In der Christenheit war es merkwürdigerweise über die Jahrhunderte hinweg das Lied, das am meisten auf die Ungläubigen gewirkt hat. Sicher haben Sie die Geschichten von den ersten Christen gehört, die während der großen römischen Verfolgung in die Katakomben getrieben wurden. Wenn einzelne von ihnen dann in den Gladiatorenkämpfen kämpfen mussten, waren es die Lieder der Christen, die gerade in der schrecklichsten Verfolgung erklangen.
Dabei handelte es sich nicht um irgendwelche Lieder, die einfach nur eine Stimmung erzeugten. Nein, sie sangen große, herrliche biblische Zusagen. Das war etwa in einer der schlimmsten Verfolgungen der Christen, die wir in Europa erlebt haben. Ähnlich war es bei den Hugenotten. In dieser Verfolgung wurden etwa eine Million bekennende Jesuszeugen ermordet.
Diese Hugenottenverfolgung erstreckte sich über große Zeitspannen von weit über hundert Jahren. Wenn man das alles noch einmal an sich vorüberziehen lässt, sollte man das immer wieder auch den jungen Leuten erzählen. Ich finde es sehr schade, wenn wir nur im Heute leben. Die jungen Leute sagen oft: „Wir leben heute, wir brauchen ganz andere Lösungen für unsere Zeit. Uns nützt das nichts mehr, was die Väter erlebt haben.“
„Das sind doch große Taten Gottes gewesen, dann kann ich die ganze Bibel wegtun und sage, ich denke nicht mehr rückwärts.“
Die Kraft des Liedes in Zeiten der Verfolgung
Bei den Hugenotten hat es schon in der Reformationszeit begonnen, genauer gesagt seit 1547, also noch zu Lebzeiten Luthers. In Frankreich waren es Calvinisten, Schüler Calvins, die dort sofort grausam verfolgt wurden. Heinrich II. von Frankreich setzte seine ganze Macht ein, um die Zeugen des Evangeliums zu bekämpfen.
Was ist dabei passiert? In einem Pfarrhaus lagen diese Menschen mit gebrochenen Gliedmaßen unten, bis sie starben. Doch selbst dann sangen sie ihre Lieder. Wer es verstehen will, versteht es. Diese bekennenden Jesuszeugen wurden auf Scheiterhaufen gestellt, man fuhr sie mit dem Schinderkarren durch die Stadt. Und sie sangen dabei so klar und herrlich.
Wissen Sie, bei den Calvinisten gab es über Jahrhunderte hinweg nur eine Art Liedtexte, die sie kannten: Psalmtexte, wortwörtlich Bibelworte aus den Psalmen, die sie sangen. Die Verfolger wussten sich nicht anders zu helfen, als den Opfern bei lebendigem Leib die Zunge herauszureißen, bevor sie sie an den Scheiterhaufen banden.
Immer wieder wird erzählt, wie der Herr es schenkte, dass die Leute dennoch laut und klar ihre Lieder sangen. Man hörte das Gotteslob durch die Flammen hindurch. Besonders das Lob Gottes aus Psalm 9 wurde gesungen. Der Psalm beginnt mit den Worten: „Ich danke meinem Herrn von ganzem Herzen und erzähle alle seine Wunder.“
In der Situation des Sterbens wurde nicht einen Millimeter um diese irdische Welt gefeilscht. Heute stehen wir oft in der Versuchung, uns bezaubern oder korrumpieren zu lassen und um Tage und Wochen zu feilschen. Doch diese Menschen wollten nur ihrem Herrn gehören.
Psalm 9 fährt fort: „Ich freue mich und bin fröhlich in dir und lobe deinen Namen, du Allerhöchster!“ Historiker haben oft geforscht, was der Geist der Hugenotten war. Einige sagten, es seien die Chevaliers, die Ritter gewesen. Andere meinten, es sei die Noblesse gewesen, denn viele Adlige waren dabei.
Doch tatsächlich waren es ganz schwache Leute – wie du und ich –, die Jesus ergriffen hatten und ihm dienen wollten. Die Verfolgung machte das Ganze nur noch bekannter. Es wird erzählt, dass in Paris trotz aller Verbote bereits drei- bis viertausend Menschen zusammen diese herrlichen Psalmlieder sangen. Heinrich II. zitterte in seinem Palast.
Wer diese Lieder hört, bekommt Gänsehaut. Überall erklangen diese ungewöhnlichen Melodien. „Schafft sie doch weg!“, rief man, doch mit aller Gewalt konnte Heinrich II. diese Lieder nicht auslöschen oder wegnehmen.
Unsere jungen Leute haben heute oft die Idee, es müssten neue Lieder sein – besonders für Außenstehende. Wir haben fast eine Neurose für Außenstehende. Ich kenne viele Namenschristen, die instehend sind und dringend erweckt werden müssen. Doch ich beobachte, dass Außenstehende ganz bestimmt über das Lied erreicht werden.
Dabei sind es nicht unbedingt neue Lieder von der Folie, sondern oft Lieder, die sie vielleicht bei ihrer Großmutter gesungen haben. Lieder, die ihnen noch eine Spur bedeuten. Ich habe das an den Sterbebetten der gottlosesten Menschen erlebt.
Die Wirkung von Liedern in der Sterbestunde
Meine Frau und ich wurden neulich von einer Mitarbeiterin, die aus dem katholischen Raum kommt, gebeten, die Mutter beim Sterben zu begleiten. Es ist sehr schwierig, denn die Frau hatte nie kirchlichen Kontakt und weiß nichts über den Glauben.
