten mit zig tausenden Besuchern boten günstige Gelegenheit. Die Stadt glich einem Ameisenhaufen. Droben auf dem Ölberg formierte sich der Zug. Ein Eselsreiter ohne Sattelzeug vorneweg, dann zwölf gestandene Männer, ein paar besonders Begeisterte hinterher. Am Marschweg Richtung City sprang der Funke auf die Menge über. Flammen der Begeisterung schlugen hoch und ergriffen auch die kühl Distanzierten. Wie ein Flächenbrand loderte es in die Stadt hinein. Die einen rissen Tücher vom Leib und pflasterten die Straßen. Die andern rupften Blätter von den Bäumen und inszenierten eine Konfettiparade. Die dritten streckten die Hälse und riefen: "Wer ist denn dieser Mann auf dem Esel?" Ein Einzelner stimmte einen Psalm an und andere fielen ein: "Hosianna dem Sohn Davids. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe!" Eine echte Bewegung war entstanden. Aber zum großen Befremden vieler Mitläufer und Mitschreier lenkte der Eselsreiter seinen Ritt nicht gegen die Festung der Römer, sondern gegen den Tempel der Juden. Dort machte er mit Trödlern und Wechslern kurzen Prozess und setzte sie gewaltsam vor die Tür. Anstatt die Römer aus dem Land schmiss er die Juden aus dem Tempel. "Und so etwas will der Messias sein?" Die ersten Demonstranten waren gefrustet und zogen ihre Spruchbänder ein. Nur Kinder waren nicht zu bremsen. Mitten im Heiligtum rissen sie die Schnäbel auf. Dreikäsehochs, Lausbuben, Dreckspatzen skandierten weiter: "Hosianna, dem Sohn Davids!" Kein Wunder, dass der Tempelleitung dieser Spatzenchor so gar nicht in den liturgischen Stiefel passte und deshalb den Umjubelten mit der Frage stellten: "Wer hat hier das Wort? Diese Schmierfinken vielleicht? Wer hat hier das Sagen? Diese Demonstranten vielleicht? Wer hat hier das Recht? Du hergelaufener Nazarener vielleicht? Wer gibt hier den Ton an?" Und Jesus sagt: "Ja, ich, kein anderer. Im Tempel habe ich das Wort. Im Tempel habe ich das Sagen. Im Tempel habe ich das Recht. Im Tempel gebe ich den Ton an. "
Und dabei muss es in allen Tempeln und Gotteshäusern bis heute bleiben. Tonangebend dürfen keine Demonstranten werden. Kirchen sind keine Protesträume. Tonangebend dürfen keine Schwätzer werden. Kirchen sind keine Sprechsäle. Tonangebend dürfen keine Schreier werden. Kirchen sind keine Freiplätze. Tonangebend dürfen nicht einmal kirchenleitende Kirchengemeinderäte oder Prälaten oder Bischöfe sein. Jesus und nur Jesus ist der Herr im Haus und deshalb gibt er den Ton an, nicht für eine alte Leier, sondern für das neue Lied, genauer, für das Betlied, das Danklied und das Loblied. Darüber wird hier in diesem Abschnitt berichtet.
Jesus und nur Jesus ist der Herr im Haus und deshalb gibt er den Ton an, nicht für eine alte Leier, sondern für das neue Lied.
1. Jesus gibt den Ton für das Betlied an
Hosianna soll gesungen werden. Hosianna heißt ursprünglich: "Hilf Herr". Hosianna ist also der Bittgesang. Aber der konnte ja gar nicht gesungen werden, weil der Lärmpegel auf dem terrassenförmigen Tempelgelände derart hoch war, dass man seine eigenen Worte nicht mehr verstand. Geldwechsler boten ihre Dienste an, weil die fällige Opfersteuer nur in syrischer Währung entrichtet werden konnte. Vogelhändler boten ihr Tauben feil, weil für Reinigung oder Gesundung ein solches Tierchen geopfert werden musste. Schafzüchter wie Babu ben Buta trieben 3000 Schafe in den Vorhof, weil sie dort das große Geschäft für Schlachtopfer witterten. Orientalische Flohmarktatmosphäre erlaubte kein Lied. Aber dann fuhr Jesus dazwischen. Seine Stimme übertönte den Marktrummel. "Mein Haus soll ein Bethaus sein". Tische kippten um, Käfige purzelten übereinander, Münzen rollten die Stufen hinab, Schafe stoben auseinander, Händler verließen fluchtartig den Tempelplatz. Einfach sympathisch, dieser fromme Saubermann, der alle Nichtsnutze mitsamt ihrem Tingeltangel aus dem heiligen Bezirk hinausspedierte. Aber was haben denn diese Verwerfliches getan? Doch nichts anders, als an diesem Ort ihr Süppchen gekocht und ihr Liedchen gesungen. Sie wollten nicht nur Gottesdienst, sondern Kundendienst. Sie wollten nicht nur Bethaus, sondern Kaufhaus. Sie wollten nicht nur Kirche, sondern Kirbe.
