Hoffnung
"Leben heißt Hoffnung begraben", hat Theodor Fontane gesagt. "Leben heißt Hoffnung begraben", hat Alighieri Dante gesagt. "Leben heißt Hoffnung begraben", hat sicher auch diese Witwe gesagt.
Niemand stelle sie sich als ein altes Weibsbild vor, das hysterisch geworden ist und jedem senkrecht auf den Geist geht. Wahrscheinlich war sie noch blutjung, weil das Heiratsalter für Mädchen bei 13 oder 14 Jahren lag. Jeder im Städtchen erinnerte sich an die strahlende Braut, die am Arm ihres Gatten das Eheglück kaum fassen konnte. Der Himmel war mit Bassgeigen behängt und die Erde mit Blütenhonig bestrichen. Aber dann starb der Mann. Die Frau drückte ihm die Augen au. Die Freunde salbten den Leichnam ein. Die Klageweiber stimmten die Trauerliturgie an. Im Sarg lag nicht nur der Weggefährte, sondern der Versorger und Ernährer. Die junge Witwe war mittellos geworden. Am Grab des Mannes musste sie es sagen: "Leben heißt Hoffnung begraben."
Dann fand sie beim Aufräumen ein Stück Papier, ein vergilbtes Testament. Der Großvater hatte ihrem Mann ein Teil des Erbes vermacht. Damit stand ihr doch ein kleines Vermögen zu. Sie musste nicht mehr am Hungertuch nagen. Als sie aber dieses Papier den Brüdern und Schwägerinnen präsentierte, da war betretene Stille, eisiges Schweigen, ungerührtes Achselzucken. Die liebe Verwandtschaft rückte keinen Pfennig heraus. Wenn es ums Erbe geht, ist die Liebe gestorben. Die junge Witwe war rechtlos geworden. Im Kreis der Familie musste sie es sagen: "Leben heißt Hoffnung begraben."
Dann spürte sie es auf Schritt und Tritt, wie es dem Alleinstehenden ergeht. Bei der Suche nach einer kleineren Wohnung musste sie es hören: "Ach, Sie sind eine Witwe, können Sie denn die Miete bezahlen?" Bei der Suche nach einer passenden Beschäftigung wurde ihr bedeutet: "Ach, Sie sind eine Frau, können Sie denn die Arbeit tun?" Bei der Suche nach einem neuen Bekanntenkreis bekam sie es zu spüren: "Ach, Sie sind eine Arme, können Sie denn bei unseren Feten und Partys mithalten?" Menschen winkten förmlich ab. Leute zogen sich vornehm zurück. Ihre Kontaktsuche blieb ohne Ergebnis. Die junge Witwe war schutzlos geworden. Inmitten der Wohngemeinschaft musste sie es sagen: "Leben heißt Hoffnung begraben."
Leider ist diese Witwe kein Ausnahmefall geblieben. Ihr Schicksal wurde typisch für solche, die, aus welchem Grund auch immer, alleine dastehen. Mittellos, schutzlos, rechtlos, oft genug auch Gott los, abgeschrieben, freigegeben, allein auf weiter Flur, das sind viele. Am Grab des Liebsten, das wie ein stummer Hohn auf den Schmerz erscheint, im Kreis der Familie, der einen kaltblütig und mitleidlos ausschließt, inmitten der Dorf-, Stadt- oder gar Christengemeinschaft, die einen als Fremden ausbürgert, müssen sie es miteinander sagen: "Leben heißt Hoffnung begraben."
Und wenn Sie auch dazugehören, und wenn Sie auch schwere Schicksalsschläge einstecken mussten, und wenn Sie auch gallenbittere Erfahrungen mit herzlosen Verwandten und treulosen Zeitgenossen hinter sich haben, dann passen Sie bitte auf: "Leben heißt Hoffnung begraben", so sagt die Witwe eben nicht. Sie sagt etwas ganz anderes, und das ist das Erste, was wir aus diesem Gleichnis Jesu lernen können:
1. Leben heißt Hoffnung begrenzen
Schauen wir nach dieser Frau. Wir finden sie nicht im Wohnzimmer, wo sie resignativ im Sessel sitzt, die Hände in den Schoß legt und vor sich hinmurmelt: "Schicksal. Da kann man nichts machen. Jeden trifft die Kugel, die für ihn gegossen ist." Wir finden sie nicht im Schlafzimmer, wo sie depressiv im Bett liegt, die Augen gar nicht mehr öffnet und nur noch mit einem Gedanken Karussell fährt: "Warum? Warum ich? Warum ausgerechnet ich?" Wir finden sie erst recht nicht in der Küche, wo sie ostentativ am Fenster steht, die Faust gegen den Himmel ballt und mit Prometheus schwört: "Ich kenne nichts Ärmeres unter dem Himmel als euch Götter!" Die Witwe ist im Hausgang, wirft sich ein Tuch um den Kopf, schlägt die Türriegel zurück und geht.