Wir haben alles versucht, um einen Zugang zu ihr zu finden. Wir probierten es mit Psalm 23, in der Hoffnung, dass etwas bei ihr mitschwingt. Man kann in solchen Momenten ja nichts Neues bringen.
Dann hatte meine Frau die geniale Idee: Wir sollten singen. Ich hätte gesagt, wir sprechen es, aber sie meinte, wir singen. Also sangen wir „Nimm denn meine Hände“. Ich mit meiner krächzenden Stimme, sie mit ihrer schönen Stimme.
Und plötzlich sprach die Frau alles mit den Lippen mit – eine Katholikin, bei der eigentlich nichts vorhanden war. Wenn man dann noch einmal darüber nachdenkt und sagt: „Wenn ich auch gar nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziel“, dann ist Jesus da. Er sucht sie mit seiner Liebe, und sie darf bei ihm die Lasten ihres Lebens ablegen.
Ja, danke! Verstehen Sie, wie groß das ist? Wir erreichen das Herz von Menschen, wo wir es gar nicht erwarten. Oft frage ich mich, ob unsere jungen Leute da nicht ganz anders sind.
Ich habe nichts gegen neue Lieder und singe sie auch sehr gern. Aber es geht darum, dass wir dabei nicht den großen Schatz verlieren. Es ist merkwürdig, dass viele Lieder in einer großen Bewährungsprobe entstanden sind.
Die Entstehung von Liedern in Zeiten der Not
Sie kennen vielleicht einiges von dem, was wir erarbeitet haben. Heute Abend möchte ich Ihnen jedoch zur Auffrischung und Erinnerung noch einmal das Lied vorstellen, wie es nie gedichtet wurde – nämlich in den Stunden, wenn es den Menschen gut ging.
Wenn es uns gut geht, haben wir ganz andere Gedanken. Dann singen wir auch ganz andere Lieder. Wir sind übermütig und singen vielleicht „Hoch auf dem gelben Wagen“ oder andere fröhliche Lieder. Doch wenn es wirklich in unserem Leben ernst wird, wenn es in der letzten Existenzkrise darum geht, womit ich lebe und womit ich sterbe, dann kommt plötzlich dieses Lied – das gerade, das wir gesungen haben.
Für mich war es als junger Bursche interessant, wie man den Großvater besuchen sollte. Früher hatte ich als junger Mensch große Schwierigkeiten damit. Ich konnte kein Krankenhaus betreten, und die Eltern wollten dann, dass ich zum Sterben des Großvaters ans Bett gehe. Ich erinnere mich noch an das Katharinenhospital. Ich habe es durchgetrotzt, weil ich kein Krankenhaus betreten konnte. Als Kind hatte ich dort eine etwas traumatische Erfahrung gemacht.
Doch ich weiß noch, wie sie zurückkamen und sagten, dass der Großvater in seinem Delirium immer nur Liedverse gesagt habe. Immer nur Liedverse – und eines davon war: „Wenn nur du bei Jesus bist.“ Mein Großvater war selbst Kaufmann, Eisenwarenhandelskaufmann, und er sagte immer wieder: „Wenn nur du bei Jesus bist.“ Das war für alle sehr eindrücklich. Von diesem schwer kranken, sterbenden Mann, der sonst oft keine klaren Gedanken mehr hatte im Alter, kam in dieser Sterbestunde ganz groß etwas hervor.
Das ist bei allen Liedern so, und deshalb haben sie eine ungeheure Kraft. In unseren Gottesdiensten schaffe ich es kaum noch, dass wir heute das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ singen. Da sagen manche: „Es sind ja so ein paar große Schuhnummern. Nehmen Sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin.“ Da singt man fröhlich, aber keiner denkt daran, irgendwo etwas für Jesus zu opfern, für ihn auf den Markt zu legen und für ihn zu weinen.
Die Entstehung von „Ein feste Burg ist unser Gott“ in schwerer Zeit
Aber es ist dann doch schade. Lange Zeit glaubte man, dieses Lied sei entstanden, als Luther damals so auf dem Reichstag zu Worms stand und sein mächtiges „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ donnerte. Dabei vergisst man völlig, dass Martin Luther ein angefochtener Mann war. Man sagte ihm immer noch, wie viele Dämonen in Worms seien. Dennoch sagte er das berühmte Wort: „Wenn so viele Teufel wie Dachziegel in Worms sind, ich will hineingehen.“
Das Lied hat er jedoch nicht zu dieser Zeit gedichtet, sondern erst viel später, zehn Jahre danach. Im Jahr 1517, in einer Stunde, als er sein ganzes Leben verloren sah. Es war, wie so oft, eine seelische Krankheit, die ihn erschütterte. Luther litt sehr unter Schwermut. Man versteht ihn überhaupt nur richtig, wenn man das weiß: die tiefen Todesahnungen, die Schwermut, die Verzweiflung und die große Sinnlosigkeit alles Wirkens und Tuns.
Damals schrieb er: „Satan selbst wütet mit aller seiner Macht gegen mich.“ Er empfand diese gesundheitlichen Leiden sehr stark. Er hatte ein schweres Steinleiden. Sie wissen, wie furchtbare Schmerzen Nierensteine verursachen können, und damals konnte man nicht helfen.
Dann kamen große Herzbeklemmungen hinzu. Er fiel mehrfach in Ohnmacht. Man konnte ihn nur zum Leben zurückbringen, indem man einen Eimer kaltes Wasser über ihn schüttete. Diese große Not, auch die baldige Todeserwartung und das Wissen, dass all der Kampf für das Evangelium vergebens sein könnte, führten dazu, dass er den endgültigen Sieg der Hölle und des Todes fürchtete.
