
Licht im Dunkel
Einen Augenblick zögere ich im dunklen Hausgang. Den ganzen Morgen bin ich durch meine Gemeinde gegangen, um meine Gemeindeglieder kennenzulernen. Ja, nun kommt es mir auf einmal zum Bewusstsein: Ich bin müde, hundemüde, und es sei ehrlich gestanden, auch ein wenig verzagt.
Überall fand ich kühle Ablehnung des Evangeliums, Herzen, die von tausend Sorgen beschwert sind, die eine große Sorge nicht mehr haben – wie man selig wird. Herzen, so voll von Bitterkeit und Not, dass sie nicht mehr hören konnten auf das, was ich ihnen sagen wollte.
Da hinten, in dem dunklen Hinterhaus, soll ein alter blinder Mann wohnen. Ich habe fast keine Kraft und keinen Mut mehr zu diesem Besuch. Was wird der erst klagen und schimpfen? Aber dann fasse ich mir doch ein Herz, überquere den kleinen dunklen Hof und betrete die düstere Korbmacher-Werkstatt.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Da, hinter Bergen von Körben und zerbrochenen Stühlen, erhebt sich ein alter Mann. Als er steht, sehe ich, dass er eine stattliche Erscheinung ist. Seine erloschenen Augen richten sich fragend auf mich.
„Guten Tag, ich bin der neue Pfarrer der Gemeinde.“ Da geht ein freundliches Lächeln über sein Gesicht. Höflich lädt er mich zum Niedersitzen ein, auf einem niedrigen Hocker.
Ich bitte ihn, mir ein wenig von seinem Leben zu erzählen. Ja, und dann kommt ein großes Staunen über mich: Kein Klagen höre ich, kein Schimpfen. Im Gegenteil, der alte Mann erzählt mir, wie viel Barmherzigkeit ihm Gott in seinem Leben getan habe.
Je länger er spricht, desto mehr wird sein Erzählen ein fröhliches Loben des großen Gottes, der durch Jesus, unseren Heiland, sein Vater sei.
Als ich gehen will, bittet er: „Herr Pfarrer, ich habe einen Wunsch. Lesen Sie mir doch einmal meinen Lieblingspsalm vor, Psalm 34.“
Ich ziehe mein Testament heraus und fange an zu lesen:
„Ich will den Herrn loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des Herrn. Welche auf ihn sehen, die werden erquickt, und ihr Angesicht wird nicht zuschanden werden. Der Herr erlöst die Seelen seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden keine Schuld tragen.“
Immer noch lässt er mich nicht gehen. „Herr Pfarrer, wir müssen noch einen Vers zusammen singen.“
Mit sicheren Tastenbewegungen räumt er einen ganzen Berg Weiden und Körbe beiseite. Dann kommt ein kleines Harmonium zum Vorschein, das er sorgfältig mit einem roten Tuch zugedeckt hat.
Nun sitzt der alte Mann vor dem Harmonium. Sicher gleiten seine Finger über die Tasten, und während seine blinden Augen aussehen, als schauten sie in die Ewigkeit, fängt er mit kräftiger Stimme an zu singen:
„Weil denn weder Ziel noch Ende sich in Gottes Liebe find’, so heb’ ich meine Hände zu dir, Vater, als dein Kind. Bitte wolltest mir Gnade geben, dich aus aller meiner Macht zu umfangen, Tag und Nacht hier in meinem ganzen Leben, bis ich dich nach dieser Zeit lob’ und lieb’ in Ewigkeit.“
Erschüttert stand ich da. Hier saß ein armer blinder Mann und lobte Gott.
Mir fiel eine biblische Geschichte ein: Als Salomo den neuen Tempel einweihte, konnten die Priester nicht stehen im Hause des Herrn, weil die Herrlichkeit des Herrn das Haus füllte.
So ähnlich ging es hier.
Als er ausgesungen hatte, verließ ich still die Werkstatt.
Herrlich, herrlicher, am herrlichsten – rasselnd und fauchend ist der kleine Vorzug davon gefahren. Ich wandere hinein in den schweigenden Winterwald. Tiefe Stille umgibt mich, der Atem wird in der Kälte zu dichten Rauchwolken.
Leise knirscht der Schnee unter meinen Sohlen. Wie herrlich doch die Natur auch jetzt in der Todesstarre ist! In tausend, in Millionen Kristallen spiegelt sich das Licht des Tages. Jeder kleine Zweig ist ein Wunderwerk in seiner dichten Bereifung.