Nur sie? Sind denn die Kirchenmitglieder von dem Vorwurf frei, die Kirche nur als feierlichen Rahmen für Taufe, Konfirmation oder Trauung zu benötigen? Sind denn die Protestanten von dem Vorwurf frei, die von der Kirche immer mehr Betriebsamkeit, mehr Aufgeschlossenheit, einfach mehr Dienst am Kunden verlangen? Sind denn die Pfarrer von dem Vorwurf frei, die in der Kirche das Evangelium immer mehr zeitgemäß verpacken und billig verramschen? Sind denn wir alle von dem Vorwurf der heillosen Verquickung von Glaube und Geschäft frei? Oder müsste Jesus nicht eine neue Geißel flechten und uns alle von diesem Ort verjagen? Mein Haus soll ein Bethaus sein. Hier ist Platz für solche, die nach der Last einer Woche mit kaputten Nerven hierhergekommen sind und jetzt betend singen möchten: "Ich bin Herr zu dir gekommen, komme du nun auch zu mir." Mein Haus soll ein Bethaus sein. Hier ist Platz für solche, die von Schuld belastet sind und jetzt um Befreiung bitten: "Mein Sünd' sind schwer und übergroß und reuen mich von Herzen." Mein Haus soll ein Bethaus sein. Hier ist Platz für solche, die in tiefer Ratlosigkeit stecken und jetzt um Wegweisung ringen: "Ordne unsern Gang, Jesu lebenslang, führst du uns auch rauhe Wege, gib uns auch die nöt'ge Pflege." Mein Haus soll ein Bethaus sein. Hier ist Platz für solche, die sich nach Ewigkeit sehnen: "O wär ich da, o stünd ich schon, ach süßer Gott vor deinem Thron." Jesus gibt den Ton für das Betlied an.
2. Jesus gibt den Ton für das Danklied an
Hosianna soll gesungen werden. Hosianna heißt auch: "Danke Herr". Hosianna ist außer dem Bitt- auch der Dankgesang. Aber der konnte gar nicht angestimmt werden, weil die Armen nicht viel zu danken hatten. Lahme mit ihren hölzernen Krücken saßen draußen vor der Tür. Blinde mit ihren weißen Stöcken hockten draußen auf den Stufen. Das heulende Elend war im Zentralheiligtum ausgesperrt. Seit Davids Tagen hing ein Schild am Tempel: "Für Behinderte Zutritt verboten." Das Auge des Gesetzes sah in ihnen von Gott Gestrafte. Wenn einer blind war, dann musste man fragen, ob etwa seine Eltern dieses Schicksal verschuldet hatten. Wenn einer lahm war, dann musste man fragen, ob etwa er selbst an seinem Elend schuld war. Wenn einer behindert war, dann war er ein Gezeichneter und Gebrandmarkter. Gottlose mit Dreck am Stecken passen aber nicht in das Gotteshaus mit seinem Glanz. Das Auge des Gesetzes sortiert die Menschen in Gesunde und Kranke, in Ferne und Nahe, in Verhasste und Geliebte, in Feinde und Freunde, in Heiden und Juden. Gott sei Dank hat Jesus ein anderes Auge. Ihm sind diese Aufteilungen in solche und solche ein Dorn im Auge. Sein Augenmaß ist die Liebe. Mit dem misst er die Lahmen und Blinden. Mit dem bewertet er die Armen und Elenden. Mit dem begutachtet er alle hoffnungslose Fälle und stellt ein für allemal fest: Disqualifikation ist Sünde. Deshalb reißt er das Schild vom Tempel, öffnet die Tore, lädt die Ärmsten der Armen ein und heilt sie. Der Lahme wirft die Krücken weg und dankt: "Sollt ich meinen Gott nicht singen, sollt ich ihm nicht dankbar sein?" Der Blinde schleudert seinen Stock die Treppen hinab und singt: "Jesu wie soll ich dir danken?" Die Behinderten und Zukurzgekommenen kennen nur noch eine Melodie: "Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen."
