Einleitung: Die Erfahrung von Verlust und Sterben im Krieg
Für den heutigen Volkstrauertag ist uns ein Bibelabschnitt aus dem Zweiten Korintherbrief, Kapitel 5, gegeben: „Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird.“ Das ist furchtbar!
Im Krieg wurde dies millionenfach erlebt: Junge Menschenleben wurden ausgelöscht. Wie schrecklich ist jedes einzelne Schicksal, wenn eine Soldatenwitwe ihre Kinder allein durchbringen muss. Oft sind die Versehrtheiten noch über Generationen spürbar.
Wir haben die erlebt, die mit körperlichen Verletzungen heimgekommen sind. Unser irdischer Leib, diese Hütte, wenn sie zerbrochen wird – das ist schrecklich. Besonders, wenn wir es bei Angehörigen erleben, wie nach und nach die Körperkraft abnimmt. Am Ende bleibt oft fast nur noch der Schatten des Leibes übrig, der uns so lieb und wertvoll ist.
Und wir wissen, dass wir alle auf dieses Ziel zusteuern.
Die bergende Gewissheit des Apostel Paulus
Apostel Paulus schreibt: Wir wissen, wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird. Was wissen wir denn? Er will uns nicht in eine Angstpsychose oder große Wehleidigkeit treiben. Vielmehr möchte er diejenigen ansprechen, die ernsthaft mit dem Sterben rechnen, genauso wie jene, die am liebsten heute früh nichts vom Sterben und von Volkstrauer hören wollen. Er möchte sie hineinholen in eine große, bergende Gewissheit.
Achten Sie einmal darauf, wie oft in diesem Abschnitt das Wort „wir“ vorkommt. Man kann es ja mitzählen: Wir wissen, wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau von Gott erbaut. Ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.
Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach. Nicht, weil wir ängstlich am Sterben sind, sondern weil wir am liebsten schon diese himmlische Behausung hätten. Nicht mehr bloß unsere Beschränktheiten unseres Körpers und Geistes. Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden. Denn dann sind wir bekleidet und nicht nackt befunden.
Solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert. Wir wollen lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde. Der uns aber dazu bereitet hat, ist Gott, der uns als Pfand den Geist gegeben hat.
Wenn Gott seinen Geist jetzt schon in meinen Körper gibt, wird er doch erst recht aus meinem sterblichen Leib noch etwas machen. Der uns dazu bereitet hat, ist Gott, der uns seinen Geist schon als Angeld, als Pfand gegeben hat.
So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leib wohnen, wandeln wir fern vom Herrn, denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und haben viel mehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn.
Darum setzen wir auch unsere Ehre darein, unseren ganzen Ehrgeiz, ob wir nun daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl des Christus, damit ein jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, sei es gut oder böse.
So wissen wir, dass der Herr zu fürchten ist.
Das „Wir“ als Ausdruck gemeinsamer Glaubenszuversicht
Zuerst eine Gewissheit, die uns erfüllt. Wenn wir jetzt in Afrika wären, würde der Pfarrer oder Katechist in Ihren Bibeln blättern. Dort geht niemand in den Gottesdienst, ohne seine eigene Bibel dabei zu haben. Man vertraut nicht einfach auf das, was der Prediger sagt, sondern möchte selbst nachprüfen, wie der Zusammenhang ist.
Im Zusammenhang würde es dort stehen. Doch wir haben jetzt keine Bibeln zur Hand. Deshalb sage ich Ihnen: Wir haben den Geist des Glaubens. Gott hat seinen Geist gegeben, und deshalb hat er den Glauben geschaffen – nicht, weil wir religiös sind.
Gott hat es bewirkt, dass ich plötzlich erkenne: Wenn wir den Geist des Glaubens haben, steht es dort geschrieben, dass der Gott, der Jesus auferweckt hat, auch uns auferwecken wird. Er will doch, dass wir ganz zu Jesus gehören.
Da wir jetzt keine Bibeln haben, um Wort für Wort nachzulesen, muss ich versuchen, es etwas einfacher zu sagen.
Die Bedeutung von Martin Luther und das Leben mit Jesus
In der Reformationswoche kam plötzlich im Autoradio unbeschreiblich schöne Materialmusik. Der Sprecher sagte, Martin Luther habe nicht nur das Religiöse erneuert, sondern auch reiche Schätze in unsere deutsche Kultur eingebracht. Dabei habe er die Polyphonie belebt und ganz neuen Rhythmus hineingebracht.