Stunde um Stunde wandere ich durch diese schweigende, herrliche Winterwelt. Durch meinen Sinn gehen die Worte aus dem Psalm: „Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich, du bist schön und prächtig geschmückt! Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl.“
Tiefe Stille ringsum, nur hier und da ein kleines Geräusch, wenn ein einsamer Vogel durchs Gezweig fliegt und leise der Schnee von den Bäumen rieselt. Gott, man lobt dich in der Stille.
Ein paar Stunden später sitze ich wieder im Vorzug, der mich in die lärmende Großstadt zurückbringt. Lachend und schwitzend drängen sich die Menschen in dem überhitzten Abteil. Aber meine Seele ist erfüllt von dem großen Schweigen des Winterwaldes.
Ja, herrlich ist die Schöpfung, herrlich ist Gottes weite Welt.
Am Nachmittag führt mich mein Weg in eine dunkle, schmutzige Straße. Keine Spur ist hier zu sehen von der Herrlichkeit des Winters. Schwarz und zertreten ist der Schnee, aus dem ein paar Jungen vergeblich Schneebälle zu drehen versuchen.
Mitten zwischen den hohen Mietskasernen steht ein altes, baufälliges Häuschen. Ich steige die knarrende, ausgetretene Treppe hinauf. Dumpfe Gerüche erfüllen das enge Treppenhaus. Oben, unter dem Dach, wohnt eine alte Frau, krebskrank. Die Krankheit hat ihr ganzes Gesicht zerfressen. Es hat mir früher gegraust, sooft ich sie ansah. Seitdem es nun aber noch schlimmer mit ihr geworden ist, trägt sie ein Tuch um ihr Gesicht.
Ich trete in das enge Zimmer ein. Es muss wohl heute schlecht stehen um die Alte, denn sie liegt im Bett. Das trübe Licht, das durch das schräge Dachfenster hereinfällt, erhält nur schwach das sonst gemütliche, wohl aufgeräumte Stübchen, das vollgestopft ist mit Erinnerungen aus alter Zeit. Sie hat einmal bessere Tage gesehen, die alte Frau, die nun so einsam und arm da liegt.
Ich setze mich neben sie ans Bett. „Na, wie geht’s denn heute, Großmutter?“ „Großartig“, sagt sie, „herrlich, ganz herrlich. Sehen Sie, da, die freundliche junge Nachbarsfrau hat mich heute Morgen schon so gut betreut. Sie hat mich gewaschen und mir mein Zimmer aufgeräumt. Und dann kam die Gemeindeschwester und hat mir Feuer in den Ofen gemacht. Dabei hatte ich gestern noch solche Sorgen, wo ich wohl ein wenig Kohlen hier bekommen sollte.“
„Ja, ist es aber für Sie nun nicht sehr einsam, wenn Sie den ganzen Tag hier so allein liegen müssen? Ich denke, die Schmerzen machen Ihnen doch wohl auch sehr zu schaffen. Und schlafen können Sie nachts, soviel ich weiß, auch nicht?“ Da richtet sich die Alte auf.
„Wie Sie aber reden, erfahre ich, bin ich keine Stunde alleine. Sehen Sie da, auf dem Stuhl, auf dem Sie sitzen? Da sitzt mein Herr Jesus. Mit Ihm rede ich von allem, was mein Herz bewegt: von der Vergangenheit, von Menschen, die ich lieb habe, und von allen möglichen Sachen. Dann spricht Er mir Trost zu und schenkt mir seinen herrlichen Frieden, dass ich ganz glücklich werde.“
Als ich die Treppe wieder hinuntergehe, taucht noch einmal das Bild des herrlichen Winterwaldes vor mir auf. Doch nun weiß ich: herrlicher als alle Schönheit der Schöpfung ist ein Mensch, dem Jesus seinen Frieden geschenkt hat.
Während ich durch den Matsch des schmutzigen, zertretenen Schnees stapfe, gehen meine Gedanken weiter. Was wird denn noch herrlicher sein? Am herrlichsten wird es sein, wenn Gott einmal alle seine Verheißungen wahr gemacht hat.
Ich sehe: "Ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt." Es wird kein Leid und kein Geschrei mehr sein, und Gott wird alle Tränen von unseren Augen abwischen.
Geborgen stehe ich einen Augenblick still vor der weiß gestrichenen Tür von Zimmer Nummer vierundzwanzig des großen Krankenhauses. Was soll ich dem Mann sagen, der dort liegt? Er hat Schweres erlebt. Bei einer Autofahrt ist er verunglückt und liegt nun mit zerschmettertem Armgelenk hier in der fremden Stadt im Krankenhaus.
