Wir begrüßen ganz herzlich Herrn Prälat Rolf Schäffbuch und seine Frau. Wir sind gespannt darauf, zu hören, wie Gott gerade um diesen Menschenschlag, um diese Menschen geworben hat.
Bevor wir beginnen, wollen wir noch gemeinsam singen: „Noch dringt Jesu frohe Botschaft in die dunkle Welt“, Nummer 239.
Wir wollen mit ihm reden. Herr Jesus, hilf uns dabei, dass unser Weg hell wird und hell bleibt. Lass zu, dass der Strahl der Ewigkeit in unser Leben dringt. Hilf uns, nicht durch unseren Kleinglauben oder unsere Probleme alles abzuschotten.
Lass uns erkennen, welche Wege du gehen kannst – gerade in Situationen, in denen wir gar nicht damit rechnen, dass du Großes tun könntest. Amen!
Die lange Geschichte des Christentums in Russland und europäische Vorurteile
Nach der Perestroika – das war ja vor ein paar Jahren – haben viele treue Christengruppen in Amerika und anderswo auf der Welt, besonders bei den Evangelikalen, gedacht: Jetzt ist endlich das Tor offen, damit der Christenglaube nach Russland kommen kann.
Gut, es gab 40, 50 Jahre kämpferischen Atheismus, in denen man Gott abschaffen wollte. Aber das Christentum gab es dort schon über tausend Jahre. Wir machen uns eine falsche Vorstellung, wenn wir meinen, Russland sei erst jetzt, nach der Perestroika, von der Botschaft und vom Wirken Jesu erreicht worden.
Im Jahr 1988 haben die russisch-orthodoxen Christen weltweit gefeiert: tausend Jahre Christentum in Russland – tausend Jahre! Aber wir wissen ja so wenig von Russland. Für uns hört normalerweise im Osten die Welt kurz hinter Warschau auf. Wir wissen auf der Landkarte, wo Lissabon liegt, und wir können sagen, wo Lyon ist. Aber wenn jemand fragen würde, wo Smolensk liegt – ja, manche von uns Älteren, deren Geschwister bei Smolensk gefallen sind, wissen es vielleicht noch. Aber die junge Generation? Wo ist Astrachan, wo ist Irkutsk? Das ist eine fremde Welt.
Für Europa war das immer eine angstbesetzte Welt. Nicht nur die Kosaken kamen vom Osten, sondern auch die Goldene Horde von Dschingis Khan um 1220. Das Ritterheer, das schlesische Ritterheer bei Liegnitz, wurde zu Tode geschlagen. Zugleich wurde damit der Siegeszug der Goldenen Horde aufgehalten – 1220, schon lange her. Alles Böse, hat man immer gedacht, kommt von Osten her.
Man wollte vom Osten nicht viel wissen, und wer etwas wusste, hat nicht mehr viel erzählt. Die 300 württembergischen Soldaten, die von den insgesamt 15.000 Soldaten im napoleonischen Winterfeldzug nach Russland schließlich zurückkamen – halb erfroren –, haben nicht mehr viel von den Winterstürmen Russlands und der verbrannten Erde erzählt, die sie zurückgelassen hatten.
Und wer aus den Hungerlagern Sibiriens zurückgekommen ist oder aus Stalingrad noch ausgeflogen wurde als Schwerverletzter, der hat auch nicht gern über Russland gesprochen. Russland war das ferne Land, und wir mit unseren europäischen Raumvorstellungen konnten das überhaupt nicht einordnen.
Als wir vor zwei Jahren mit Waldemar Zorn in Sankt Petersburg waren, im ethnographischen Museum, da gab es eine riesige Karte mit Russland. Ganz am Ende war ein bisschen Europa, und dann kam Russland. Da fragte man Waldemar Zorn: „Wo bist du denn geboren?“ Er sagte: „Ganz da unten, kurz vor Tibet.“ Das können wir uns räumlich überhaupt nicht vorstellen – die Weiten Russlands.
Und wir wissen auch nicht viel von den Christen, die es dort in den über tausend Jahren Christentum gegeben hat. Wenn wir von bedrängten Christen in unseren Kreisen und Gruppen erzählen, sprechen wir von den Hugenotten, von den Waldensern und von den Salzburgern. Vielleicht auch noch von den Missionaren in Afrika oder bei den Indianern. Oder wir denken jetzt gerade daran, wie die Christen in Indonesien verfolgt werden.
Schwester Barbara hat mir gerade ein Schreiben in die Hand gegeben, einen Fax der Karmelmission. Darin schrieb Bruder Romale Wang aus Jakarta, dass viele seiner Angehörigen in Ambon, seiner Heimatinsel, von Muslimen umgebracht wurden. Drei Kirchen seien niedergebrannt, 31 Menschen getötet, 21 verletzt. Er sei zuerst an Gott irre geworden, bis er sich gehalten habe mit den Worten: „So kann uns nichts scheiden von der Liebe Gottes.“
Uns ist oft Indonesien mit der Missionsarbeit und Batak auf Nias näher gewesen als Russland. Dafür darf ich Ihnen heute ein bisschen erzählen, wie Gott schon immer um Russland geworben hat.
Die frühe Christianisierung Russlands und orthodoxe Frömmigkeit
Gott hat schon lange um Russland geworben, um das Reich der Russen, das aus dem Großfürstentum Kiew entstanden ist. Dort liegt der eigentliche Kern, lange bevor es Petersburg oder Moskau gab. Kiew am Dnjepr war die Mitte, aus der das russische Reich gewachsen ist.
Ganz nah daran war, dass sich der Großfürst Wladimir von Kiew – merken Sie sich die Jahreszahl 988 – dem Westen gegenüber aufgeschlossen gezeigt hätte. Zu dieser Zeit war bei uns Otto der Große an der Macht. Erinnern Sie sich noch aus der Geschichte? Sein Zentrum war Magdeburg, das einst Kaiserstadt war. Er versuchte eine Ostkolonisierung und Ostmissionierung, merkte aber bald, dass er dort höchstens auf Sümpfe und Steppe stieß. Dort war nicht viel zu holen, nur einzelne Klöster wurden gebaut.
Für die deutschen Kaiser war Italien mit Venedig, dem Reichtum Venedigs, viel interessanter. In Venedig sammelte sich der Reichtum der ganzen Levante und der Mittelmeerwelt. Die Sümpfe im Osten, Polen, Galizien und weiter östlich waren weniger attraktiv.
Der Kaiser von Byzanz, so hieß früher Konstantinopel, verwaltete das Restreich in Kleinasien. Er erkannte, dass es Fürsten in der Gegend von Kiew gab, mit denen er ein Bündnis schließen musste. Deshalb vermählte er seine Tochter mit dem Großfürsten Wladimir von Kiew. Die Mutter des Großfürsten, Olga, spielt bis heute in Russland eine große Rolle. Ihr Name ist bis hin zu unserer württembergischen Königin bekannt. Es gibt das Olga-Eck in Stuttgart und die Olga-Straße – hier reicht der Einfluss Russlands tief nach Württemberg hinein.