Dann wurde plötzlich das Lied „Nun freut euch, lieben Christen gemein“ in der rhythmischen Fassung gespielt. Es heißt: „Ein fester Borg ist unser Gott.“ Es ist das Heil und das Kommen heraus wunderbar.
Anschließend wurde gesungen: „Nun freut euch, lieben Christen gemein, fahr hin meines Herzens werte Kron und sei das Heil dem armen Menschen, dem Armen, und hilf ihm aus der Sündenot. Erwirke für ihn den bitteren Tod und lass ihn mit dir leben.“ So hat Gott zu seinem Sohn gesagt: „Dazu sende ich dich in die Welt. Lass doch den Menschen mit dir leben! In dir ist die Fülle der Kraft. Lass den Menschen mit dir leben.“
Diese Zeile ist dann zehn Tage lang mit mir mitgegangen – morgens schon beim Aufstehen bis ins Einschlafen hinein: „Lass ihn mit dir leben.“
Das ist es, was der Apostel Paulus meinte. Vor diesem Wunder hat er lebenslang gestaunt. Es ist der heilige Plan Gottes, dass wir nicht nur aus eigener Kraft leben müssen, sondern dass es wahr wird: „Von allen Seiten umgibst du mich, Jesus, und hältst deine Hand über mir. Du leitest mich nach deinem Rat.“
Jesus hat uns selbst verlockend gezeigt, wie das ist, mit ihm zu leben. So muss unser Leben nicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Wie bei der schwachen Rebe kann plötzlich Kraft da sein, weil sie angeschlossen ist an den Weinstock. Jesus tritt vor dem Vater für uns ein, er hat Worte voller Lebenskraft für uns.
Er ruft nicht nur über dem See Genezareth „Schweig und verstumme“, sondern kann auch über unsere aufgeregten Nerven sagen: „Komm, Ruhe, lass ihn mit dir leben!“
Das „Wir“ als Ausdruck des Glaubensbedarfs und der Gemeinschaft
Dieses „Wir“, das in diesem Abschnitt 16 Mal vorkommt, ist das „Wir“ der Menschen, die das wollen. Ja, ich will, dass du, der große, starke Jesus, mit mir schwach bist.
Ich will und ich brauche es, dass du, der Ewige, dich mit meinem schwachen, vergänglichen Leib annimmst. Ein „Wir“ voller bergender Gewissheit.
Wir wissen, wir wollen nicht bloß kleine Ziele haben. Wenn die Kraft zu Ende geht, ist der Tod Erlösung – vielleicht auch, ja. Aber nein, ich will erst recht mit ihm leben.
Wir wollen zu denen gehören, die sagen können: „Du bist meines Lebens Leben, meiner Seele Trieb und Kraft“, wie wir es eben gesungen haben. Ein „Wir“ voller bergender Gewissheit.
Die Ernsthaftigkeit des Glaubens und das Gericht vor Christus
In diesem Abschnitt des Apostels steht auch, dass es wirklich ernst gemeint ist. Vor 14 Tagen haben wir des Todestags von Johann Albrecht Bengel gedacht. Am 2. November vor 250 Jahren ist der große geistliche Vater unseres württembergischen Landes gestorben. Er hat einmal gesagt: „Wir wollen doch alle richtig in den Himmel kommen. Und deshalb wollen wir auch richtig zu Jesus gehören.“
Manche Leute hat es erschreckt, dass dieser seelsorgerliche Abschnitt des Apostels Paulus mit den Worten abschließt: „Wir haben einen Bau von Gott erbaut, der ewig ist im Himmel, wir können daheim sein beim Herrn.“ Doch dann folgt auch: „Mit dem müssen wir alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, dass ein jeder empfange, was er getan hat in seinem Leben, sei es gut oder böse.“
Damit soll uns aber nicht Schrecken eingejagt werden. Paulus ist doch seelsorgerlich, nicht sadistisch. Was soll das also? Dabei hat Apostel Paulus nichts anderes getan, als den Herrn Jesus zu zitieren – wahrscheinlich zu einer Zeit, bevor die Evangelien schriftlich fixiert waren. Jesus hat in der Bergpredigt gesagt: „Es werden nicht alle, die zu mir herhersagen, in den Himmel kommen.“
Jesus sprach von dem Tag, an dem wir vor ihm erscheinen werden. Viele werden sagen: „Herr, wir haben doch in deinem Namen große Taten getan, wir haben in deinem Namen geweissagt, wir haben vor dir gegessen und getrunken, wir waren noch beim Abendmahl, wir gehören doch dazu!“ Doch er wird zu ihnen sagen müssen: „Ich habe euch noch nie richtig erkannt. Da war kein richtiges Vertrauen, richtig echt gehörte ihr nicht dazu.“
Vielleicht haben sie tolle Innovationen in die Gemeinde gebracht. Sie haben Synodalschlachten geschlagen für die rechte Lehre und für das Fortkommen der lebendigen Gemeinde gesorgt. Doch Jesus sagt: „Ich kenne euch nicht.“ Nicht, weil er uns erschrecken will, sondern weil es echt sein soll.