Inzwischen ist zu Hause seine treue und geliebte Frau einem Herzschlag erlegen und zu Grabe getragen worden. Zu all den äußeren und inneren Schmerzen kommen nun noch die Sorgen um das große Geschäft zu Hause, das den Chefs unnötig braucht. Ach, was soll ich diesem armen Mann sagen?
Ich trete in das Krankenzimmer, stehe vor dem Bett, fasse nach der gesunden Hand und stammle ein paar Trostworte. Der alte Herr schaut mich mit einem unbeschreiblichen Blick an und sagt: "Ich bin geborgen." Ich verstehe ihn.
Da, neben ihm auf dem Nachttisch, liegt die aufgeschlagene Bibel. Sie spricht auf jeder Seite von der Liebe Gottes, die in Jesus erschienen ist. In seiner Liebe ist dieser Lastträger geborgen.
Und nun sehe ich im Geist die große Schar derer, die sich mit Freuden Kinder Gottes nannten. Lastträger waren sie alle, aber jeder bezeugt fröhlich: "Ich bin geborgen."
Ich denke an Abraham. Er war ein Fremdling geworden, aber Gott hatte ihm gesagt: "Abraham, ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn." Geborgen.
Da ist Paulus. Zerschlagen liegt er in Ketten im Gefängnis in Philippi. Aber um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott im Gefängnis. Ist das nicht unerhört? Das konnten sie nur tun, weil sie geborgen waren in der Liebe Gottes.
Da ist Luther, der seinem Kurfürsten schreibt, der um ihn besorgt ist. Er möge sich nur nicht sorgen, denn mit aller seiner Macht könne er den Luther doch nicht schützen. Vielmehr wolle er der Luther seine kurfürstlichen Gnaden schützen.
Geborgen und von Feinden umgeben, vom Papst gebannt, vom Kaiser geächtet, lehrt er die Christenheit das Lied: "Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen." Das heißt: geborgen.
Und ich denke an Paul Gerhardt, den Liederdichter. In den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, als die Flammen sein Dorf in Schutt und Asche gelegt haben, sinkt er nicht zusammen. "Warum sollte ich mich denn grämen? Hab ich doch Christum noch. Wer will mir den nehmen?" Geborgen.
Geborgen sind sie alle, die das Heil Gottes in Jesus ergriffen haben. Geborgen sind sie in der Liebe Gottes.
Und was der Dichter des sechsunddreißigsten Psalms bezeugt hat, das ist eklig ihrer Erfahrung: Wie teuer ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben.
Vor kurzem sah ich in meiner Kinderstube ein liebliches Bild. Meine Jüngste hatte sich irgendwo am Kopf gestoßen; es war eine dicke Beule. Aber nun saß sie ganz getröstet und fröhlich auf dem Schoß der Mutter. An den dicken Bäckchen hingen noch die Tränen, aber die Augen lachten schon wieder. Geborgen. Da musste ich denken: Das ist ein Bild der Christen.
Mancherlei Wunden schlägt ihnen die Welt. Aber wenn noch das Herz zittert über mannigfache Not und über das, was ihr Gewissen ihnen vorhält, so sind sie doch geborgen in der Liebe ihres Herrn. Und sie rühmen: Wir überwinden weit um deswillen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn (Römer 8,37-39).
Ich tue recht und scheue niemand – geradezu aufregen kann mich dieser Satz. Wie oft, ach ja, wie ermüdend oft habe ich es erlebt, dass mir einer, dem ich das Evangelium bezeugte, freundlich abwinkt und überlegen sagte: „Wissen Sie, ich halte mich an die Religion, die schon mein Vater hatte, und die heißt: Tue recht und scheue niemand.“
Da bin ich dann oft auf gefahren und habe heftig erwidert: Das ist die blödeste Religion, die ich kenne. Denn erstens ist es eine Religion, bei der Gott nicht mal vorkommt, und zweitens ist es gar nicht wahr.
Dann hat der andere wohl still gelächelt, als wenn er sagen wollte: Wahrscheinlich hast du recht, aber so ist es für mich am bequemsten – und da lässt sich dann ja nichts machen.
Aber einmal hat es mir Gott doch geschenkt, dass so ein selbstgerechter Sünder aus seinem stolzen Sattel stürzte. Es ist schon fünfzehn Jahre her, und der Mann, um den es sich dabei handelt, ist längst in der Ewigkeit. So kann man die Geschichte ruhig erzählen. Ja, man muss sie erzählen.
Denn wir haben viele Vergehen gesehen: ein Kaiserreich, eine Republik und einen totalitären Staat. Mit diesen Systemen gingen jedes Mal auch Weltanschauungen zugrunde. Doch der dumme Satz „Ich tue recht und scheue niemand“ blieb bestehen. Er blieb in einem Volk, das jahrelang geradezu vorgelebt hat, was Menschenfurcht ist.