Olga spielte eine große Rolle und sagte: „Schließ dich dort an!“ Die Gesandten, die der Großfürst Wladimir ausgesandt hatte, suchten in alle Richtungen nach militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung. Sie wollten wissen, wo sie Ehebündnisse schließen konnten und welche Religion sie übernehmen sollten.
Die Gesandten kamen von Byzanz zurück und jauchzten vor Freude, als sie von der Herrlichkeit der Gottesdienste erzählten. Sie berichteten vom Kreuzschlagen, vom Weihrauch, von den Kerzen und den herrlichen Bildern – so wie es in Byzanz üblich war. Das orthodoxe Christentum war damals noch der Rest des östlichen Christentums.
Wenn der Priester plötzlich unter den Gesängen des Chores durch die Pforte der Ikonenwand schreitet und im Leihenspiel nachvollzieht, wie Jesus zur Welt kommt und wieder zurückgeht, dann mit dem Abendmahlsbrot auf dem Kopf durch die Pforte geht – „Sein Leib für uns“ – dann jauchzten die Gesandten vor Vorfreude: „Das ist ein Gottesdienst!“
Wir Westler, besonders wir Evangelischen, können nun sagen: „Wo bleibt da das Wort Gottes? Da ist so viel Kreuzschlagen, und an der Ikonenwand ist ja sogar ein Bild von der Muttergottes – das ist ja furchtbar, das ist Götzenverehrung!“ Doch man kann sagen: Gemach, gemach!
Gleichwertig zur großen Ikonenwand, auf der die Heiligen dargestellt sind, ist in der Mitte die Abendmahlsdarstellung. Links ist Jesus dargestellt als der Weltenherrscher, Pantokrator, der in der Orthodoxie eine sehr große Rolle spielt. Ihm ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben.
Sagen Sie bloß nicht, das sei bloße Marienfrömmigkeit in der Orthodoxie. Es ist eine ganz starke Jesusfrömmigkeit. Wenn das Kreuz geschlagen wird, das Zeichen Jesu, „Ich möchte unter dem Zeichen Jesu stehen“, dann ist das gut. Es kann Routine werden, aber ursprünglich ist es ernst gemeint.
Wenn daneben das Bild von der Gottesmutter Maria ist, erinnert das daran, dass Jesus einer von uns geworden ist. Er kam zu unserer Erlösung in die Welt, von Maria, seiner Mutter. Hier steckt viel heiliges Denken, fast alttestamentlich: „Er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit. Ich will schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel betrachten.“
Man darf die orthodoxe Frömmigkeit nicht verachten, sondern sollte sie hochachten, denn daraus wird eine erhabene Religiosität, die aus dem Jesusgeschehen entsteht.
Liebe Brüder und Schwestern, die Gefahr des Christusglaubens ist die Religiosität. Man kann sich mit einem religiösen Jesus vom Leib halten, mit religiösen Sitten und Traditionen. Wir alle sind in der Gefahr, diese hochzuhalten.
Denken Sie nur an unsere Morgenandachten und die morgendliche Bibellese. Wenn man uns zwei Stunden später fragen würde, was wir gelesen haben, wüssten wir es oft nicht mehr. Manchmal kann Routine und Religiosität die Verbindung zu Jesus vom Leib halten.
Alles ist ernst gemeint. Wenn Sie heute noch in eine russische Kirche kommen und die langen Schlangen derer sehen, die zum Beichten anstehen, wie sie dem Priester ins Ohr ihre Schuld sagen und der ihnen die Absolution erteilt, dann spüren Sie ein großes Bewusstsein für die Verfehlungen unseres Lebens. Das ist keine oberflächliche Frömmigkeit.
Wenn Dostojewski einen seiner großen Romane „Schuld und Sühne“ genannt hat, ist das typisch für das russische Christentum.
Danke für die einleitenden Worte. Der russische Mensch sehnt sich nach Erlösung. Er merkt, wie sehr er im Dreck steht und dass all das, was für ihn die Mütter sind – das Mütterchen Erde, in das er gelegt wurde und von dem er genommen ist, zugleich auch Mütterchen Russland, das Mütterchen Wolga, das ganze Quell- und Stromsystem der Wolga – nicht genügt.
All das gibt keine Geborgenheit. Der russische Mensch, der so viel Leiden und Armut ertragen konnte, hat ein unvorstellbares Sehnen, einmal vergöttlicht zu werden, heimzukommen zu Gott.
Der lange russische Gottesdienst mit seinen Gesängen ist ein Ausdruck dieser Sehnsucht: Wann wird der Erlöser kommen, der uns erlöst von den Widrigkeiten dieser Welt?
Das zum russischen Gottesdienst.
Leiden der russischen Kirche und die Bedeutung der Bibel
Wir wissen zu wenig darüber, wie sehr Russland und auch die russische Kirche gelitten haben. Allein während der stalinistischen Verfolgung wurden über 40 Priester barbarisch ermordet – um ihres Glaubens willen. Wann haben wir für sie gebetet? Oft haben wir gesagt, das seien Orthodoxe, die seien so halb katholisch.
Wir ahnen nicht, was nach dem Einfall von Dschingis Khan mit seiner Goldenen Horde geschah. Auf der einen Seite eroberte er Peking, das damals schon eine Weltherrschaft war. Dann zog er mit seiner Goldenen Horde über ganz Russland hinweg, das ihm feindlich gegenüberstand. Die Tatarenherrschaft dauerte an, bis sie schließlich bei der Schlacht von Liegnitz in Schlesien gestoppt wurde.
Doch nach diesem Tatareneinfall und der Herrschaft von Dschingis Khan und seinen Nachfolgern war es allein die orthodoxe Kirche, die Russland wieder aufgebaut hat. Im Jahr 1275 hielt Metropolit Serapion von Wladimir Bußpredigten. Er sagte: Wir haben es mit unseren Sünden verschuldet, dass diese Kriegsfuri über uns hinweggegangen ist. Ein Volk, das etwas weiß von Schuld und Vergebung.
Aber es fehlte – und es fehlte beim russischen Menschen in all seiner Religiosität – das Leben mit der Bibel. Das Evangelium gab es in den alten Bibeln, die auch heute noch im Gottesdienst benutzt werden. Der Priester reicht sie dem Diakon, und der Diakon küsst ehrfürchtig das Evangelium. Doch lesend wird es kaum genutzt. Wie würde es der Mesner, der Kirchendiener, tun? Das Wort Gottes wird abgewertet. Viel wichtiger sind die Chöre, die gesungen werden, und die szenische Darstellung der Priester und ihrer Gehilfen.