Er konnte Christus nicht mehr sehen und nicht mehr vertrauen in dieser ganzen Finsternis und Dunkelheit. Er sagte, wenn nicht andere in dieser Stunde für ihn gebetet hätten und Christus sich nicht erbarmt hätte, hätte er ihn nicht aus dieser Hölle der Tiefe herausgeholt.
Im Sommer kam dann noch eine schwere Pest hinzu. Sie wissen, wie damals die Pest nicht zu stoppen war. Die ganzen Leute von Wittenberg, auch der Kurfürst, forderten ihn auf, die Stadt sofort zu verlassen, um der Pest zu entfliehen. Er hatte eine schwangere Frau, die Käthe, und ein kleines Kind.
Doch Luther sagte: „Ich verlasse die Stadt nicht.“ Für ihn war es wichtig, dass ein Hirte seine Herde nicht verlässt. Der Mietling flieht, aber der Hirte muss bei seiner Gemeinde bleiben, auch wenn es nur wenige sind. Er hielt weiterhin Vorlesungen und besuchte in Treue die Pestkranken. Sie haben richtig gehört: Im Vertrauen auf den Befehl Jesu besuchte er die Pestkranken, stand den Angefochtenen bei und war in der Todesstunde für sie da.
Was ihn in diesen schweren körperlichen Schwächen und der ganzen seelischen Belastung am meisten betroffen machte, war die Geschichte von Leonhard Kaiser. Dieser Prediger aus Schirnding bei Passau war vom Erzbischof schon Jahre vorher verhaftet und schwer gefoltert worden. Er war ein Zeuge des Evangeliums.
Doch Leonhard Kaiser hatte damals, als er verhaftet war, im Gefängnis das Evangelium verworfen. Man muss den schweren Druck des Martyriums verstehen. Als er dann vom Erzbischof von Passau aus der Haft entlassen wurde, war er so verwundet, dass er sagte: „Jetzt bin ich Jesus untreu geworden.“
Luther nahm ihn auf und half ihm. Er sagte, auch einer, der Jesus verleugnet hat, werde wieder gebraucht als Bekenner des Evangeliums. So fand Leonhard Kaiser wieder festen Boden.
In dieser schlimmen Zeit wurde Leonhard Kaiser nach Passau zurückgerufen, weil sein Vater im Sterben lag. Als er dort ankam, wusste der Erzbischof, dass Leonhard Kaiser zum Evangelium zurückgekehrt war. Er ließ ihn sofort verhaften, zum Tod verurteilen und auf einer Inninsel im Scheiterhaufen verbrennen.
Diese Nachricht erschütterte Luther zutiefst. „Das kann doch nicht wahr sein“, dachte er, „dass ein Mensch nur als Zeuge Jesu in unserem deutschen Land verbrannt wird, ein solcher Mann, der doch Buße getan hat über seinen Abfall.“ Luther wusste nicht, wie er weiterleben sollte. Er fühlte sich sterbenselend in seinem Haus, in dem bereits mehrere Mitglieder an der Pest erkrankt waren.
Dann fand Luther in der Schrift Frieden, in der Bibel. Es war der Psalm 46. Und jetzt wissen Sie, dass das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ eine wörtliche Nachdichtung dieses Psalms ist.
„Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz, der zerschlägt die Waffen des Feindes.“ Dieses Lied hat Luther in seiner größten Schwachheit herausgepresst, ja herausgeschrien. Darum ist in diesem Lied kein Stückchen Übertreibung enthalten.
„Ein guter Wehr und Waffen ist er, hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt betroffen hat.“ Der altböse Feind, Satan, will uns niederstrecken und unseren Glauben vernichten. Er probiert es mit aller Macht und List, mit grausamer Rüstung.
Luther schrieb damals, als er hindurch war – das war für ihn immer das Wissen: „Ich bin hindurch.“ Das war seine Entdeckung. Er sagte: „Ich habe es jetzt geschafft, ich bin wieder bei Christus in dieser Gewissheit des Glaubens.“ Etwas, das wir im Leben auch in großen Anfechtungen immer neu lernen müssen.
Er schrieb an einen Freund: „Äußerlich sind Kämpfe, innerlich sind Ängste und zwar sehr bittere. Christus sucht uns heim, nur ein Trost bleibt, den wir dem wütenden Satan entgegensetzen: dass wir wenigstens das Wort Gottes haben, um die Seelen der Gläubigen zu retten, wenn er auch die Leiber verschlingt.“
Darum befiehlt er den Brüdern und euch selbst, „dass ihr für uns betet, dass wir die Hand des Herrn tapfer ertragen und des Satans Macht und List besiegen, es sei durch Tod oder Leben.“
Und weiter: „Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren. Es streitet für uns der rechte Mann, denn Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ.“
Ich habe Ihnen gestern von unseren Mitarbeitern erzählt. Ich freue mich, dass heute die Familie Birkenstock hier ist, mit ihren wunderbaren Enkelkindern, in einem Gebiet in China, wo es noch wenige Jesuszeugen gibt.
Man sagt: „Das ist eure Rüstung, es streitet für euch der rechte Mann.“ Und wenn die Welt voll Teufel wäre und uns ganz verschlingen wollte, könnten sie nichts machen. Das eine Wörtlein „Jesus“ ist so stark, da können sie dagegen anrennen, es bringt keinen Gewinn. Sie werden nichts erreichen können.