Aber wohin geht sie? Zum Nachbarn, um sich auszuheulen und ihm ihre Misere auszubreiten? Zum Bruder, um ihm eine Standpauke zu halten und kräftig auf den Tisch zu hauen? Zur Schwägerin, um ihr gehörig den Kopf zu waschen und sie alles, nur nichts Rechtes zu heißen? Zum Advokaten, um ihn als Rechtsbeistand zu bitten und denen da den Prozess zu machen? Nein, die Witwe läuft nicht von Pontius zu Pilatus. Sie geht zur höchsten und letzten Instanz. Diese Frau begrenzt ihre Hoffnung auf den Richter. Und dort setzt sie die Waffe ein, die selbst eine armselige Witwe besitzt: keinen Revolver, um zu schießen, kein Portemonnaie, um zu schmieren, kein Mikrofon, um zu übertönen, nur den Schrei: "Schaffe mir Recht."
Schreien kann jeder. Schreien darf jeder. Zum Richtergott schreien muss jeder, wenn er in Not ist. Es mag Stunden geben, in denen man zur Verwandtschaft gehen und eine Lippe riskieren muss. Es mag Tage geben, in denen man zum Anwalt gehen und ihn um Rechtsbeistand bitten muss. Es mag Wochen geben, in denen man, und so erlebte ich es vor wenigen Tagen in Halle und Karl-Marx-Stadt, auf die Straße gehen und das geknebelte Recht einklagen muss. Aber es darf keinen Augenblick geben, in dem man nicht zu Gott gehen und ihn um Hilfe rufen muss. "Weil denn kein Mensch mehr helfen kann, rufe man Gott um Hilfe an." Dieser Vater der Waisen hat doch gesagt: "Rufet mich an in der Not." Dieser Helfer der Witwen hat doch gebeten: "Ihr sollt mein Angesicht suchen." Dieser Richter hat dazu aufgefordert: "Wirf dein Anliegen auf den Herrn, er wird dich versorgen." Die auf Gott, den Vater Jesu Christi begrenzte Hoffnung ist grenzenlos. Sie überschreitet unsere ach so menschlichen Begrenzungen von Sympathie und Antipathie. Sie durchbricht unsere ideologischen und theologischen Fronten von rechts und links. Sie transzendiert unseren dunklen Horizont und lässt den gerechten Richter in den Blick kommen, der Recht und Gerechtigkeit schaffen will und schaffen wird.
Leben heißt Hoffnung begrenzen, und ...
2. Leben heißt Hoffnung begreifen
Schauen wir nach diesem Richter. Er scheint die Ruhe wegzuhaben. Der lautstarke Auftritt einer aufgebrachten Klägerin bringt ihn nicht aus der Fassung. Schon viele haben ihm wüste Szenen gemacht und sich eine saftige Ordnungsstrafe eingehandelt. Da könnte ja jeder kommen und mich mit Eilverfahren ins Schwitzen bringen. Dieser Richter macht kurzen Prozess und schiebt die Akte auf die lange Bank. "Er wollte lange nicht", heißt es im Text unserer Geschichte.
"Er wollte lange nicht", heißt es auch im Kontext unserer Lebensgeschichte. Damals fassten wir uns ein Herz. Damals liefen wir zu ihm. Damals schrien wir um Hilfe: "Schaffe uns Luft! Schaffe uns Ruhe! Schaffe uns Recht." Und dann war es ohne Echo. Und dann war es in den Wind gesprochen. Und dann war es wie ein Schrei ins Telefon, das gar keinen Anschluss besitzt. Wie viele haben deshalb das Schreien gesteckt? Wie viele haben deshalb das Rufen aufgegeben? Wie viele wollen deshalb schon lange nicht mehr, weil er so lange nicht wollte?
Die Witwe jedoch lässt sich nicht abwimmeln. Mit richterlichem Schweigen gibt sie sich nicht zufrieden. Die Hinhaltetaktik eines gewieften Juristen zwingt sie noch lange nicht zum Rückzug. "Leben heißt Hoffnung begreifen", deshalb greift sie den Mann weiter an. Sie lässt nicht locker. Sie wird ihm lästig. Sie fällt ihm auf die Nerven: "Verschaffe du mir Hilfe!"
Das ist jene Zähigkeit, die nicht klein beigibt. Das ist jene Beharrlichkeit, die nicht sofort die Segel streicht. Das ist jene Unwiderstehlichkeit im Gebet, die wir von jener einfachen Frau lernen sollen. Unser Gott ist kein toter Mann, der sich nicht bewegt, sondern ein lebendiger Herr, der sich bewegen lässt, so wie jener Richter.