Daran hat man so sehr an der Tradition festgehalten. Orthodoxie heißt der wahre, unveränderte Glaube. Man will am Buchstaben der russischen, altslawischen Bibel nichts ändern. Bis heute gibt es in Russland Christen, die sagen: Jede Übersetzung in eine der neueren russischen Sprachen ist ein Verbrechen. In den Gottesdiensten wird nur das Altslawische benutzt, das kaum noch die Priester verstehen. Sie können die Lesungen zwar vorlesen, aber kaum noch verstehen.
Man wollte aus der Orthodoxie heraus, aus dem Festhalten am wahren Glauben, kein Jota an der Bibel ändern. Es fehlte in Russland das lebendige Angestoßenwerden durch Gottes Wort.
Aber war es denn bei uns anders bis zur Reformation? Die mittelalterliche Kirche kannte viele Opfer. Es wurden Opfer gebracht, Hospitäler aufgebaut, Menschen gingen auf Bußgänge, und die Gottesdienste waren voll. Es hätte keine Reformation gebraucht, wenn es nicht die Reformation darin bestanden hätte: „Dein Wort ist unseres Herzens Trutz und deiner Kirche wahrer Schutz.“
Das Wort macht das lebendige Evangelium aus – das verkündigte, geglaubte und neu gelernte Evangelium. Und jetzt wird es höchste Zeit. Ich sage: Wie Gott uns in der Reformationszeit geworben hat, so hat er um 1800 auch in Russland geworben. Mehr noch: Er hat seine gute Saat des Evangeliums ausgesät.
Die Aussaat des Wortes Gottes in Russland und württembergische Verbindungen
Jetzt sind wir beim zweiten Punkt: Wie das Wort Gottes als edles Saatgut in Russland ausgesät wurde.
Das Himmelreich ist gleich einem Ackerfeld. Der Ackermann nahm das gute Getreide und säte es aus. Dabei fiel manches auf den Weg, manches auf den Fels, manches auf dorniges und manches auf steiniges Land. Doch manches brachte auch Frucht.
Nun muss ich ein wenig württembergische Geschichte erzählen, denn es war eine württembergische Prinzessin, die Gott benutzte, um das Wort Gottes, die Aussaat des Wortes Gottes, vorzubereiten. Wir Württemberger sind ja normalerweise demütige Leute und wissen, was wir in der Welt immer geleistet haben.
Es war eine kleine württembergische Prinzessin, die Gott benutzte, die Aussaat seines guten Wortes vorzubereiten. Vielleicht haben Sie schon etwas von unserem König Friedrich I., dem sogenannten „dicken Friedrich“, gehört. In Ludwigsburg und auf der Solitude zeigt man den Schreibtisch, den man aussägen musste, damit er überhaupt ins Zimmer passte.
Das war so. Das Problem bei seiner Beerdigung war, dass der Sargdeckel nicht zuging. Tatsächlich sagte Napoleon: „Ich bin erstaunt über die Dehnungsfähigkeit der menschlichen Haut.“ Er war unser König, der erste König, den wir nach all den Herzögen und Kurfürsten hatten.
Er hatte eine lange Reihe von Geschwistern. Friedrichs Vater war Friedrich Eugen. In Stuttgart gibt es heute noch das Friedrich-Eugens-Gymnasium. Friedrich Eugen hatte vielleicht zwölf oder dreizehn Kinder. Der Älteste war Friedrich, der Zweite war Louis, ein Tunichtgut, der mit zwei Millionen Gulden ins Grab gesunken ist. Seine Frau war dann die Herzoginwitwe Henriette von Württemberg in Kirchheim – eine Extrageschichte für sich.
Unter den Kindern war Sophie Dorothea. Ich habe nur ein Bild vergrößern lassen – ein liebliches Geschöpf. Man muss sich dann vorstellen, dass die große Katharina, die den Beinamen „Katharina die Große“ trug und in Russland viel geleistet hat, Probleme hatte mit der Frage, wer einmal ihr Nachfolger sein würde. Sie hatte ihr Reich bis ans Schwarze Meer ausgedehnt und schließlich ein Abkommen mit Friedrich dem Großen getroffen, wodurch sie die Ostgrenze sicherte. Die Westgrenze war ebenfalls gesichert. Sie holte Siedler ins Land.
Katharina die Große war nicht zimperlich. Ihr Ehemann war nur ein Jahr lang Zar, dann ließ sie ihn umbringen, weil sie merkte, dass er nichts taugte. Ab da nahm sie einen Liebhaber nach dem anderen.
Man merkt schon etwas von der Orthodoxie. Katharina die Große war zwar eine deutsche Prinzessin, aus Brandenburg oder so, aber der russische Glaube hat eine tiefe Religiosität, eine ernsthafte Frömmigkeit. Er hat jedoch nie eine Ethik oder Lebensgestaltung entwickelt. Der Glaube war nie verbindlich fürs Leben. Man trank, war dem Alkohol verfallen und gab das Geld aus, ohne die anvertrauten Äcker und Gärten richtig zu pflegen.
So hatte Katharina die Große viele Liebhaber, die zugleich ihre Vertrauten waren. Der bekannteste ist Fürst Potemkin, von dem die „Potemkinschen Dörfer“ stammen. Potemkin war nicht nur ein Kulissenbauer, sondern ein mächtiger und einflussreicher Fürst.
Katharina merkte, als sie älter wurde: Wem soll ich einmal mein großes Reich anvertrauen? Sie hatte einen Sohn, Paul, den Zarewitsch. Diesem traute sie es nicht zu. Er zeigte schon in der Jugend eigenartige Züge. Das steigerte sich bis 1801 zum radikalen Wahnsinn, so dass ein Offizierskorps den Zaren ermordete.
Aber jetzt sind wir der Geschichte vorausgeeilt. Katharina sorgte sich, denn Paul schaffte es nicht. Die Ehe, die er mit einer Prinzessin von Hessen-Darmstadt geschlossen hatte, war nach einem Jahr beendet, da sie an einer Fehlschwangerschaft starb.
Wo sollte Paul die richtige Frau finden, die hoffentlich Kinder bekam, damit einer ihrer Enkel das große russische Reich übernehmen konnte? Man sagte ihr, es gäbe eine überaus liebenswerte Prinzessin aus einem sehr kleinen, unbedeutenden Königreich Württemberg. Sie musste wahrscheinlich erst fragen, wo das überhaupt sei. Es war Sophie Dorothea von Württemberg, die Schwester des dicken Friedrich.
