[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]
Ich möchte Ihnen heute die Geschichte von Lydia erzählen, liebe Gemeinde. So wie eine Frau aus Bayern eine Bayerin, oder so wie eine Frau aus Hessen eine Hessin, oder so wie eine Frau aus Baden eine Badenserin genannt wird, so wurde sie eine Lydierin, abgekürzt Lydia genannt, weil sie aus Lydien stammte. Ich möchte Ihnen also die Geschichte dieser Lydia erzählen, eine Bekehrungsgeschichte, eine Purpurgeschichte. Um an den Ort der Handlung zu gelangen, schließen wir uns am besten dem Evangelistic-Team Paulus, Timotheus, Silas und Lukas an. In Antiochia war es aufgebrochen, um in den großen Kultur- und Handelsstätten Kleinasiens die frohe Botschaft zu verkündigen. Sie wussten: Kundenpunkte des Verkehrs müssen Knotenpunkte des Christentums werden. Brennpunkte der Welt müssen zu Brennpunkten von Gottes Welt werden. Knotenpunkte des Verkehrs müssen zu Knotenpunkte der Gottesverehrung werden. Wenn Städte für den Herrn fallen, dann fällt auch das Land dem Herrn zu. Städte sind bis heute strategische Punkte an der Missionsfront. Deshalb führte ihr Wegplan von Ephesus nach Milet und Smyrna und Pergamon. Aber der Weg war blockiert. Das Unternehmen blieb stecken. Die Marschroute konnte nicht eingehalten werden. Ohne eine einzige Stadt zu berühren, kamen sie nach Troas, einem Krähwinkel der Provinz. Sie wollten in den Cities die Fahne des Herrn setzen, und jetzt waren sie von diesem Herrn in einen Marktflecken versetzt. Sie wollten im Ballungsgebiet Geleise für ihren Herrn legen, und jetzt waren sie von diesem Herrn aufs Abstellgeleise geschoben. Sie wollten auf den Fußgängerzonen für ihren Herrn den Mund auftun, und jetzt waren sie von diesem Herrn mundtot gemacht.
Das kennen wir doch auch. Was haben wir schon alles gewollt und was ist daraus geworden? Was haben wir schon alles geplant und was ist daraus entstanden? Was haben wir schon alles versucht und mit welchen Pleiten mussten wir fertigwerden? Nur zu viele, denen Pläne zerfetzt und Wege durchkreuzt wurden, fragen resigniert: Was soll's? Was bringt's? Was kommt heraus?
In Troas fragten sie nicht so. Beim Einschlafen hatte Paulus nämlich eine Erscheinung, keine Alterserscheinung, sondern eine Gotteserscheinung. Ein Mann stand vor ihm und sagte: "Komm herüber nach Europa und hilf uns." Paulus war sofort glockenwach und stand spornstreichs auf. Er wusste, dass Gott ihn gerufen hatte. Er merkte, dass Gott ihn an diesen Punkt geführt hatte. Er erkannte, dass Gott das Evangelium so schnell wie möglich in Europa haben wollte. Ihr Umweg war Gottes Weg. Ihre Umleitung war Gottes Leitung. Ihr durchkreuzter Plan war Gottes Kreuzplan. Voll guter Hoffnungen segelten sie zu neuen Ufern. Gott ist nicht der verlängerte Arm unserer Wünsche. Gott ist nicht der Gerichtsvollzieher unserer Pläne. Gott ist nicht das Ausführungsorgan unserer Gedanken. Gott hat seine eigene Strategie. Ich bin, der ich bin, sagt Gott, und meine Wege sind nicht eure Wege. Aber das Wissen, dass gerade die andern, für uns oft so unverständlichen Wege die richtigen sind und zum gottgewollten Ziele führen, lässt uns mit neuer Hoffnung und Zuversicht in das Morgen gehen. Es gilt immer noch, was wir bei Paul Gerhardt gelernt haben: "Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll, Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl."
So kam das Missionarsquartett nach stürmischer Überfahrt und einem 12 km langen Fußmarsch nach Philippi. Dort war früher schon Lydia angekommen, also jene Frau, von der ich Ihnen heute erzählen will. Inmitten dieser Stadt begegnen wir einer Persönlichkeit, die sich kennenzulernen lohnt.