Wer will sich darüber wundern? Diesen Satz haben schon die Pharisäer zu Kaiser Augustus’ Zeiten gesagt.
Aber nun zur Geschichte: Ich besuche oft einen alten Mann in einem Altersheim. Er war ein gottloser, verhärteter Mensch. Was ich ihm auch aus der Bibel vorlas, das lief an ihm ab wie Wasser an einem Marmorstein.
Als ich eines Tages wieder in sein Zimmer trat, lag er im Bett. „Oh, sind Sie krank, Vater?“ fragte ich. Verdrießlich antwortete er: „Ach, wenn man mal fünfundsiebzig ist, kann man ja ruhig sterben.“
„Stopp!“ rief ich. „Das ist nicht richtig. Ob man ruhig sterben kann, hängt nicht vom Alter ab. Ich habe einen vierzehnjährigen Jungen ruhig sterben sehen und ich habe einen alten Sünder verzweifelt in seinen Sünden dahinfahren sehen. Nein, vom Alter hängt das nicht ab. Das hängt vom Frieden mit Gott ab.“
Etwas unsicher schaut mich der Alte an, dann legt er los: „Frieden mit Gott? Den habe ich. Ich habe nichts gegen Gott. Mein Wahlspruch war: ‚Tue recht und scheue niemand‘. Danach habe ich gelebt. Ich habe niemanden bestohlen, ich habe niemandem Unrecht getan.“
Während er nun alle seine guten Taten aufzählt, kratzt er mit beiden Händen auf der Bettdecke. Es ist, als wenn er alle seine Vorzüge und guten Taten auf ein Häuflein zusammenscharen und vor Gott hinlegen wolle. Immer noch zählt er auf, während seine Hände das unsichtbare Häuflein hübsch säuberlich zusammenscharen.
„Ich habe nie Streit gehabt in meinem Haus. Ich war immer kameradschaftlich gegen meine Arbeitskollegen.“ Endlich ist er fertig.
„Lieber Mann“, sage ich, „nun kann ich Ihnen ja nur gratulieren, dass Sie so prächtig und großartig vor dem Angesicht des lebendigen Gottes bestehen können. Ich bin zwar nur halb so alt wie Sie, aber so großartig stehe ich leider nicht da.“
„Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, dann muss ich sehr traurig werden darüber, wie oft ich versagt habe. Wie oft habe ich Gottes Gebote übertreten? Wie oft bin ich der Liebe schuldig geblieben? Wie oft habe ich mit meinen Launen meine Umgebung gequält? Ich habe viel, viel Schuld.“
„Sehen Sie, darum bin ich froh, dass ich einen Heiland habe, der am Kreuz für mich gestorben ist und der mich, verlorenen Menschen, mit Gott versöhnt hat. Ja, dieser Heiland ist meine ganze Hoffnung.“
Einige Augenblicke ist es sehr still im Zimmer. Dann seufzt der Alte tief auf und gibt zu: „Ja, wenn ich mir die Sache genau überlege, dann ist in meinem Leben auch nicht alles so gewesen, wie es sein sollte.“
„Oha“, lege ich nun los, „was soll das denn heißen? Eben haben Sie doch noch so großartig getan, wie Sie vor Gott bestehen könnten und wie Ihr Leben hoch in Ordnung sei.“
„Ja“, sagt er, „und wenn man sein Leben also richtig ansieht, dann...“
„Lieber Vater, dann packen Sie mal aus und machen Sie Ihr Gewissen frei!“
Dann kam eine Beichte. Was da gesprochen wurde, hat nur Gott hören dürfen. Aber als der Alte zu Ende war, stand ein riesiger Berg von Schuld und Sünde da, vor dem das kleine Hügelchen auf der Bettdecke ganz und gar verschwand.
Ich war erschüttert: „Oh lieber Mann, mit solchem Berg von Sünde wollten Sie in die Ewigkeit gehen? So wollten Sie für den dreimal heiligen Gott treten?“
Dann kniete ich an seinem Bett nieder und wir brachten diesen Berg von Schuld vor Gott. Als wir das getan hatten, durfte ich ihm sagen: „Nun heben Sie Ihre Augen auf zum Heiland am Kreuz. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten.“
Dann ging ich und ließ ihn in großer innerer Not und Herzensunruhe zurück.
Als ich nach wenigen Tagen wiederkam, fand ich einen völlig verwandelten Mann vor. Nun hatte sein Herz den gefunden, der gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen.
Als ein Begnadigter, von Gott angenommener und wirklich mit Gott versöhnter Mensch ist er im Jahr darauf friedlich hinübergegangen in die Ewigkeit.