Als Katharina die Große Sophie Dorothea zum ersten Mal sah, schrieb sie: „Sie ist lieblich wie eine Lilie, schlank wie eine Nymphe. In ihrer weißen Gesichtsfarbe zeigt sich das Inkarnat einer Rose. Sie ist von hohem Wuchs mit entsprechender Fülle, was früher auch wichtig war, und hat eine große Leichtigkeit im Gang. Aus ihrem Angesicht sprechen milde Herzensgüte und Aufrichtigkeit. Sie ist dazu geschaffen, geliebt zu werden. Sie wird gewiss Macht über das Herz ihres Gemahls haben. Bei dem herausragenden Verstand, den sie besitzt, wird sie unbestreitbar von dieser Macht Gebrauch machen.“
So hätte man auch mal über mich schreiben sollen: „Ging wie eine Nymphe“ oder so.
Das war Sophie Dorothea.
Der Eintrittspreis, Gemahlin des Thronfolgers zu werden, war hoch. Sie musste sich umtaufen lassen und den orthodoxen Glauben annehmen. Die normale lutherische Taufe galt nicht. Bei der Taufe erhielt Sophie Dorothea den Namen Maria Fedorowna. „Fedor“ bedeutet „die Tochter des Feodor“.
Zur großen Freude Katharinas der Großen brachte sie zehn Kinder zur Welt.
Katharina die Große bekam nicht alles mit, aber sie erlebte die Geburt der ersten Kinder: einen Sohn Alexander, dann Konstantin, danach Katharina, die später württembergische Königin wurde und auf dem Roten Berg beerdigt ist. Das Kathrinastift und das Kathrinerhospital sind nach ihr benannt. Auf unserem schwäbischen Tatschmachal, dem Roten Berg, ist sie beerdigt, die geliebte Frau von Wilhelm I., der die Landesschirokasse gründete.
Wie gesagt, Katharina erlebte auch die Geburt von Michael und weiteren fünf Söhnen und fünf Töchtern.
Dann merkte Katharina die Große: Sophie Dorothea, die Maria Fedorowna, ist mir zu fromm und zu revolutionär. Sie hielt täglich im Schloss Pawlowsk, vor den Toren Petersburgs, das heute wieder wunderbar aufgebaut ist, eine Morgenandacht mit den Bediensteten und Kindern. Sonntags ließ sie ein schwäbisches Stündle abhalten, meist von den Erziehern ihrer Söhne – richtig pietistisch.
Wenn Sie heute nach Pawlowsk kommen, stehen dort in einem Schrank vier dicke Wälzer: das große Erbauungsbuch des achtzehnten Jahrhunderts. „Ernst wahres Christentum“ hat sie gelesen. Ihr Beichtvater, den sie schon in ihrer Jugend in Mömpelgard erlebt hatte, war der Schweizer Pfarrer Lafater. Von ihm stammt das Wort „Summa summarum“:
„Christus oder Verzweiflung – müssen Sie merken, summa summarum, Ende alles Überlegens ist Christus oder Verzweiflung. Man muss an sich selbst verzweifeln, an der Welt, am Zustand der Mitmenschen, am eigenen Verstand – Christus oder Verzweiflung.“
Von diesem Wort stammt auch das herrliche Lied:
„Von dir, o Vater, nimmt mein Herz Glück,
Unglück, Freuden oder Schmerz.
Hörst du es noch, gelernt in der Schule?
Von dir, der nichts als lieben kann,
voll Dank und voll Erbarmen.“
Das habe ich noch beim Nazilehrer gelernt.
„Ist alles dunkel um mich her,
die Seele müd und freudenleer,
bist du doch meine Zuversicht,
bist in der Nacht, oh Gott, mein Licht!
Wenn niemand dich erquicken kann,
so schau deinen Heiland an,
schütt aus dein Herz in seinen Schoß,
denn seine Macht und Gut ist groß, Sparlah Vater!“
Von diesem Glauben lebte sie, als ihr Ehemann immer verrückter wurde und sich eine pocknarbige Geliebte nahm, während sie mit ihrer Lilienhaut nur noch Soldäterles spielte.
Er hatte sich einen Dreispitz angeschafft wie Friedrich der Große und wollte ihn immer nachahmen. Er ließ einen extra Exerzierplatz anlegen, auf dem er seine Soldaten herummetzelte – wie ein preußischer Unteroffizier.
Als der Gemahl immer verrückter wurde, lebte sie von dem Satz: „Wenn niemand dich erquicken kann, so schau deinen Heiland an.“
Dann kam das Schlimmste.
Sie hatte ihre beiden ältesten Söhne, Alexander und Konstantin, der baltischen Baronin von Lieven anvertraut, einer frommen Frau, zur Erziehung. Doch Katharina die Große sagte: „Das hört auf! Meine Enkelsöhne, die einmal Zaren sein werden, sollen nicht so bigott erzogen werden.“
Sie bestellte einen zynischen Aufklärer aus der Schweiz, La Harpe, zum Erzieher der Söhne. Alexander sollte nicht mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht werden.
La Harpe lehrte Alexander, wer Jesus sei: Jesus war ein Jude, dem andere Juden den Namen Erlöser gegeben hatten, von dem das Christentum seinen Namen hat. Das war alles.
Konnte diese Saat aufgehen, die die junge Mutter Sophie Dorothea unter widrigen Umständen in die Seele ihres Alexanders gelegt hatte – mit den Morgenandachten, mit der Liebe zum Wort Gottes? Oder wurde sie zerstört durch die aufklärerische Erziehung und andere schwere Dinge?
Der einzige Lichtblick in den zwanzig Jahren bis zum Tod Katharinas der Großen und der Thronbesteigung von Paul war im Jahr 1787 eine Bildungsreise nach Italien, Spanien und danach Württemberg.
Vorher war sie noch zehn Tage bei Lafater mit vielen seelsorgerlichen Gesprächen bei ihrem Beichtvater.
Dann kam sie nach Württemberg. Der Herzog Karl Eugen veranstaltete zwei große Festivitäten: eine riesige Truppenparade vor dem damals gerade fertiggestellten neuen Schloss im Jahr 1782 und abends ein Feuerwerk auf der Solitude.
Für uns Württemberger war das wichtig, denn Friedrich von Schiller, unser verehrter Nationaldichter, nutzte diesen großen Rummel, um nach Baden-Mannheim abzuhauen. Alle Soldaten und Polizisten waren auf der Solitude eingesetzt, so konnte er über die Grenze fliehen.
1782 war ein bedeutendes Jahr für Dorothea.
Doch jetzt muss ich zurück nach Russland. Meine Söhne wurden mir weggenommen.
1797 starb Katharina die Große. Vier Jahre lang war sie Zarin an der Seite ihres immer verschlossener, merkwürdiger und wahnsinniger werdenden Mannes. Er baute den Michaelspalast, der wie eine große Festung wirkt. Er hatte viele Feinde und wollte sich vor ihnen schützen.
Im Jahr 1801 wurde er von der Offiziersgarde bei Nacht erdrosselt. Wahrscheinlich wussten der Sohn Alexander und seine Frau Maria Fedorowna von der Verschwörung. Man hatte ihnen aber nur gesagt, er werde entmachtet und festgesetzt. Sie wussten nicht, dass es ein Mord werden würde.