Leider haben wir neue Schilder gemalt und sie an unsere Pforten gehängt: Nur für Intellektuelle, Einfältige haben keinen Zutritt. Nur für Fromme, Kritiker haben keinen Platz. Nur für Fortschrittliche, Konservative sind nicht willkommen. Aber Jesus mag die Schilder nicht. Was die Mode streng geteilt, soll vor Gott nicht trennen. Unser Hausherr kennt keine Gebrandmarkten. Wir dürfen nicht ausladen, wo er einladen will. Wir dürfen doch nicht einteilen, wo er zuteilen will. Wir dürfen nicht wegsprechen, wo er zusprechen will. Alle sind angesprochen. Jeder ist persönlich gemeint, wenn er die Hände ausstreckt und hereinbittet: Kommet her zu mir alle, alle, alle. Miteinander sollen wir den großen Dankchoral singen. Er gibt den Ton für das Danklied an.
3. Jesus gibt den Ton für das Loblied an
Hosianna soll gesungen werden. Hosianna heißt schließlich: "Lob sei dir Herr". Hosianna ist zumeist der Lobgesang. Aber der konnte gar nicht mehr überhört werden, weil der plötzlich in diesen heiligen Hallen aufbrauste wie ein Orkan. Auffallenderweise kam er nicht von der Orgelempore, wo vielleicht ein jüdisches Vokalensemble Aufstellung genommen hatte. Seltsamerweise kam er auch nicht aus dem Chor, wo vielleicht die Jerusalemer Sängerknaben psalmodierten. Das "Gelobt sei Gott in der Höhe" kam aus rohen Bubenkehlen, die weder rein noch schön sangen. Der Tempelkantor bekam eine Gänsehaut. Dem Liturgen versagte die Stimme. Den musikalisch begabten Besuchern standen die Haare zu Berge. Solch disharmonierter Lobpreis darf nicht wahr sein. Nur Jesus freute sich und zitierte den 8. Psalm: "Aus dem Mund der Unmündigen hast du dir Lob bereitet." Die Großen sagen: Die sind doch viel zu klein. Jesus sagt: Ihr seid doch viel zu groß. Ihr meint es selbst schaffen zu können und schafft es doch nicht. Die Klugen sagen, die sind doch viel zu dumm. Und Jesus sagt: Ihr seid doch viel zu klug. Euer Verstand ist kein Schlüssel für alle Schlösser. Die Starken sagen: Ihr seid doch viel zu schwach. Und Jesus sagt: Ihr seid doch viel zu stark. Wenn ihr an euren Kräften nicht verzweifelt und wie die Kinder fromm und fröhlich seid, kann ich euch die große Freude nicht schenken. Jesus hat einen Zug nach unten. Er ist geradezu parteiisch für die Minderbemittelten. Die Schwäche für die Kleinen und Geringen ist seine Stärke. Randfiguren der Gesellschaft werden bei ihm zu Schlüsselfiguren im Reich Gottes. Behinderte in unseren Augen werden Bevorzugte in seinem Blick. Unwerte bei uns sind die Wertvollen bei ihm. Jesus liebt nach unten, wo wir immer nach oben schielen. Deshalb kommt auch das Lob von unten.
Liebe Freunde, Sie mögen in einer beruflichen Klemme stecken und sagen: Ich habe Grund zum Klagen. Sie mögen in einer familiären Spannung leben und sagen: Ich habe Grund zum Weinen. Sie mögen in einer gesundheitlichen Krise ihren Tag verbringen und sagen: Ich habe Grund zum Heulen. Sie mögen in einer depressiven Phase kein Land mehr sehen und sagen: Ich habe Grund zum Verzweifeln. Jesus sagt: Genau damit haben sie allen Grund zum Loben, denn das Lob kommt aus der Tiefe: Hosianna in der Höhe.
Sicher, einmal wird es anders sein. Dann nämlich, wenn dieser Herr nicht mehr auf einem grauen Esel, sondern auf einem weißen Pferd daherreiten wird und das letzte Hosianna gesungen wird. Dann wird unser Klagen und Weinen und Heulen und Verzweifeln von der strahlenden Melodie bestimmt sein: "Dem, der auf dem Thron sitzt, sei Lob und Preis und Gewalt in Ewigkeit." Bis dahin lasst uns beim Loblied, Danklied und Betlied bleiben. Jesus gibt uns den Ton an.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]