1. Eine Frau, die auf rot steht
Purpurrot war nämlich ihre Lieblingsfarbe, und das kam so. Schon als Kind musste sie sicher, wie alle Kinder ihres Geburtsortes Thyatira, Purpurschnecken sammeln, aus denen ein rötlich-bläulicher Saft gewonnen wurde. Teuer war er, sehr teuer, denn es brauchte 12000 Schalentiere, um 5 Gramm dieses Farbstoffes zu gewinnen. Wenn sie dann Seide, Wolle oder Leinen durch diese Farbe zogen, dann war das nicht irgendein roter Stoff, sondern Purpur geworden. Es war schön, Purpur zu sehen. Es war teuer, Purpur zu tragen. Es war "in", Purpur zu besitzen. Damit müsste ein satter Lebensunterhalt zu verdienen sein, nicht in Thyatira, dem Schneckendorf von Lydien, sondern in Philippi, dem Paris der damaligen Zeit. Weil fast ausschließlich römische Bürger dort lebten, die bekanntermaßen ganz verrückt auf Purpur waren, ging diese Modefachfrau rosaroten, besser purpurroten Zeiten entgegen, als sie dort einen Stoffladen, ein Textilgeschäft, die Modeboutique Lydia eröffnete.
Kein Satz gegen den Handel mit Luxusartikeln, kein Wort gegen die Ausrottung der Purpurschnecke, keine Silbe gegen die emanzipatorischen Aktivitäten einer Frau. Gott sagt Ja zur Entfaltung seiner Gaben. Er will nicht, dass sie irgendwo verkümmern oder gar vergraben werden. Vor dem Herd oder hinter dem Schalter, im Geschäft oder in der Familie, im Privathaus oder im Geschäftshaus, jeder Platz ist Gottes Platz.
Lydia stand am Platz, außer am Sabbat. An diesem Tag nahm sie einen andern Platz ein. Das war kein Eckplatz im Keller, um die Wäsche in Ordnung zu bringen. Das war kein Schreibplatz im Büro, um die liegengebliebene Post zu erledigen. Das war kein Sesselplatz im Wohnzimmer, um wenigstens einmal die Woche die Füße hochzulegen. Nein, das war ein Sitzplatz auf der Wiese, das war ein Kirchplatz im Freien. Beim Gottesdienst im Grünen hatte Lydia ihren Stammplatz. Du brauchst mehr als dein Purpur, auf dem du so fest stehst, hat sie sich gesagt, du brauchst mehr als deine Goldmünzen, die dir ins Haus gebracht werden, du brauchst mehr als deine Geschäftsbeziehungen, die dir die Welt zur haute couture aufschließen, du brauchst mehr als deine Erfolgsbilanzen, die dich als Topmanagerin ausweisen, du brauchst einfach mehr, zum Beispiel Liebe, nicht nur Liebeleien, zum Beispiel Freude, nicht nur Späßchen, zum Beispiel Friede, nicht nur in Ruhe gelassen werden, zum Beispiel Vergebung, nicht nur vergessen, Lydia du brauchst viel mehr. Deshalb hängte sie an jedem siebten Tag ein Schild an die Ladentür: "Heute geschlossen" und ging, weil es keine Synagoge in der Stadt gab, zum Stadttor hinaus auf den Versammlungsplatz. Man mag auf Rot oder Blau oder Grün stehen, man mag auf Musik oder Theater oder Reisen stehen, man mag auf allem Möglichen stehen, aber dabei zur Gemeinde stehen, zur Gemeinschaft, zum Volk Gottes in dieser Welt, das ist bei Lydia wieder abzulesen, dieser Frau, die auf Rot steht.
2. Eine Frau, die nur rot sieht
... wenn draußen am Flüsschen Gangites die Thora aufgerollt wird. Inmitten des kleinen Frauenkreises der sich sabbats dort zusammenfindet, ist Bibelbesprechstunde. Die zehn Gebote sind das große Thema. Lydia weiß um die Wichtigkeit dieses Grundgesetzes Gottes, aber sie sieht sie nur wie rote Verbotsschilder, die das Leben eingrenzen: Du sollst nicht, du darfst nicht, du kannst nicht, du musst nicht. Wo bleibt denn dieses Mehr an Liebe und Freude und Friede? Jedesmal ging sie mit ihrer ungestillten Sehnsucht zurück in ihr Haus, bis jener Sabbat kam, an dem die vier Reiseprediger auftauchten. Paulus bekam das Wort, und vom ersten Satz seiner Predigt an hing diese Lydia an seinen Lippen, denn er erzählte von einem Mann, der auch einmal Purpur trug. Bezahlen konnte er ihn nicht, weil er kein Geld dafür hatte. Das Geld hatten die andern, die ihm diesen Purpur überwarfen und dazu eine Dornenkrone auf den Kopf setzten. Vorher schlugen sie ihm noch den Rücken wund, sodass der Purpur Blutflecken bekam. Unten, am Fuß des Schandkreuzes, wurde dieses Schmuckstück verwürfelt und ein römischer Landser freute sich königlich über das Purpurgewand eines Judenkönigs. "Es ist vollbracht", stöhnte der Sterbende auf dem Holz, und dann bebte die Erde so gewaltig, dass am Tempel ein hoher Sachschaden entstand, nicht Gebäude-, sondern Inventarschaden. Der riesige Teppich, das Millionending aus Purpur, das den Zugang zum Allerheiligsten verdeckte, zerriss mitten durch. Wie ein Blitz durchzuckte es Lydia, denn nur sie konnte in der Stunde der Frauen den Wert dieses Vorhangs ermessen. Es war, als zerrisse ihr Herz. So viel sind wir Gott wert, dass er den Purpur des einzigen Sohnes beflecken lässt. So viel sind wir Gott wert, dass er den wertvollen Purpur des Tempels zerreißen lässt. So viel sind wir Gott wert, dass er den Weltheiland Jesus Christus elendiglich verbluten lässt. Lydia sieht in all diesem vielen Rot nur noch das Rot der unendlichen Liebe Gottes. Hier ist die Sehnsucht nach Freude und Friede und Vergebung endlich gestillt. Gott nicht mehr von weitem, Gott nicht mehr versteckt, Gott nicht mehr verdeckt. Der Zugang zu Gott, der Zutritt zum Leben ist sperrangelweit offen.