Beide litten unter dieser Last.
Noch ein Satz zu Maria Fedorowna, ein Gedanke: 1818 kam sie als Zarenwitwe nach den napoleonischen Feldzügen noch einmal nach Württemberg. Dort lernte sie den schwäbischen Bildhauer Danneker kennen und gab ihm den Auftrag für eine große Jesusstatue.
Diese Statue stand bis 1944 als Abguss in der Hospitalkirche in Stuttgart. Jesus wurde dargestellt in der Gestalt „Durch mich zum Vater“ – etwas ganz Neues in der russischen Frömmigkeit: „Durch mich, durch Jesus zum Vater.“
Danneker hauchte die Statue in Marmor. 1824 wurde sie in Petersburg im Schloss Gatschina aufgestellt.
Sophie Dorothea, oder Maria Fedorowna, konnten die Samenkörner aufgehen lassen – ja, unter widrigsten Umständen.
Die Bibel als Quelle der Hoffnung im Angesicht der Napoleonischen Kriege
Als Napoleon 1812 in Russland einmarschierte und eine Schlacht nach der anderen gewann, war der russische Zar, der junge Alexander, Sohn der Sophie Dorothea, verzweifelt. Er war schwerhörig und auch verschlossen. Seine aufklärerische Frömmigkeit hatte er verloren.
Wohin kommen wir jetzt? Er ließ einen General absetzen, doch trotzdem gingen die Schlachten weiter verloren. Moskau war bedroht. Eines Tages betrat er das Arbeitszimmer seines Jugendfreundes, des Fürsten Galitzin. Auf dem Tisch sah er ein Buch. Er wusste nicht, was eine Bibel war, doch es war eine Bibel.
Sein Blick fiel auf die Psalmen: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe!“
Er fragte seinen Freund: „Was ist das?“ Dieser antwortete: „Das ist eine Bibel.“ Der Zar murmelte etwas: „Wie kann man mit solchen Worten leben und hoffen?“
Er ließ sich nach Hause fahren und bat seine Frau, eine gebürtige badische Erzherzogin, ihm eine Bibel zu geben. Er begann darin zu lesen. Nach einem halben Jahr sah die Bibel aus wie ein zerlesenes Schulbuch.
Als Napoleon aus Russland vertrieben wurde, also etwa ein halbes Jahr später, gab Zar Alexander ein Dekret heraus. Darin verfügte er, dass in Russland eine Bibelgesellschaft gegründet werden solle. Die Bibel sollte in alle in Russland gebräuchlichen Sprachen übersetzt, gedruckt und verbreitet werden. So entstand die Petersburger Bibelgesellschaft.
Diese sollte durch die British and Foreign Bible Society aus London unterstützt werden, die Mutter aller Bibelgesellschaften. Seine kaiserliche Hoheit hatte sich durch eigenes Lesen und eigene Überzeugung davon überzeugen lassen, dass das Wort Gottes selbst in den trostlosesten Lagen hilft. Es könne zur Erbauung des Volkes nach der schrecklichen Zeit Napoleons beitragen und auch zum Wohl der Völker.
Kaiserlich wurde bestimmt: Die Bibel soll verbreitet werden.
Dieser Bibelfrühling dauerte eigentlich nur etwa zehn Jahre. Dann wurde er durch die orthodoxe Kirche gestoppt. Diese erkannte, ähnlich wie die katholische Kirche bis ins letzte Jahrhundert, dass ihre Autorität untergraben wird, wenn die Menschen selbst die Bibel lesen. Wenn sie nur noch die Autorität des Wortes Gottes anerkennen, sind sie nicht mehr vom Priester abhängig. Dann merken sie, dass in der Bibel nichts von Kerzen, Ikonen, Kreuzschlagen oder Knien vor Ikonen steht.
Nach etwas mehr als zehn Jahren wurde die Bibelgesellschaft eingestellt. Es war nur durch internationale Verbindungen noch möglich, dass die British and Foreign Bible Society bis 1917 Bibeln ins Land bringen konnte. Dies geschah durch den schwachen, schwerhörigen und entschlussarmen Zar Alexander I., den Sohn von Maria Fedorowna.
Aus dieser Saat ist etwas gewachsen. Gott benutzt einzelne Menschen. Lesen Sie doch mal die Bibel! Es sind nie Massenbewegungen, die Gott benutzt. Auch in der Frömmigkeitsgeschichte unseres Landes hat Gott einzelne Mütter und Väter gebraucht. Auf dass die Ehre Gottes sei und nicht die der Menschen.
Was ich mache, will ich schaffen.
Die Stundisten und die Verbreitung des Evangeliums unter deutschen Kolonisten
Aus diesem Aufbruch mit der Bibel zwei Erinnerungen.
Sie haben vielleicht schon gehört: In Russland gibt es die Stundisten. Der Name kommt vom deutschen Wort „Stunde“. Viele der Kolonisten, die unter Alexander I. nach Russland gerufen wurden – zuerst an die Wolga, dann in die Schwarzmeergebiete – sind gegangen, weil sie sagten: „Das ist ein frommer Zar.“ Unser Digger Friedrich hingegen sei gottlos. Er habe eine neue Liturgie einführen lassen, in der nichts mehr vom Teufel steht und nichts mehr vom Erlöser. Aber Alexander, das sei doch der fromme Mann, und seine Mutter, die Sophie Dorothea, vielleicht sei sogar am Schwarzmeer mehr hier gut als in Württemberg.
Alle Wege waren in Württemberg ein Grund: ein frommer Zar. So sind sie mit ihren Predigtbänden, ihren Gebetbüchern und vor allem mit der Bibel und sonst wenig Gepäck auf die beschwerliche Auswanderung gegangen und haben sich niedergelassen.
Zwei, drei Generationen hatten es furchtbar schwer. Doch als sie es endlich schafften, auf diesem unbestellten Boden Getreide anzubauen, entstanden dort Gemeinschaften – die Stundisten.
Gott hat es gewirkt, dass plötzlich die russischen Saisonarbeiter und die ukrainischen Saisonarbeiter, manche Tataren sogar, sonntagmittags dabei saßen, wenn der Hausvater die Bibel vor sich hinlegte, sie auslegte und eine Stunde lang predigte.
Das hat bei diesen russischen Erntearbeitern Eindruck gemacht. Sie sahen, dass diese Menschen nicht an der Schnapsflasche hingen, ihr Land bestellten, sorgsam mit dem Vieh umgingen, für ihr Haus sorgten und nicht einfach alles verfallen ließen. Wenn es Streit in der Familie gab – und das kam auch bei ihnen vor –, sorgten sie dafür, dass es wieder Versöhnung gab. Sie zogen ihre Kinder auf, achteten darauf, dass sie Bildung bekamen.