Was es war: schön müde von einem reichen Sonntagsdienst sitze ich in meinem Sessel. Diese Sonntage im Jahr 1944 waren ja jedes Mal ein wenig aufregend, namentlich für einen Pfarrer und namentlich in Essen, wo wir Tag und Nacht nicht mehr aus den Alarmen herauskamen.
In der Nacht hatten die Sirenen zweimal geholt. Würden die müden Menschen nun zum Gottesdienst kommen? Ja, sie kamen. Sie füllten den Keller, der uns nach der Zerstörung aller Räume geblieben war, bis auf den letzten Platz.
Aber während des Gottesdienstes blieb die Sorge: Wird nicht neuer Alarm uns auseinandertreiben? Oder wird die Gestapo nicht irgendeinen Grund finden, die Versammlung aufzulösen? Dieselben Sorgen am Nachmittag in dem wackeren Jugendkreis, der es trotz der Bedrohung durch Bomben und Gestapo wagte, zusammenzukommen, um das Wort Gottes zu hören.
Aber alles war wunderbar gut gegangen. So sitze ich voll Dankbarkeit in meinem Sessel. Eben will ich ein Buch vornehmen, da fangen die Sirenen an. Vor aller Augen – nun, das ist noch nicht so sehr bedrohlich. Ich mache mich auf, um im Radio zu hören, was los ist.
Da auf einmal ein wüstes, nervenzerreißendes Trollen, ein ohrenbetäubender Krach: die erste Bombe. Der Alarm kam zu spät, zu spät für uns, um noch in den nahen Bunker zu laufen.
Sekundenlang Türenschlagen, Rennen, Schreien. Dann findet sich die ganze Hausbewohnerschaft im Keller zusammen. Oh, dieser Keller! Es ist uns allen klar, dass er keinen Schutz bietet, wenn nur eine dieser schweren Bomben in der Nähe des Hauses krepiert.
Und nun bricht die Hölle los: Brandbomben, darunter schwere Bomben, heulen heran. Das Keller allein schwankt wie ein Schiff im Sturm. Über uns klirren die neu eingesetzten Fenster wieder in die Brüche gegangen.
Ich schaue auf die Uhr: Erst fünf Minuten sind vorbei, und solch ein Angriff dauert sicher fünfundvierzig Minuten. Es ist qualvoll.
Die junge Frau, die oben im Haus wohnt, hat sich auf den Boden gekauert. Und wie Matmour Kinder sage ich: Wollen wir nicht ein Lied singen? Und schon stimme ich an: Stark ist meines Jesu Hand, und er wird nicht ewig fassen, hat zu viel an mich gewandt, um mich wieder loszulassen.
Wie gut ist es, dass meine Kinder jede Woche ein geistliches Lied gelernt haben, dass sie mir immer am Sonntagmorgen aufsagten! Nun können wir das halbe Gesangbuch auswendig.
So singen wir ein Lied nach dem anderen: Befiehl du deine Wege und was dein Herz kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Wir singen aus der Not und dem Entsetzen heraus.
Wir singen uns alle Furcht vom Herzen. Wir singen unsere Glaubenslieder dem drohenden Tod ins Gesicht hinein.
Wenn sich die Sonne verhüllt, längst ist der elektrische Strom weg, und die Finsternis umhüllt uns. Der Löwe um mich brüllt, und wie er brüllt, so weiß ich auch in finsterer Nacht, dass Jesus mich bewacht.
Endlich ist der Angriff zu Ende. Wir stürzen hinauf. Überall Flammenschein, unsere Wohnung ist ein Chaos, und doch sind wir so froh, dass das Haus noch steht.
Vor dem Haus liegt die Leiche eines Mannes. Neben der Luftdruck das Gesicht, welches nun unheimlich grinsend neben ihm liegt.
Wir schütteln den Kalk aus den Betten und bringen die Kinder zu Bett. Und dann beuge ich mich über meine Jüngste, um ihr einen Gute-Nacht-Kuss zu geben.
Da schlingt sie die Arme um mich und sagt aus tiefstem Herzen: Papa, das war schön.
Einen kurzen Moment bin ich fassungslos: schön? Dies entsetzliche schön? Aber es ist wahr, das Kind Albrecht. Ja, es war schön, als wir so unsere Jesuslieder sangen mitten im Rachen des Todes.
Es war schön, denn wir hatten alle gemerkt, dass während dieses Dingens der Jesus sein Wort war: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
Ja, es war schön, als ein großer Friede über uns kam, so dass auch die wimmernde junge Frau still wurde.