Manche hat erschreckt, dass hier steht: „Wir werden empfangen, was wir getan haben, sei es gut oder böse.“ Wie war es denn dann mit dem Verbrecher, der bei Jesus gekreuzigt wurde, nebenan? Er war im Leben oft böse, doch er war eingehüllt und aufgehoben durch das Herrgedenken an Jesus. Das war gut.
Es gibt ein Gut in unserem Leben, wenn wir uns Jesus anvertrauen und uns ganz und gar von ihm annehmen lassen. Dann hebt er alles unser Böse, Ungeschickte und Verletzende auf. Böse wird es doch eigentlich nur dann, wenn man sagt: „Ja, ich brauche keinen Erbarmer, ich brauche keinen Erlöser. Ich kann vor Gott getrost hintreten, wenn nur alle so wären wie ich.“
Schade!
Der Trost des Heidelberger Katechismus und das echte Gehören zu Jesus
Unter all dem Trost und Anteilnehmen in Krankheitszeiten war für mich das Wichtigste ein Brief, in dem stand: Erster Abschnitt des Heidelberger Katechismus – „Das ist mein einziger Trost im Leben und im Sterben, dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir selbst gehöre, sondern meinem treuen Heiland Jesus Christus.“
Ich gehöre wirklich ihm, nicht den Ärzten, nicht den Medikamenten, nicht meiner Lebenssucht, nicht der Metastase. Ich gehöre ihm, und das soll richtig, soll echt sein.
Jesus nimmt Sünder an; für die ist er gerade da, die sich von ihm annehmen lassen. So ein schönes Wort hier vom Apostel Paulus, auch wenn wir leider nicht alles hier ausführlich auslegen können. Wir setzen unseren ganzen Ehrgeiz darein, dass wir ihm wohlgefallen.
So wie eine Mutter sagt: „Jetzt ist es aber recht, dass er heimkommt und ganz da ist.“ Das ist die Freude unseres Herrn Jesus, wenn wir richtig zu ihm gehören, wenn er uns ganz annehmen kann.
Die Chance der Gemeinde ist doch, dass wir uns Mut dazu machen. Jeder Gottesdienst hat den Auftrag, uns ganz neu den Impuls zu geben, nicht nur in dieser einen Stunde: „So möchte ich im Leben und im Sterben nicht mir selbst gehören, sondern meinem treuen Heiland Jesus Christus Eigentum sein.“ Ich möchte ihm gehören. Es soll echt sein, dieses Ihm-Gehören.
Die Hoffnung auf das ewige Leben und die Vollendung
Und jetzt aber dieses Befremdliche: Wir wissen, wir wissen, wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, dann haben wir einen Bau von Gott erbaut, der ewig ist, im Himmel, nicht von Menschenhand gemacht.
Es gehört zum Menschsein, dass wir ahnen, dass wir vermuten, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Irgendwie wird es weitergehen.
Der große Philosoph Rousseau hat gesagt, wir alle sind davon überzeugt, dass es nach dem Tod weitergeht. Wir alle sind davon überzeugt, aber genau wissen tun wir das nicht. Dennoch sind wir überzeugt, dass irgendwie alles Böse einmal gesühnt wird und alles Gute belohnt – so ähnlich wie das, was hier steht, nicht?
Aber Wissen darf man nicht. Und ahnen? Die Hindus hoffen, dass nach dem Sterben der Mensch in einer anderen Konsistenz weiterlebt – in Erde, Luft, Feuer, Wasser, irgendwie.