Sie merkten: Der Grund dafür ist die Kraft, die von der Bibel ausgeht, die ordnende und neu belebende Kraft.
Plötzlich gab es in Russland Bibeln, und viele der Saisonarbeiter kauften sich Bibeln – damals zu horrenden Preisen – und begannen selbst, Stunden in ihren Heimatorten zu halten.
Das bemerkten bald die Popen, die Ortsgeistlichen. Sie sahen, dass die Menschen nicht mehr zum Gottesdienst kamen, keine Kerzen mehr vor den Ikonen aufstellten und nicht mehr zur Beichte gingen.
Verfolgt wurden nicht die Kolonisten, die deutschen Einwanderer; ihnen hatte man religiöse Freiheit gewährt, ebenso den Russen. Doch die russisch-orthodoxe Kirche sagte: Das ist eine deutsche Infiltration, eine fünfte Kolonne. Achtung! Sie geben sich religiös, aber sie wollen Russland unterwandern.
Deshalb gab man ihnen als Schimpfwort den Namen Stundisten – von „Stunde“, dem deutschen Wort. Sie seien halbdeutsch, denen dürfe man nicht trauen.
Schon bald wurden die Stundisten verfolgt und mit ihrer Bibel nach Sibirien verschickt.
In Russland war durch Umfragen bei den Bezirksgouverneuren, die eigentlich alle stundistischen Umtriebe unterbinden sollten, bekannt, dass Stundisten die vertrauenswürdigsten Mitbürger seien.
In den Orten, wo Stundisten lebten, wurde nicht mehr gestohlen. Es gab keinen Aufstand gegen die Obrigkeit. Alkohol spielte lange keine so große Rolle wie anderswo. Die Menschen arbeiteten ordentlich, kamen wirtschaftlich voran, und die Äcker waren bestellt.
Trotzdem versuchte die orthodoxe Kirche immer wieder, sie zu verfolgen. Dadurch wurden Stundisten in die Weiten des russischen Raums weit jenseits des Urals geschickt, wo sie unter Verfolgungen das Wort Gottes weitergaben.
Das wäre ein abendfüllendes Programm über die Stundisten.
Aber was hat begonnen? Wenn niemand dich erquicken kann, so schaue deinen Heiland an – nicht Maria, Peter Wofner.
Sein Wort tröstet.
Plötzlich, unter Alexander, ist etwas aufgegangen: Es gab Bibeln in Russland. Durch die Bewegung der Stundisten, belebt durch die deutschen Kolonisten, ist der Same in Russland aufgegangen und hat etliches dreifach, sechzigfach, hundertfach Frucht getragen.
Sie haben auch schon gemerkt, was ich angedeutet habe: Dort, wo die Bibel ernst genommen wird, geht es nicht mehr um Riten oder Frömmigkeitsübungen. Gott muss reden!
Es gibt ergreifende Geschichten aus den Gouverneursberichten, wie zehn Stundistenfrauen eingesperrt waren, aber im Herzen vom Wort Gottes erfüllt blieben.
Ein paar russische Bauern-Stundisten, die man hungern ließ, wurden vom Gouverneur gefragt: „Warum seid ihr nicht kaputt?“ Da legten sie die Hand auf die Bibel und sagten: „Das ist unser Brot.“ So wie der Herr Jesus gesagt hat: „Ich habe eine Speise, von der ihr nicht wisst.“ Das setzt sich um in Lebenskraft.
Die Geschichte der russischen Stundisten müsste eigentlich erst geschrieben werden.
Erweckung durch Eduard Wüst und die Entstehung der Brüdergemeinden
Ich habe zwei Dinge gesagt. Es gab auch unter den Kolonisten manche Ermattung. Nach zwei, drei Generationen schläft der Glaube ein, oft schon in unserem Leben, und zwar viel früher.
Deshalb habe ich eines der wichtigsten Worte im Neuen Testament aufgegriffen: „Wach auf, wach auf, der du schläfst, werde wach und stärke die anderen.“
Da gab es Gemeinden in der Gegend von Berdjansk, Neustuttgart, Gnadental. Sie haben gemerkt, dass bei ihnen das Glaubensleben eingeschlafen war. Unsere Vorfahren sind hinausgegangen mit dem Wort Gottes, mit dem lebendigen Glauben. Aber bei uns ist nichts mehr los.
Also haben sie nach Korntal geschrieben an den Vorsteher Gottlieb Wilhelm Hoffmann: „Schick uns einen lebendigen Pfarrer.“ Er hat sich ein bisschen umgeschaut und gesagt, da ist der Eduard Wüst. Das war ein gescheiterter württembergischer Pfarrer, den man aus dem Pfarrdienst entlassen hatte, weil er ganz furchtbare Sachen gemacht hat.
Um 18.45 Uhr hat er sich mit den Leuten gemein gemacht, indem er in die Häuser gegangen ist und mit den Leuten gesprochen hat – und sogar mit ihnen gefesselt hat. Furchtbar! Heute wäre man froh, wenn jeder Pfarrer Hausbesuche macht.
Zweitens hat er sich mit den Leuten, mit den jungen Leuten, gemein gemacht. Er hat mit ihnen auf der Straße gespielt. Was heute bedeutet, dass ein Pfarrer Jugendarbeit macht. Das hat er schon gemacht.
Das Allerschlimmste war: Er hat Kontakt gehalten zu den Methodisten. Furchtbar, gell! Also hat man ihn aus dem Fahrdienst vertrieben. Hoffmann hat gesagt: „Du bist gerade recht“ und hat ihn die weite Strecke geschickt, ins Schwarzmeergebiet nach Berdjansk.
Er hat auch gemerkt, dass es dort alte, erstarrte Mennonitengemeinden gab, die aus der Gegend von Danzig eingewandert waren. Diese wurden durch das nur zehnjährige Wirken von Eduard Wüst belebt.
Er hat eigentlich bloß gepredigt wie Hofacker, aber im Glauben gibt es keinen Gedankendiebstahl. Manchmal ist es besser, man schaut in ein Predigtbuch, nach einem guten Gedanken, als dass man verzweifelt selbst etwas aus sich herausholen muss.
Er hat eigentlich bloß Hofacker ausgewählt und eine Erweckung zustande gebracht, auch unter den Mennonitengemeinden. Er hat gesagt: „Leute, ihr müsst euch anders organisieren, so etwa wie Korntal.“ Und daraus sind die Mennoniten-Brüdergemeinden entstanden. Stichwort Brüdergemeinde wie Korntal.
Diese Gemeinden wurden nach der stalinistischen Verfolgung und den furchtbaren Hungerlagern nach dem Zweiten Weltkrieg in alle Welt verstreut – nach Kanada, Südamerika, Brasilien, Paraguay. Sie sind Segensquellen geworden.
Gott kann etwas, was er einmal angestoßen hat, auf die merkwürdigsten Kanäle beleben.