Darum haben diese Lieder eine so große Bedeutung, weil sie Bibelworte sagen. Und wenn sie keine Bibelworte bringen, ist es eben doch so, dass die Bibel das gehauchte Wort Gottes ist, wo der Geist Gottes ganz besonders wirkt.
Wo das nicht der Fall ist, sind es auch Lieder, die schnell wieder vergehen und in unserem Leben keine entscheidende Bedeutung haben.
Paul Gerhard und die Kraft seiner Lieder
Zwar war Rudolf Alexander Schröder ein Schöngeist des letzten Jahrhunderts, doch er war ein Weltmann ohnegleichen. Er entwarf als Innenarchitekt die Ausstattung eines der größten Luxusschiffe. Gleichzeitig war er ein Meister der alten Sprachen und brachte die großen griechischen Klassiker in die beste Übersetzung. Er war wirklich ein Schöngeist ohnegleichen.
Das erste Mal wurde er erschüttert, als er neben dem Sarg seines Freundes saß. Der Tod – was ist der Tod? Er konnte damals vom Glauben noch nichts fassen. Später sagte er: „Den Weg zur Bibel hat mir Paul Gerhard gewiesen. Die Lieder Paul Gerhards haben mir die Bibel groß gemacht. Ich hätte nie die Bibel gelesen, wenn ich nicht durch die Dichtungen Paul Gerhards auf diese großen, tiefen, wunderbaren Wahrheiten gestoßen wäre.“
Heute sind Sie ja alle Freunde der Lieder Paul Gerhards. Dazu brauche ich gar nicht viel zu sagen, denn das Leben Paul Gerhards wurde immer wieder bedacht. Obwohl man von ihm eigentlich am wenigsten weiß, kennt man doch einige Eckdaten: Er wurde erst mit fast 50 Jahren Pfarrer und konnte erst dann heiraten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits alle seine großen Lieder und Gedichte geschrieben.
Wir wissen, dass er dreißig Jahre lang im Krieg lebte oder dass sein Vorgänger im Amt vor dem Altar erschossen wurde – von einem wilden Krieger damals. Das war für ihn immer eine Erinnerung. Auch das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist sicher über dem Kreuz des Dornengekrönten entstanden, dort an seiner Heimatkirche, wo eine besonders eindrückliche Kruzifix-Darstellung zu sehen war.
Dieses Lied drückt aus, was sein Leben war und wie Christus ihn aus der Todverfallenheit der Welt erlöst hat. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Ebenso beeindruckend ist, wie Paul Gerhard seelsorgerlichen Zuspruch übt.
In unserer Welt wird ja immer wieder über die Pietisten gespottet. Paul Gerhard war jedoch kein Pietist, sondern ein Orthodoxer. Er war so orthodox, dass er sich dagegen stellte, als der große Kurfürst die beiden Kirchen, Lutheraner und Reformierte, zusammenlegen wollte – was ja eigentlich sinnvoll ist.
Von unserer heutigen Sicht aus ist nichts dagegen zu sagen, wenn Reformierte und Lutheraner gemeinsam eine Kirchenorganisation gründen. Aber letztlich ging es Paul Gerhard gar nicht um diese Sache. Ihm ging es darum, dass ein Staatsmann wie der große Kurfürst als staatlicher Herr in die Angelegenheiten der Gläubigen eingreift. Das konnte für ihn nicht wahr sein. Solche Entscheidungen müssen von den Gläubigen getroffen werden.
Damals quittierte Paul Gerhard sein Amt und starb arbeitslos und ohne Dienst. Er hatte schon vorher seine Frau verloren. Doch das Schöne ist, wie diese Frau selbst mit den Liedern Paul Gerhards gelebt hat. Sie besaß ein Büchlein, in das sie die schönsten Verse von Paul Gerhard hineingeschrieben hatte. In ihrer Todesstunde ließ sie diese Verse von ihrem Seelsorger vorlesen.
So sieht man auf einmal, dass diese Lieder schon die ganze seelsorgerliche Praxis enthalten. Ich bedaure, dass in unseren neuen Gesangbüchern die schönsten Paul-Gerhard-Lieder fehlen. Deshalb bewahren Sie Ihre alten Gesangbücher gut auf.
Wir mussten diese Lieder noch auswendig lernen. Unsere Mutter führte ein strenges Regiment, doch sie setzte auch Belohnungen aus. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Es ist immer ein einfaches Mittel, zum strengen Regiment noch eine Belohnung zu setzen. Und der Euro ist nicht bloß ein Teuro, sondern auch ein Glücksstückchen, wenn es darum geht, dass unsere Kinder und Enkel Schätze lernen sollen.
Seelsorgerlicher Zuspruch in Liedern
Schwing dich auf zu deinem Gott, du betrübte Seele! Warum liegst du Gott zum Spott in der Schwermuthhöhle? Wenn du das alte Lied noch einmal aufschlägst, das besingt, dass Jesus der alten Schlange den Kopf zertreten hat, darfst du in deinem Herzen der Schwermut keinen Raum mehr geben. Das war gelebt in der eigenen Schwermut.
Dann zieht sich das in all den Versen ganz seelsorgerlich hindurch. Wie viele Kranke haben das in ihren dunklen Gedanken gebetet und sind darüber fröhlich geworden. Ich hatte bei mir eine Kirchengemeinderätin, die mich damals nach Stuttgart geholt hat. Ihr Mann war Präsident des Oberschulamtes, also eine Frau, die einen so direkten, unmittelbaren Glauben hatte.