Der Schöpfer hat auch noch viel mehr Freude an unserem Körper. Das ist doch nicht gleichgelöst, nicht bloß eine Übergangsbaracke, sondern es ist ein Vorentwurf, ein Angeld, ein Hinweis. Wir haben einen Bau von Gott erbaut.
Deshalb sehnen wir uns nach dem Himmel. Wir sehnen uns nach der Vollendung, daheim zu sein beim Herrn und staunend zu erleben, das Neue, das er uns geben wird – den neuen Körper.
Wir warten auf unseres Leibes Erlösung, Befreiung, Vollendung. Vieles wissen wir nicht.
Das Geheimnis des Lebens nach dem Tod
Wir sind noch fern vom Herrn, sagt der Apostel Paulus. Wir wissen nicht, was wir so gerne gewusst hätten: Wo sind die Menschen jetzt, wenn sie vor einem Sarg stehen? Gestern noch bei einer entfernten Tante, doch das ist doch bloß nicht mehr der Mensch selbst, sondern nur das abgelegte Kleid des Menschen. Aber wo ist er jetzt? Wir wissen es nicht.
Die Bibel sagt uns das auch nicht. Solange wir fern vom Herrn sind, wird nicht alles ausgeplaudert. Wir dürfen uns auch noch manches überraschen lassen.
Wir wüssten so gerne, wo und wie wir unsere Angehörigen, an denen wir hingen, einmal wiedersehen werden. Werden wir sie wiedererkennen? Wir wüssten gerne, was in dieser Zwischenzeit geschieht – falls es eine Zwischenzeit zwischen dem Sterben und dem Daheimsein beim Herrn gibt.
Ich denke, es ist so ähnlich wie am 24. Dezember bei uns zu Hause, wenn wir Geschwister kaum mehr aushalten konnten. Bis zur Bescherung hat unsere Mutter uns am Morgen arbeiten lassen. Früher hat man doch geblockt – das war ein Geschäft, nicht? Einkaufen.
Dann hat sie mittags gesagt: "Und jetzt geht jeder ins Bett, und wenn ihr aufwacht, ist Weihnachten." Nicht umsonst benutzt die Bibel den Ausdruck vom Schlafen. Da war keine Zeit für uns dazwischen, das war es.
So stelle ich es mir meiner Dummheit nach vor, dass es so sein könnte.
Viele Fragen werden nicht beantwortet. Aber es wird gesagt: Wir wissen, dass man daheim sein kann beim Herrn. Wir wissen, dass es einmal den neuen Leib geben wird. Wir wissen, dass wir angenommen sein können in der ganz großen Freude und im Wohlgefallen unseres Herrn.
Dankbarkeit für Fürbitte und die Frage nach dem echten Glauben
In den vergangenen Krankheitsmonaten danke ich Ihnen herzlich für die vielen Fürbitten. Sie müssen wissen: Kranke werden getragen von der Fürbitte.
Dabei gab es sicher auch die Sorge, wie es nach dem Sterben weitergeht. Gibt es nicht doch noch ein paar Wochen Aufschub? Doch viel größer war die Frage: Gehöre ich denn wirklich, richtig und echt zum Herrn Jesus? Oder mache ich mir nur etwas vor?
War das, was ich verkündigt habe – zuerst als ehrenamtlicher Mitarbeiter in Jugendgruppen und später in einem langen Pfarrleben – nur Routine oder war es echt? Gehöre ich dem Herrn Jesus trotz der vielen Fehler in meinem Leben, trotz der Verletzungen, die ich anderen zugefügt habe?
Getröstet hat mich dabei Lukas 15: Jesus nimmt Sünder an. Nehmt einander an, so wie Christus uns angenommen hat. Er hat uns angenommen, Gott zu loben.
Wenn Sie darauf vertrauen können, dass er Sie angenommen hat, dann gehören Sie echt zu ihm. Dann gilt der Vers von Philipp Friedrich Hiller:
"So wird mein Tod mir nie zu früh noch unversehens kommen.
Ich spreche stets: Herr, ich bin hier, hast du mich angenommen,
so nimm ich ewig zu dir ein.
Dies soll mein letztes Beten sein,
nimm ich zu dir, Herr Jesus."
Nicht erst am Ende, sondern heute schon sollten wir beginnen zu sagen: "Nimm ich zu dir, Herr Jesus." Amen.