Können Sie noch? Sonst singen wir zwischendurch einen Vers von dem Lied „Die Sache ist Deiner Jesu Christ“. Dort heißt es: „Ich bin nicht fertig.“
Das ist also 2000 Jahre russische Geschichte. Man kann das nicht in anderthalb Stunden schaffen, aber vor halb zwölf sind wir fertig, um 11:42 Uhr.
Das haben wir auch bei Maria Federowna gemerkt. Sie musste auch von ihrem eigenen Wesen loswerden und ging durch das Sterben hindurch.
Evangelische Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert
Jetzt geht es eigentlich nahtlos weiter, und man könnte meinen: Nun ist es so weitergelaufen. Bibeln waren da, und die britische Bibelgesellschaft brachte nach wie vor Bibeln ins Land, auch nachdem die russische Bibelgesellschaft geschlossen wurde. Diese hatte innerhalb von etwa zehn Jahren rund 700 Bibeln nach Russland gebracht.
Es ging weiter. Etwa im Jahr 1867 war der kaiserliche zaristische Hofmarschall Modest Graf von Korff auf der Weltausstellung in Paris. Wenn es heute den Pavillon der Hoffnung auf der Expo gibt – Christen haben solche Veranstaltungen immer genutzt. So wurde 1901 in Berlin während der Erweckung eine Evangeliumshalle bei der Industrieausstellung gebaut. Wenn viele Menschen zusammenkommen, müssen wir sie erreichen.
1867 war Graf Modest Korff als Besucher auf der Weltausstellung in Paris und entdeckte plötzlich einen Stand der britischen Bibelgesellschaft. Er interessierte sich für russische Testamente und fragte, ob es möglich sei, in Russland Testamente zu verbreiten. Die Antwort war: Nein, das geht nicht. Es gibt große Schwierigkeiten mit der Orthodoxie, und als kaiserlicher Hofmarschall darf er das nicht.
Kaum war er wieder zurück in Sankt Petersburg, wurden Kisten mit 3.000 neuen Testamenten abgeladen. Er hatte bemerkt, dass diese in der Adelsgesellschaft sehr geschätzt wurden und fast aus der Hand gerissen wurden. Das war der Anfang der Bibelgesellschaft in Russland.
Dann kam das Jahr 1874. Eine hochadelige Frau namens von Zschertkow kehrte nach Petersburg zurück. Sie hatte in England Evangelisationen erlebt, unter anderem von Spurgeon und einem englischen Erweckungsprediger, einem Hochadeligen namens Lord Redstock. Ihre beiden Töchter waren in England verstorben, und Lord Redstock hatte ihr als Seelsorger Trost gespendet. Sie meinte, er müsste nach Petersburg kommen.
Sie sagte, dass in Petersburg viele Adelspaläste stünden. Sie selbst hatte dort zwei Freundinnen, beide aus dem Baltikum stammende Baroninnen: die Fürstin Gagarin und die Fürstin von Lieven. In deren Palästen könnten vielleicht Versammlungen mit Lord Redstock stattfinden. Er sprach zwar nicht Russisch und nur sehr schlecht Französisch, das damals die Sprache des Adels in Petersburg war. Doch man würde ihn übersetzen. Es gab eine Dame, die Englisch verstand und ins Französische übersetzte.
Die Frau von Cousinsterna erzählte, wie diese Übersetzerin immer wieder sagte: "Venez à Jésus" – "Kommt zu Jesus". Ihre Frau könne es besser sagen, stimmt’s? Kommt zu Jesus.
Lord Redstock ging auf alle Leute persönlich zu und fragte: "Sind Sie erlöst?" Vielleicht müsste man es heute anders formulieren, aber ich glaube, das ist nach wie vor die Kernfrage: Sehnen Sie sich in Ihrem Leben an irgendeiner Stelle nach Erlösung? Nach Erlösung von Angst, vom Scheitern, von der Zukunft, von Krankheit? Gibt es diese Sehnsucht nach Erlösung? Ich glaube, das ist die Kernfrage.
Diese Frage löste zuerst eine Erweckung unter dem Hochadel aus. Eine der Damen bat darum, ihren wunderbaren Saal im Palais Paschkow für Versammlungen zu nutzen. Dort fanden oft kaiserliche Bälle statt. Der Oberst von Paschkow war Garde-Kavallerie-Oberst und einer der reichsten Bodenbesitzer Russlands.
Doch in ihren Räumen konnte man nicht einfach Veranstaltungen abhalten. Dort arbeiteten Trostkutscher und Stallknechte, und es roch nach Stall und edlem Parfüm. Lord Redstock evangelisierte, doch Paschkow sagte: "Meine Frau ist vom religiösen Wahn besessen, da gehe ich nicht hin." Er zog sich auf seine Güter in der Gegend von Moskau zurück.
Als er zurückkam, erlebte er, dass der Empfangschef, der eigentlich die Bediensteten und die Kutschen empfängt, sagte: "Es ist alles voll." Man musste sogar im unteren Geschoss den Speisesaal mit Menschen füllen. Es waren 700 Menschen im Palais Paschkow. Dort wurde Lord Redstock begrüßt. Er fragte auch dort: "Sind Sie erlöst?"
Paschkow war davon beeindruckt und wurde später einer der Führer dieser Erweckungsbewegung, die von 1874 bis 1884 dauerte – also zehn Jahre.
Das Besondere an dieser Erweckungsbewegung war, dass sie vor allem die Beamtenschaft und die vornehmen Leute erreichte. Der Hofmarschall Graf Modest Korff und der Polizeipräsident Bobrinsky, der seine Hand über die Bewegung hielt, gehörten dazu. Aber ebenso wurden auch ganz einfache Leute erreicht.
Eine Erweckungsbewegung ging damals durch die Trostkutscher. Das war der Anfang. Man begann in Deutschland mit der Taxifahrermission, weil man merkte, dass es Menschen gab, die eigentlich nicht in den Gottesdienst gehen konnten. Für sie brauchte man besondere Traktate.
Von Sankt Petersburg ging in jenen kurzen Jahren unheimlich viel aus. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Es entstanden Nähstuben, der Vater de Meier, dessen Tochter eine der berühmtesten Muslimmissionarinnen wurde, wurde für den Glauben gewonnen. Es wurden Suppenküchen eingerichtet, Volksbibliotheken gegründet und eine evangelistische Zeitschrift herausgegeben, der "Russische Arbeiter".
Viele Evangeliumslieder wurden gesungen. Das Singen spielte eine große Rolle. Aber auch die soziale Tätigkeit war wichtig. Oberst von Paschkow, als Garde-Kavallerie-Oberst mit strategischem Denken, sagte: "Jetzt hat Gott durch die Bibel die alten russischen Sekten – die Dukhoborzen, die Molekanen, die Stundisten verschiedenster Prägung und die Mennoniten – gewonnen. Wir müssen sehen, dass wir die irgendwie in ganz Russland verbinden."