Sie hat gesagt: Das schönste Lied im Gesangbuch ist „Gib dich zufrieden und sei still in dem Gott deines Lebens“. Wenn gar kein Einziger mehr auf Erden ist, dessen Güte du vertrauen darfst, dann will er dein Einziger werden. Dann will Gott an diese Stelle treten und dir diesen Frieden geben, weil du auf Menschen nicht bauen kannst.
Er, der den Vöglein in den Wäldern ihr bescheidenes Dasein reiht. Was ist das für eine Beobachtung? Nicht bloß eine billige Naturbetrachtung, wie wir es bei unseren Kindergartensommerfesten oder beim Erntedankfest erleben. Dort können Sie genauso Vishnu, Buddha oder Hindu einsetzen. Nein, Paul Gerhardt hat in der Schöpfungsbetrachtung das Ganze fertiggebracht, in die Offenbarung Jesu Christi hineinzutun.
Aber ich wollte Ihnen eigentlich gar nicht von Paul Gerhardt erzählen, weil Sie das alles sowieso schon wissen. Vielmehr wollte ich sagen, dass so ein großer Mann wie Heinrich Schütz, der große Musiker und Komponist, ja natürlich auch ein geistlicher Mann war.
Vor Kurzem war ich mit meiner Frau in Stuttgart in der Liederhalle bei einem großen Konzert von Helmut Rilling. Im Programm stand natürlich zur Erklärung der Texte: „Wir modernen Menschen können die Aussagen von Heinrich Schütz nicht mehr so nachvollziehen.“
Die Herausforderung moderner Menschen gegenüber geistlicher Musik
Sehen Sie, das ist die Arroganz. Man kann einem wirklich alles vermiesen. Heute ist es oft so, dass man einem die Freude an etwas nimmt. Wenn Sie zum Beispiel in ein Restaurant gehen und ein sehr teures Essen bestellen, und neben Ihnen sagt jemand, er habe ins Essen hineingespuckt, dann schmeckt es Ihnen plötzlich nicht mehr. So kann man einem die Freude verderben, indem man einfach sagt: „Das ist nicht schön.“
Genauso kann man Lieder vermiesen, indem man sagt, sie passen nicht mehr in unsere Zeit. Neulich, in einer Versammlung, in der ich auch über Lieder gesprochen habe, war hinten eine große Kirchenmusikerin, die sagte: „Aber das Lied von Bonhoeffer, ›Von guten Mächten‹, von Siegfried Vietz, das ist schrecklich.“ Ich fragte: „Warum ist das schrecklich? Warum, warum, warum?“ So kann man auch Beethovens fünfte Sinfonie kaputtmachen. Man kann wirklich alles vermiesen. Es ist heute üblich, dass manche Leute einem Lieder kaputtmachen.
Am schlimmsten ist die sogenannte Bleifussorgel, bei der man zwischen jedem Ton abschweifen kann, bis der nächste Ton endlich wiederkommt. Aber zu den Liedern gehört auch etwas Schönes. Heinrich Schütz hat zum Beispiel wunderbare Melodien geschrieben. Dazu muss man wissen, dass das Jahr 1625 für den über 40-jährigen Heinrich Schütz unendliches Elend brachte.
Zuerst starb die jüngere Schwester seiner Frau innerhalb von drei Tagen an Typhus. Sie war gerade verlobt mit einem Hofrat und Konsistorialpräsidenten. Zur Beerdigung vertonte sie den Choral „Ich habe meinen Sachgott heimgestellt. Er macht’s mit mir, wie es ihm gefällt, soll ich all hier noch leben, ohne Widerstreben, seinem Willen tue ich mich ergeben.“
Das war eine junge Frau, Magdalena, die in diesem Jahr etwa 26 Jahre alt war. Die verstorbene Schwester war noch viel jünger. Nach der Beerdigung hatte Magdalena plötzlich schreckliche Todesahnungen. Heinrich Schütz fragte besorgt: „Was ist los?“ Er war etwa 14 Jahre älter als sie, sie war 24 Jahre alt.
Er merkte, dass seine 24-jährige Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern, mit jedem Tag stiller wurde. Eines Tages erwischte er sie dabei, wie sie Lieder für die Beerdigung aussuchte. Sie wurde krank. Er setzte sich Tag und Nacht an ihr Bett und merkte, dass sie eine unheimliche Anfechtung hatte. Sie suchte sich immer wieder Psalmen heraus, zum Beispiel „Straf mich nicht in deinem Zorn“ oder „Herr, suche mich nicht heim in deinem Grimm.“
Schütz versuchte immer wieder, ihr die Freude des Evangeliums zu vermitteln. Doch in ihrer Todesangst und durch die körperlichen Gebrechen wurde die Last für sie immer schwerer. Nach wenigen Tagen schlief sie still ein, nur drei Wochen nach ihrer Schwester. Schütz stand allein da, mit zwei kleinen Kindern.
Was damals selten vorkam: Er heiratete nie wieder. Schütz hatte seine Frau sehr lieb. Zur Hochzeit hatte er die Psalmen Davids vertont und als Veröffentlichungsdatum den Hochzeitstag gewählt. Das stimmte zwar nicht ganz, aber so ließ er es im Druck stehen.
Der große Musiker Heinrich Schütz komponierte ein halbes Jahr lang nichts anderes als Psalmen Davids. Er fand seinen Trost im Wort Gottes und sagte, das sei für ihn das Einzige, was ihm noch geblieben sei, die Trösterin seiner Traurigkeit im Wort Gottes.