"Der Herr tat das Herz auf", so beschreibt der Chronist diese Stunde, die zu unserer Stunde werden will. Wir müssen nicht immer mit einem schweren Herzen durch unsere Tage gehen. Wir müssen nicht immer mit einem traurigen Herzen leben. Wir müssen nicht bis zum Tode mit einem verwundeten Herzen fertig werden. Es gibt das Wunder des offenen Herzens für den Herrn, der sein Herzblut vergossen hat und gesagt: Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht. Bei Gott sind nicht die Stellen markiert, wo Massen zusammenströmen, sondern wo Herzen durchströmt werden von der Liebe. Sie sind die Schleusen, durch die der Strom des Lebens einen ganzen Landstrich verändern kann. Gott verschafft sich den Zugang nach Europa nicht durch Macht, Geld, Schwert oder Scheiterhaufen, sondern durch das Herz einer Frau, die nur noch rot sieht.
3. Eine Frau, die nicht rot wird
... wenn sie sich als Christin bekennt. Wir haben so unsere Schwierigkeiten, wenn wir im Lokal vor dem Essen die Hände falten sollen. Wir haben so unsere Probleme, wenn wir im Geschäft von unserem Glauben reden sollen. Wir haben so unsere Hemmungen, wenn wir auf unser Christsein angesprochen werden. Lydia lief nicht rot an, wenn der Kunde stichelnd bemerkte: Sie gehören also auch zu der Frauensekte am Fluss? "Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht", das wusste sie und wurde zur unverschämten Botin ihres Herrn. Wem der Herr das Herz aufmacht, dem macht er auch den Mund auf. Lydia ließ sich mit ihrem ganzen Haus taufen und legte damit öffentlich, vor aller Augen, ein Zeugnis ab, dass sie, die Modefachfrau von Philippi, von nun an auf die Seite dieses Herrn gehört. Wem der Herr das Herz aufmacht, dem macht er auch die Ohren auf. Lydia hörte auf einmal jenen Hilfeschrei der Menschen, der schon vorher an das Ohr des Paulus gedrungen war: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns. Komm herüber in die Nachbarschaft und stärk uns. Komm herüber ins Krankenhaus und bet für uns. Wem der Herr das Herz aufmacht, dem macht er auch die Hände auf. Lydias anbietende, abmessende, kassierende Hände wurden weit geöffnet und luden Paulus und seine Begleiter zum Bleiben ein. Wem der Herr das Herz aufmacht, dem macht er auch das Haus auf. Das Geschäft der Purpurhändlerin wurden zur ersten Herberge der Christenheit in Europa. Das Haus dieser Frau wurde zur ersten Wohnstatt Christi in unserem Landstrich. Eine Wohnung, die erste Gemeinde. Wissen Sie, Gott will bei uns ein Dach überm Kopf. Die Christenheit braucht ganz gewiss Kirchen, aber auch Heimstätten. Die Gemeinde ist auf Räume angewiesen, wo es schneller warm wird und nicht so zieht. Dort in Philippi zwischen roten Tüchern und Purpurballen konnten Menschen lernen, dass man beim Christsein nicht rot zu werden braucht. Sie lernten an diesem Platz das Rot der Liebe Gottes besser sehen. Die Boutique Lydia wurde zur Lebenszelle des Glaubens. Gott sei Dank haben wir eine wunderschöne Kirche, aber haben wir auch Häuser, die Platz haben, Wohnungen, die offene Türen besitzen, Herzen, die sich weit öffnen? Die Purpurgeschichte der Lydia ist eine Wiederholungsgeschichte.
Amen