Das war der Allianzgedanke. Alle litten unter der Orthodoxie, wurden verfolgt und waren einsam. Der Herr Jesus gab als letztes Gebot: "Vater, dass sie alle eins seien, so wie du in mir und ich in dir" (Johannes 17,21). Das heißt nicht nur einfach Einheit, Einheit, Einheit, sondern: Lass uns in dir und mit dem Vater verbunden sein – aber auch untereinander.
Er schrieb an all diese Gruppen, von denen man wusste, und sagte: "Kann nicht jeder kommen, der will? Nur wer von einer Gemeinde abgesandt ist, von jeder Gemeinde ein Abgesandter." Etwa hundert Abgesandte trafen sich 1884 in Petersburg im Palais Lieven. Die Stimmung war gesegnet.
Am zweiten Tag versuchte der Teufel, Spaltung hereinzubringen, wegen der verschiedenen Taufverständnisse: Kindertaufe, Gläubigentaufe, Untertauchen, Halbuntertauchen, fließendes Wasser, stehendes Wasser, Jordanwasser und so weiter. Man könnte aus all dem ein Gesetz machen und dabei vergessen, dass wichtig ist, dass der Herr Jesus nach mir greift und dass ich ihm Glauben schenke. Dass er am Kreuz gestorben ist – das ist das entscheidende Datum – und dass das für mich gilt.
Doch diese Spaltung wurde abgewendet. Am dritten Tag tauchte niemand mehr von den Delegierten auf. Einer gab einen Zettel ab: "Wir sind alle verhaftet worden." Die orthodoxe Kirche hatte die Polizei alarmiert und gesagt: "Hier ist ein Aufstand." Die russische Polizei war ohnehin hellhörig, weil 1881 Zar Alexander II. ermordet worden war. Vielleicht handelte es sich wieder um eine revolutionäre Gruppe.
Man inhaftierte alle Delegierten, schickte sie weg. Nach wenigen Monaten wurden Graf Modest Korff und Oberst Paschkow vor die Frage gestellt: Werden Sie noch einmal Versammlungen abhalten? Werden Sie noch einmal predigen? Werden Sie das Evangelium weitergeben? Nur wenn sie das unterschreiben, durften sie bleiben. Andernfalls müssten sie binnen 48 Stunden Russland verlassen und ihr gesamtes Vermögen zurücklassen.
Beide unterschrieben nicht. Sie wurden aus Russland verbannt – innerhalb von 48 Stunden. Paschkow starb im Alter in Paris, Modest Korff 1927 im Alter von 91 Jahren in der Schweiz.
Seitdem lässt sich aus Russland, aus den verschiedenen evangelischen Gruppen – den Evangeliumschristen, dem Allusionsrat der Baptisten, den Dukhoborzen, den Molekanen und vielen anderen – dies nicht mehr wegnehmen: "Komm zu Jesus, bist du erlöst!" Und wo das Wort Gottes ist, da ist Leben.
Herausforderungen der Einheit und der Allianzgedanke heute
Die Gefahr Russlands besteht in der permanenten Trennung. Gleich nach der Perestroika begann die Lausanner Bewegung mit einem Evangelisationskongress in Moskau, ähnlich wie 1884. Tausende kamen zusammen, etwa viereinhalbtausend aus allen evangelischen Gruppen und Gemeinden.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie Dr. Tom Houston, der internationale Direktor der Lausanner Bewegung, tief erschüttert von diesem Kongress zurückkehrte. Nicht erfreut, sondern sagte er: „Jetzt weiß ich, was es heißt: Sie suchen alle das Ihre, nicht das, was Christus ist.“
Wenn ich so in das Württemberger Land sehe, oft sogar in unsere eigenen Kreise, denen wir durch Jesus angehören wollen, frage ich mich, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Ob es in Liebenzell der Gottesdienst richtig ist und ob sie sich mit den Katholischen nicht nur oberflächlich austauschen – es ist oft nur ein Geschwätz. Sie suchen alle das Ihre.
Das war auch Oberst Paschkow wichtig: „Wir wollen alles zurücklassen – das ganze Geschwätz übereinander, alle unterschiedlichen Meinungen, die wir haben – und zusammenstehen.“
Ich halte es für ein besonderes Vorrecht, dass der 1917 in Wernigerode entstandene Missionsbund, der damals unter russischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs wirkte, jetzt in Korntal beheimatet ist. Wir Württemberger haben wieder das Privileg, solch eine Missionsgesellschaft in unserer Mitte zu haben. Schon in den schwierigsten Zeiten, ab 1946/47, brachte sie Bibeln nach Russland, Liederbücher und Material für Jugendgruppen. Sie unterstützte Freizeiten und hilft heute auf neue Weise.
Vor zwei Jahren, im letzten Jahr, haben wir in Kiew erlebt, wie Christengruppen in diesem Geist unterstützt werden. Sie sollen zusammenkommen. Es soll nicht jeder sein eigenes Glaubensleben pflegen, sondern der Gedanke der Allianz soll gelebt werden.
Dort, wo Jesus gemeinsam großgemacht wird in diesem großen Reich, wollen wir das Wirken Gottes in Russland unterstützen – ein Wirken, das schon über tausend Jahre besteht.
Besonders intensiv wird es dort, wo es um das Wort Gottes geht, wo Gott einem Volk die Bibel gibt. Uns hat Gott auch die Bibel gegeben – durch die Reformation. Wir haben so viele Auslegungen, Kalender und Bibellesezettel, damit Gottes Wort nicht nur gelesen, sondern auch ins Herz eindringt und Frucht bringt.
So wie es bei den Tuchoborzen, Molochaden, Mennoniten, Mormonen – wie immer sie heißen –, den verschiedenen Gruppen von Evangeliumschristen und Baptisten Frucht gebracht hat.
Eine einzelne Person, wie ein Alexander oder eine Sophie Dorothea, kann durch Gott Großes wirken. Herr, schenke uns doch, dass du uns als deine Werkzeuge gebrauchen kannst.
Wir staunen, was du in diesem großen russischen Reich gewirkt hast. Wie du die Seelen dieser sehnsüchtig auf Erlösung wartenden Menschen geöffnet hast und dafür gesorgt hast, dass dein Wort wirkt. Lass es auch bei uns wirken, noch einmal durch uns.
Möge geistliches Leben, Gottes Leben, in unser Land kommen. Segne dieses Haus, segne die Schülerinnengruppen, alle Mitarbeiter und die Gemeinschaftsverbände in unserem Land. Segne auch die Kirchengemeinden, damit dein Wort Gottes wieder Macht über Menschen gewinnt.
Geh du mit uns hinein in diese Nacht. Wir preisen dich und staunen, wie viel du wirken kannst. Amen.