Ich war schön strahlen groß ging mir auf, dass es bei Jesus schön ist, auch wenn man in der Hölle säße.
Ja, dass es schöner ist, mit Jesus in der Hölle zu sein als ohne ihn im Paradies.
Leucht in unser armes Leben, Büchereien süßer Schein, Silka Ewigkeit!
Leucht in unser armes Leben, unseren Füßen Kraft zu geben, unseren Seelen Freud.
Wo sind wohl Christen, Leute, die diesen Vers noch nicht gesungen haben? Und doch sieht man so wenig davon, dass das Licht der Ewigkeit das arme Alltagsleben verklärt. Das muss wohl an uns liegen.
Wo es aber geschieht, da ist es etwas ganz Großes und Wundersames.
Das musste ich denken, als ich vor einiger Zeit in einem Blättlein einen kurzen Bericht las. Es ist ein Blatt, durch das die Bettlerdiakone untereinander Verbindung halten. Die Geschichte spielt in einem Durchgangslager für Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten.
Welch ein Strom von Elend und Herzeleid passiert jeden Tag dieses riesige Lager! Und so ein Diakon, der hier Dienst tut, muss schon recht bei dem Herrn Jesus in die Schule gehen, damit sein Herz nicht abstumpft gegenüber dieser unendlichen Not. Und damit er den einzelnen Menschen noch sehen kann.
Solch einem Bettlerdiakonen fiel ein altes Ehepaar auf, das eines Tages in das Lager kam. Der Alte war ein sterbender Mann, und es wurde schnell deutlich, dass sein irdischer Pilgerweg in diesem Lager an das Ziel kommen würde. An seinem Sterbelager saß seine treue Weggefährtin.
Was sie sich zu sagen hatten, war ja wohl im Laufe eines langen Lebens besprochen. Und das war gut, denn die Verständigung war schwierig, weil die alte Mutter ganz tapfer war. Alles, was ihr Mann ihr sagen wollte, schrieb er auf eine Schiefertafel, die sie bei ihrem geringen Gepäck mitführten.
Eines Tages nun ging der Diakon an den beiden vorbei und sah, dass der Alte mit letzter Kraft etwas auf die Tafel schrieb. Er trat näher, um festzustellen, ob der Alte etwa einen Wunsch hätte. Und der las:
„Jetzt gehe ich nach Hause zum Heiland. Da werden wir nicht mehr vertrieben, da werden wir nicht mehr ausgeplündert, da wird Gott alle Tränen von unseren Augen abwischen.“
So etwa schrieb der Alte. Wie gesagt, ich kann es nur aus dem Gedächtnis und nicht einmal ganz wörtlich zitieren. Ich glaube, er hat es sogar noch viel schöner aufgeschrieben, als ich es nun zusammenkriege.
Und mir hat der Diakon es nicht berichtet. Aber als ich diese Notiz gelesen hatte, da sah ich im Geist die beiden Alten in dem grauenvollen Flüchtlingslager sitzen, ringsum furchtbare Not und vor ihnen die schwerste Trennungsstunde.
Aber über ihnen hatte sich der Himmel aufgetan, und das Licht vom unerschöpften Lichte ist in ihr armes Leben hereingebrochen.
Ewigkeit in die Zeit – leuchte heller hinein.
Lass uns werden klein, das Kleine und das Große groß erscheinen.
Selten Ewigkeit, die Enttäuschten – ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!
sagt der Kranke und dreht sich ärgerlich in seinem Bett um.
Gleichmütig sehen die Kranken aus den anderen Betten auf mich.
"Oh ja, Seelsorge im Krankenhaus ist kein Kinderspiel."
Da ist nun einer, der wohl ein wenig versteht, was in solch einem Augenblick im Herzen eines Pfarrers vor sich geht.
Darum sagt er gleichsam erklärend:
"Ach, Sie müssen verstehen, uns ist in den vergangenen Jahren so viel erzählt worden, und wir haben das alles geglaubt. Und nun sind wir die Dummen.
Da ist es ja wohl am besten, man glaubt gar nichts mehr."
Beifällig nicken die anderen:
"Ach ja, ich verstehe das gut."
Im Geiste sehe ich das riesige Heer von Menschen vor mir, die einmal blindlings geglaubt haben – an den Führer und dann das Gute, die Menschen, und an den Sieg, und dann Deutschland.
Und nun habt ihr, Glaube, entsetzlich Bankrott gemacht.
Was soll man da noch anderes tun, als sich einem völligen Jähzorn bedenkenlos in die Arme zu werfen?
Da sind die anderen, die den Schwindel durchschaut haben.
Aber was konnten sie ausrichten gegen Dummheit und Bosheit?