In der Geschichte ist er alles andere als eine unbestechliche Persönlichkeit. Was ein Gott über ihn denkt, lässt ihn kalt, und was die Leute von ihm halten, ist ihm schnuppe. "Ich bin mir selbst genug", lautet der Wappenspruch dieses fiesen Kerls. Und dem geht eines Tages dieses Bitten und Betteln über die Hutschnur: "Ich kann diese Nervensäge nicht mehr sehen. Ich muss mir diese Quengeltante vom Halse schaffen. Ich brauch' endlich meine Ruhe vor diesem geifernden Weibsbild, das schließlich noch handgreiflich wird und mir die Augen auskratzt." Deshalb greift er nach der Akte, verfügt die Testamentsvollstreckung und erledigt den Fall.
Wahrlich keine Idealfigur, aber eine Kontrastfigur! Wenn schon dieser Rechtsbrecher schließlich Recht schafft, bloß weil er die ständige Belästigung loshaben will, wie viel mehr wird dieser Rechtsbringer, dieser Richtergott schließlich alles recht und richtig machen?
Gott hört die Armen. Gott sieht die Elenden. Gott leiht den Schreienden sein Ohr. Ihm gegenüber berufen wir uns nicht nur auf das, was er tun soll, sondern auf das, was er erklärtermaßen tun will. Er bekennt sich förmlich als Vater der Waisen und Witwen (Ps.68,6). Er verbürgt sich ausdrücklich als Heiland der Schutzlosen und Retter der Wehrlosen. Er wendet sich uns ganz zu.
Warum zweifeln wir an unseren ungeahnten Möglichkeiten bei ihm? Warum glauben wir nicht, dass er wegen uns sein Konzept zerreißt und neu schreibt? Warum denken wir so klein von der Kraft, die in unsere Gebetshände gelegt ist? Es ist recht, ihn in allen Nöten anzurufen. Wir liegen richtig, wenn wir in allen Schwierigkeiten bei ihm vorstellig werden. Schreien gehört zum guten Ton im Reiche Gottes. Kein Schrei ist aussichtslos, denn diese Verheißung steht: "Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze."
Schreien gehört zum guten Ton im Reiche Gottes. Kein Schrei ist aussichtslos.
Nicht sofort. Beten heißt auch warten können, aber beten in gespannter Erwartung, bestimmter Hoffnung, fester Zuversicht.
Leben heißt Hoffnung begreifen, und ...
3. Leben heißt Hoffnung begründen
Schauen wir nach diesem Jesus, der diese Bildgeschichte erzählt. Er wendet sich denen zu, die sich jetzt immer noch mit ihren bohrenden Fragen plagen: "Ist das nicht ein Trip, eine Illusion, eine Fata Morgana? Ist das nicht Flucht nach vorne, Ausbruch ins Leere, Vorstoß ins Nichts? Ist diese Hoffnung nicht wie ein bunter Luftballon, der mächtig aufgeblasen plötzlich zerplatzt? Wer steht dafür? Wer bürgt dafür? Wer begründet diese Hoffnung?"
Und Jesus sagt: "Ich, ich selber, ich persönlich. Längst bevor ihr um Hilfe gebeten habt, bin ich euch zur Hilfe gekommen. Längst bevor ihr mit euren Lasten zu mir gekommen seid, habe ich mich belasten lassen. Längst bevor ihr unter der Verlassenheit gestöhnt habt, habe ich geschrien: 'Mein Gott, warum hast du mich verlassen?' Sie sind sogar handgreiflich gegen mich geworden. Sie haben mir mit Peitschen den Körper zerkratzt und zerrissen. Sie haben mich nicht nur ins Gesicht geschlagen, sondern ans Kreuz. Am Schandpfahl von Golgatha haben sie mich geschafft, aber genau dort und genau dadurch schaffte ich Recht und Gerechtigkeit, die ich dem gebe, der darum bittet."
Liebe Gemeinde, Herzog Heinrich von Lüneburg war ein fanatisch gerechter Mann. Eines Tages hörte er, dass sein Leibvogt Christian Pelse im Regen einem Bauern den Mantel weggenommen hat. Über solche Ungerechtigkeit entbrannte sein Zorn. Sofort wurde der Mann zitiert und zum Tode durch den Strang verurteilt. Nur als der Vogt an der Linde hing, erfuhr Herzog von Lüneburg, dass der Bauer selbst den Mantel gestohlen hatte.
Das ist Recht und Gerechtigkeit in unseren Händen. Wir werden sie nie bei Menschen finden. Deshalb unser Schrei zu dem, der das Recht und die Gerechtigkeit in Person ist. Jesus Christus ist der Grund unserer Hoffnung.
Dieses Gleichnis ist das einzige, das mit einer Frage schließt. "Wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?" Wenn der Sohn Gottes wiederkommen wird, meinst du, er werde solchen Glauben an die Macht des Gebets bei uns finden? Wenn Jesus Christus vor dir stehen wird, meinst du, er werde solch gewissen Gottesglauben bei dir finden? Was meinst du?
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]