Aus dieser Zeit stammen die herrlichen Melodien, die wir heute noch singen, zum Beispiel das Lied „Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit“ oder das schöne Lied „Kommt, Herr des Königs Aufgebot“. Das sind die wunderbaren Psalmenmelodien, die Heinrich Schütz in seiner großen Trauer geschrieben hat.
In diesen Tagen schrieb er auch nieder, was für unsere Zeit wieder wichtig ist: Der getreue Gott wolle in diesen letzten betrübten Zeiten sein heiliges, reines, unverfälschtes Wort in Kirchen, Schulen und bei jedem Hausvater im Haus wohnen lassen. Das solle geschehen durch reine gottselige Lehre und durch geist- und trostreiche Lieder und Psalmen. So könne man bis zur gewünschten Zukunft seines lieben Sohnes, unseres Erlösers und Seligmachers, in Liebe, Geduld und fröhlicher Hoffnung leben und stets bereit sein.
Wir kennen viele Leute, und merkwürdigerweise sieht man hinter jedem Lied eine Spur des Leidens. Aber gerade das macht es nicht zu einer traurigen Geschichte, die nur berührt, wie es bei Ihnen oder mir der Fall sein könnte. Es ist auch eine Freude, ein Bewegtsein, die große Kraft des Wortes Gottes.
Fanny Crosby: Eine Stimme der Hoffnung trotz Blindheit
Und deshalb möchte ich jetzt an eine Frau erinnern: Fanny Crosby, die vielleicht produktivste Dichterin aller Zeiten. Sie hat uns so herrliche Lieder geschenkt, wie „Oh Gott, dir sei Ehre, das Große ist getan“.
Fanny Crosby ist die Liederdichterin, deren Lieder in allen Völkern und Nationen der Welt gesungen werden. Die deutschen Lieder singt man außerhalb des deutschen Sprachraums kaum noch. Es gibt nur ganz wenige Lieder, die überhaupt im englischen oder französischen Sprachraum bekannt sind, wie zum Beispiel „Lobender Herr“, „Der mächtige König der Ehren“ oder „An Vesterburg“. Aber Fanny Crosby hat ungeheuer viele Lieder hinterlassen, die weltweit verbreitet sind.
Sie wurde als Kind mit einer Augenkrankheit geboren und wuchs in einer landwirtschaftlichen Familie auf. Etwa fünf Wochen nach der Geburt sorgten sich die Eltern um die Augen ihres Kindes. Auf dem Bauernhof kam gerade ein Mann vorbei, der sich als Arzt ausgab. Sie baten ihn um Hilfe, obwohl man damals oft vorsichtig sein musste. Fanny Crosby wurde 1820 in der Nähe von New York auf einem Bauernhof geboren. Die Familie hatte nicht viel Geld.
Der Mann sagte, er könne helfen, und legte heiße Umschläge und Kompressen auf die Augen. Wochen später bemerkten die Eltern, dass sich weiße Flecken auf den Augen bildeten. Gerade diese Behandlung hatte die Blindheit erst hervorgerufen. Als man den Quacksalber schließlich fassen konnte, war nichts mehr zu machen. Das Kind blieb blind.
Schon als Fanny Crosby sechs Jahre alt war, starb ihr Vater. Das war auf dem Bauernhof eine Katastrophe. Die Mutter musste als Witwe Geld verdienen und konnte das nur tun, indem sie im Haushalt irgendwo half. Sie verdiente nur ein paar Groschen. Die Großeltern nahmen sich des Kindes an. Fanny Crosby sah nie etwas von der Welt.
Die Familie gehörte den alten Puritanern an. Man sagt oft etwas über die Puritaner, doch die Welt versteht sie falsch. Die Puritaner waren keine strengen Menschen, sondern gaben der amerikanischen Verfassung die Demokratie. Wer ein bisschen Geschichte kennt, weiß, dass sie einen hohen moralischen Anspruch lebten. Besonders wenn man von John Milton liest, erkennt man ihre wunderbaren geistlichen Einsichten.
Die Puritaner sind Menschen, deren geistliches Erbe auch heute noch wertvoll ist. Aus diesem Erbe stammte die Familie Crosby. Sie waren bekennende und unbeugsame Christen. Fanny Crosby sagte, sie habe von ihren Großeltern sehr viel mitbekommen. Deshalb wurde sie nie bemitleidet. Vielleicht sind wir als Tröster manchmal die Dummen. Sie sagte mit acht Jahren: „Oh, was bin ich doch für ein glückliches Kind!“
Schon damals dichtete sie ihre ersten Verse. Später, im Alter von fünfundachtzig Jahren, sagte sie: „Ich habe nicht einen Augenblick, nicht einen Augenblick in all meinen Jahren auch nur einen Funken von Groll gefühlt gegen den, der mir das alles angetan hat. Denn ich habe alle Zeit geglaubt, dass der gütige Herr in seiner unendlichen Gnade durch diese Wege, durch die Blindheit, mich zubereitete, das Werk zu tun, das er mir anvertraut hat. Wenn ich überlege, wie ich gesegnet wurde, wie kann ich unzufrieden sein?“
Deshalb ist ihr Lied so schön: „Gott wird dich tragen, drum sei nicht verzagt.“ Es ist ihr Lied. „Treu ist der Hüter, der über dich wacht, stark ist der Arm, der dein Leben gelenkt. Gott ist ein Gott, der der Seinen gedenkt. Gott wird dich tragen mit Händen so lind, er hat dich lieb wie ein Vater sein Kind.“
Im Glauben steht man so fest wie ein Felsen: „Gott ist ein Gott, der uns nimmer verlässt.“ Und weiter heißt es: „Gott wird dich tragen durch Tage der Not, Gott wird dir beistehen in Alter und Tod.“
Die Bedeutung von Zuspruch in Predigten und Liedern
Ich habe schon in diesen Tagen gesagt, unsere Predigten und Ansprachen sind oft so schlimm, dass wir als Prediger immer meinen, bewusste Aufsätze über irgendwelche Weisheiten zu machen. Die Menschen schreien dann danach: „Gib mir doch Zuspruch!“
„Gib mir Zuspruch!“ So tröstet Gott. Gott spricht immer direkt: Fürchte dich nicht! Der Zuspruch ist das, was Sie irgendwo sagen müssen. Beim Krankenbesuch reden Sie nicht über Gott, sondern sagen: Dich hat Gott lieb. Du sollst es wissen, so ist es. Fest steht das Wort, auch wenn alles andere zerfällt. Gott ist ein Gott, der in Ewigkeit bleibt.