Sie hoffen nichts mehr und glauben nichts mehr.
"Oh ja, ich verstehe Sie gut."
Immer noch schauen die Kranken mich an.
Sie haben wohl das Gefühl, dass der Pfarrer nun auch nichts mehr sagen kann und nach einem guten Abgang sucht.
Vielleicht aber lebt in ihnen eine stille Hoffnung, der Pfarrer könne ihnen einen neuen Weg zeigen.
Und das will ich tun.
"Darf ich Ihnen mal eine kleine Geschichte erzählen?" frage ich.
Alle sind sofort einverstanden, sogar der Unfreundliche dreht sich mir wieder zu.
Ich erzähle ihnen ein Erlebnis aus dem Jahr 1925.
Ich war damals junger Pfarrer in einem riesigen Bergarbeiterbezirk.
In den großen Menschenmassen dieses Armenbezirks herrscht ein dumpfer Hass gegen Kirche und Pfarrer.
Weil die Menschen nicht zu mir in die Kirche kamen, ging ich zu ihnen und suchte sie in den Wohnungen auf.
Von Haus zu Haus ging ich.
Es war eigentlich immer dasselbe: Wenn ich sagte, ich bin der evangelische Pfarrer, flog die Wohnungstür zu.
Aber da hatte ich immer schon meinen Fuß dazwischen und setzte das Gespräch fort.
Kurz: langweilig war es nicht.
So komme ich eines Tages in die Taubenstraße.
Es war paradox, dass sie so hieß, denn sie war berühmt, weil hier die größten Schläger wohnten.
An einer Tür klopfe ich an.
"Herein!" ruft eine männliche Stimme.
Ich trete in eine reinliche Wohnküche, in der ein junger Mann erregt auf und ab läuft.
"Was wollen Sie?" herrscht er mich an.
"Ich bin der evangelische Pfarrer und wollte Sie mal aufsuchen."
Geradezu erschrocken schaut er mich an, dann geht's los:
"Was, ein Pfarrer? Das hat mir gerade noch gefehlt! Raus!"
Ich muss lachen.
"Junger Mann," sage ich, "warum so erregt? Meines Wissens habe ich Ihnen doch nichts geklaut."
Er hält sich die Ohren zu.
"Ich will nichts hören, gehen Sie! Ich habe den Glauben an die Menschheit verloren."
"Kommen Sie an mein Herz, junger Mann," rufe ich.
"Wir gehören beide zusammen. Diesen Glauben habe ich auch verloren."
Groß schaut er mich an.
"Wie, Sie als Pfarrer müssen doch den Glauben an die Menschheit hochhalten."
"So muss ich das."
"Ich kann Ihnen nur versichern: Dieser Glaube ist in Fetzen davon gegangen."
"Ich war im Krieg als Soldat und später als Offizier.
Da hab ich die Menschen kennengelernt – dieser Neid, einer gönnte dem anderen nichts.
Und dann die Zuden von morgens bis in die Nacht – Thema eins – und die Brutalität."
"Nein, Glauben an die Menschheit, davon habe ich genug."
Er kann es gar nicht fassen.
Er schüttelt den Kopf.
"Das nimmt nicht doch Wunder, wo Sie Pastor sind."
"Uh, ich bin sogar radikaler als Sie," erschüttere ich ihn vollends.
"Sie sind überzeugt, dass die Menschheit nichts taugt, nur Sie allein taugen etwas, nur Sie allein heben sich strahlend von diesem düsteren Hintergrund ab.
Woher haben Sie ein Recht zu dieser wunderlichen Überzeugung?"
"Ich bin so weit, dass ich sogar den Glauben an mich selbst verloren habe."
Ich sage mit dem Apostel Paulus:
"Ich weiß, dass in mir nichts Gutes wohnt.
Wollen hab ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht."
Immer noch schüttelt er den Kopf und sagt schließlich ärgerlich:
"Ja, dann möchte ich nur wissen, warum Sie überhaupt noch Pfarrer sind."
Das will ich ihm sagen:
"Sehen Sie, ich habe einen neuen Glauben gefunden, der mir nicht mehr kaputt geht.
Der besteht auch, wenn die ganze Welt in Trümmer fällt.
Der besteht sogar im Tod."
Jetzt ist er richtig gespannt.
"Das möchte ich doch wissen, was das für ein Glaube sein soll."
Das will ich ihm gern sagen:
Es ist das herzliche Vertrauen zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes, dem Heiland der Welt.
Er greift sich an den Kopf.
"Das ist ja das alte Christentum.
Ich meine, damit wäre es längst zu Ende."
Nun muss ich wieder lachen.