Auch das schöne Lied „Seligstes Wissen, Jesus ist mein, köstlichen Frieden bringt es mir ein“ – kennen Sie diese Lieder? Sie sind stark. Fanny Crosby hat neun Lieder gedichtet, viele davon sind noch im Umlauf und haben noch ihre Bedeutung. Das ist gut so.
Vor ein paar Tagen sind wir beim Spaziergang an einem Autohaus vorbeigegangen, einem Opel-Händler in Stuttgart. Wir brauchen kein Auto, haben aber gesagt: „Schauen wir uns gerne die Modelle an.“ Opel hat ja so seine Schwierigkeiten. Da sah ich gerade einen bärbeißigen Verkäufer, wirklich ein bisschen ein wilder Mann, der eine Kassette einlegte und den Leuten etwas vorspielen wollte. Da hörte ich: „Mir ist wohl, mir ist wohl in dem Herrn.“ Wenn Friede mit Gott meine Seele tut, dann sage ich: „Das ist aber schön!“
Dann kam der Verkäufer heraus. Er ist ein neuapostolischer Mann und sagte, das sei ein Chor, irgendeine südafrikanische schwarze Gruppe, die das gesungen habe. Ich fragte ihn: „Kennen Sie die Geschichte, wie das Lied entstanden ist?“ Ich erzählte, dass ich im Elternhaus immer rebelliert habe, wenn mein Vater das Lied singen wollte. Ich sagte: „Aber das ist doch komisch. ‚Mir ist wohl in dem Herrn‘ – mir ist oft gar nicht wohl. Ich habe einen Gram in meinem Herzen.“
Das Lied hat Horatius Späffert gedichtet, ein Rechtsanwalt aus Chicago. Alle vier seiner Kinder sind beim Untergang der Ile de France ertrunken, nur die Frau hat überlebt. Er hat in seinem Büro das Telegramm der Frau aufbewahrt und das Lied gedichtet: „Wenn Friede mit Gott meine Seele durchdringt, dann kommt es mir wohl in dem Herrn.“
Wir verstehen die Lieder oft nicht, und das mag ja noch sein. Dass wir sie deshalb auch oft vielleicht verspotten und verlachen, mag auch noch sein. Aber wenn wir sie zurückgewinnen, dann bekommen sie auf einmal eine große Bedeutung für uns. Denn wir dürfen am Erbe der Generationen vor uns teilhaben.
Ich dachte heute Abend, es ist einfach mal gut, das mit hineinzunehmen. Die Bibelbetrachtung soll ja nur unsere Bibelbetrachtung ergänzen und fördern.
Johann Jakob Schütz und die Bedeutung von Hausversammlungen
Mir ist das liebste Lied in dem Gesangbuch das Loblied, sehr alt, aus dem siebzehnten Jahrhundert. Es ist das Lied, das der Rechtsrat in Frankfurt, Johann Jakob Schütz, gedichtet hat: "Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte." Das Lied passt überall hin.
Als unser Vater gestorben war und die Mutter von der Klinik in Tübingen kam, hat sie das Lied gesungen. Wir, natürlich als junge Buben, haben gesagt, das passt doch nicht. Und sie sagte: „Doch, das passt.“ Im ersten Vers steht: „Der Gott allen Jammer stillt.“ Das passt. Das ist das Tolle an diesen Liedern, dass sie auf alle Lebenslagen passen, wenn sie wirklich aus der Not geliebt sind.
Johann Jakob Schütz ist in Frankfurt aufgewachsen. Wir haben in diesen Tagen schon einmal davon gesprochen, dass er eine Abneigung hatte, Prozesse zu führen. Er hat das größte Lehrbuch für Juristen herausgebracht, damals eine Sammlung des römischen Rechts. Dieses Werk wird in einer Antiquariatshandlung in Königsfeld gerade für 306 Euro angeboten, ein Nachdruck von Johann Jakob Schütz’ Ausgabe der Rechtssammlung.
Johann Jakob Schütz war mit einem Schulmeister zusammen, es waren die beiden, ebenso wie Philipp Jakob Spener, der große Begründer des Pietismus, Herr Wigger, der in Frankfurt predigte. Nach einer der ersten Predigten ist Johann Jakob Schütz, der Jurist und Schulleiter, zu Spener gegangen und hat gesagt: „Warum fangen wir nicht an, Hausversammlungen zu gründen?“ Die Not war doch, dass die Staatskirche der Träger des geistigen Lebens war, und es gab gar keine Sammlung der Gläubigen.
Hier sehen wir Johann Jakob Schütz als einen Mann an dieser Grenze, an dieser Wende, wo noch nicht begriffen wurde, was heute selbstverständlich ist: dass gläubige Leute sich nicht einfach mit Ungläubigen treffen können. Wir brauchen Versammlungen, in denen wir wirklich Gemeinschaft miteinander haben, tiefe Gemeinschaft.
Fünfzig Jahre nach Johann Jakob Schütz war dann der Durchbruch geschafft, da war es selbstverständlich. Spener hatte damals die erste Hausversammlung gegründet, und Johann Jakob Schütz hat immer die Dinge ausgesprochen, die ihn betroffen gemacht haben. Er hat zum Beispiel gesagt, dass manche Theologen auftreten wie kleine Päpste. Das haben die Pfarrer ihm nie verziehen.
Er hat auch immer wieder auf Missstände hingewiesen. Zweimal in der Woche traf man sich im Amtszimmer von Philipp Jakob Spener, um das Wort Gottes miteinander zu lesen. Bald kamen auch Leute aus anderen Konfessionen dazu. Einer, der dabei war, jung und still, war Joachim Neander, der nur dreißig Jahre alt wurde. Er war Liederdichter von „Loben Herrn, dem mächtigen König der Ernte“, hat das schönste Gotteslob gesungen und tiefe Eindrücke durch Schütz erhalten.
Schütz hatte Verbindungen nach Calw. Jakob Andree war sein Großvater gewesen, hier der Erneuer Valentin Andree, das ist die Familie, aus der er stammte. Als Spener dann seine „Pia desideria“, die Reformschrift, herausbrachte, hatte er Schütz sehr unterstützt. Doch Schütz ging noch weiter. In einer Schrift, die in allen wichtigen Bibliotheken in einem Gedenkbüchlein zu finden ist, schrieb er, dass unter denen, die sich Geistliche nennen, in allen Konfessionen viele nichts anderes als Mietlinge und Schulzenker seien, die süchtig nach Fragen und Wortkriegen sind und ein Gewerbe aus der Frömmigkeit machen.
Als er das veröffentlicht hatte, wurde zu seiner Hetze geblasen. Er wurde zum Abschluss freigegeben. Sie wissen, damals ging es um theologische Dinge der Orthodoxie, um ganz unwichtige Fragen. Das hat fanatische Kirchenfunktionäre maßlos geärgert. Schütz wollte eigentlich nur, dass man das, was heute jeder selbstverständlich etwa im Hauskreis macht, erlaubte. Doch die Theologen ließen es nicht zu.
Er hat dann nachgesucht und gesagt: „Könnt ihr mir nicht wenigstens erlauben, dass wir das Abendmahl in einer nicht so theatralischen Form feiern?“ Ihm war es immer schlimm, wie man da in der Kirche vorging. Die Pfarrer schickten einen Küster, der sagte: „Konfirmiert den mal, er soll sich an die Ordnung halten.“ Schütz antwortete: „Dann gehe ich halt nicht mehr hin.“
Für ihn war eine wichtige Erkenntnis die von William Penn. Der Sohn des Admirals Penn, der später Pennsylvania in Amerika gründete, hatte seine Theorien zur Religionsfreiheit. Das faszinierte Schütz juristisch. Er lud William Penn nach Frankfurt ein. Nun war alles natürlich kaputt. Er hatte einen Sektierer eingeladen – das waren die Quäker. Wenn man sieht, wer die Quäker wirklich waren, war das alles nicht so schlimm.
So ging es weiter. Als Schütz im Alter von fünfzig Jahren starb, bat er noch einmal, ob ihm am Krankenbett das Abendmahl gereicht werden könne. Die Pastoren sagten jedoch: „Nur, wenn du die Augsburger Konfession unterschreibst.“ Er antwortete, er habe sie nicht gelesen, sondern eigentlich nur die Bibel. Daraufhin verweigerten sie ihm das Abendmahl.
So ist Schütz gestorben und wurde in Frankfurt beerdigt – ohne geistlichen Beistand, bei Nacht, wie man keinen Verbrecher beerdigte, bei Nacht und Nebel, ohne dass jemand dabei sein durfte. Er hat uns dieses herrliche Lied geschenkt: „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut.“
Ich rief zum Herrn in meiner Not:
Ach Gott, vernimm mein Schreien!
Da half mein Helfer mir vom Tod
Und ließ mir Trost gedeihen.
Darum dank, ach Gott, drum danke ich dir,
Ach danke, danket Gott mit mir,
Geb unserem Gott die Ehre.
Der Herr ist noch und nimmer nicht
Von seinem Volke schien,
Erbleiben ihre Zuversicht,
Ihr Segen Heil und Frieden.
Es ist wunderbar, wie diese Lieder mit uns weitergehen, wie sie uns segnen und beschenken. Ich wünsche, dass Sie noch viele Entdeckungen machen. Es war mir nur schwer, verschlossene Schicksale herauszugreifen, um Ihnen Mut zu machen, mehr davon zu lesen und wieder auszugraben.
Nun wollen wir beten: Herr, dir sei Dank, dass du uns dieses Zeugnis deiner Gnade gegeben hast, auch in den Jahrhunderten vor uns, und dass wir teilhaben dürfen an deinem großen Segen. Hilf uns heute, dass wir uns vor dir bewähren, dass wir auch so über deinem Wort das Bekenntnis ablegen können als Zeugnis, damit viele darüber fröhlich werden und zum Glauben kommen.
Gib neues Leben und Erweckung in unseren toten Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen, dass wir uns durch deinen Geist bewegen lassen. Herr, tu das auch heute mit uns und in unserem Leben. Amen.