"Oh Mann, Sie Narr, damit fängt es nun ja erst richtig an.
Wenn die Menschen mit all ihren dummen Ersatzglauben am Ende sind,
dann sitzen wir zwei zusammen, und ich kann Ihnen berichten von dem Heiland, der uns Gott offenbart hat, der uns mit Gott versöhnt hat und der uns mit unaussprechlicher Liebe liebt, der gekommen ist, dass wir leben und volle Genüge haben sollen."
Aufmerksam haben mir die Männer im Krankenhaus zugehört.
Ob ihnen wohl ein wenig deutlich wurde, dass das Evangelium von Jesus die einzige Chance ist für eine Zeit, die alles, aber auch alles verloren hat.
Kann die Natur uns erlösen?
Karl Freund wandelte an einem Sonntagmorgen den stillen Waldweg entlang. Er atmete tief auf und blieb beglückt stehen. So liebte er es: ringsum das stille Rauschen des Waldes, das Singen der Vögel, der blaue Himmel und das glänzende Licht, das die Morgensonne in Pfeilbündeln durch das lichte Laub warf. Wie schön doch das alles war!
Unwillkürlich faltete er die Hände. Er fühlte sich richtig eins mit der herrlichen Natur. Er war in ihr, und sie war in ihm. So feierte er seinen Gottesdienst.
Nein, dachte er, da sitzen sie nun in dämmrigen, muffigen Kirchen und lassen sich irgendwelche mittelalterlichen Dogmen vortragen. Nein, wie kann man bloß daran Freude haben? Hier ist Gott, hier, inmitten all der herrlichen Natur. Ja, hier! Hier kann man ihn fühlen, im Atmen der Natur. Und wer hier nicht Gott erlebt, der muss einen Stein in der Brust haben.
Bei jedem Schritt entdeckte er neue Offenbarungen der Natur. Ganz feierlich war ihm zumute.
Einige Jahre später wieder ging Karl Freund durch den stillen, sommerlichen Wald. Aber diesmal war sein Herz nicht voll freudiger Harmonie. Es war notfall und zerrissen.
Gestern ging das Glück seines Lebens in Trümmer. Seine junge Frau hatte einem Kindlein das Leben geschenkt, aber sie selbst hatte unter unsagbaren Qualen ihr junges Leben lassen müssen. Kurz nachher ist auch das Kindlein gestorben.
Nun war der Frühmorgendliche hinausgeeilt in seine geliebte Natur. Sie sollte ihm Trost und seelische Kraft geben. Schon stundenlang schritt er durch den Wald.
Es war alles wie sonst: Das Sonnenlicht fiel durch die Bäume, die Vögel zwitscherten, die Wolken zogen. Aber in seinem Herzen wollte es nicht still werden. Es hatte keinen Wert, sich etwas vorzumachen: Die Natur hatte heute keinen Trost für sein zerrissenes Herz.
Fast wild machte ihn der Anblick der herrlichen Waldespracht. Während die alten Bäume so gleichmütig rauschten, als sei nichts geschehen, wollte er am liebsten aufschreien: Was sollen wir all eure Schönheit? Was soll mir das Rauschen? Bald ist Herbst, dann muss auch eure Schönheit sterben. Sterben, ja, sterben!
Er kam von dem Gedanken nicht los. Es hämmert in seinen Schläfen: Sterben, ja, sterben!
Langsam ging er weiter. Das Bild der Toten stand vor ihm. In all seinem Schmerz war noch ein besonderer Stachel.
Am Abend, ehe seine Frau ins Krankenhaus ging – an dem Abend, er konnte es heute gar nicht verstehen – hatte er noch einen kleinen Wortwechsel mit ihr. Wie war das nur möglich gewesen?
Gewiss, er war abgearbeitet, gereizt, aber es hatte ja keinen Zweck, allerlei Entschuldigungen zu suchen. Tatsache war, dass er harte, unfreundliche Worte zu ihr sagte. Und das war nur das Letzte gewesen.
Wie ihn das jetzt schmerzte! Nie mehr gutzumachen, nie mehr.
Karl Freund stürmte den Weg entlang. Ja, wenn er jetzt jemanden hätte, der zu ihm sprechen könnte! Aber das Rauschen der Bäume ließ ihn so kalt und unberührt.
Groll und Erbitterung kamen über ihn. Alles Menschenleid schien sie nicht zu kümmern. Sie standen, wie sie standen, die alten Bäume da.
Auf einmal Glockengeläut durch die Morgenstille. Karl horchte auf. Ohne zu wissen, was er tat, folgte er dem Klang.
Bald lichtete sich der Wald, und ein Dörflein lag im Wiesengrunde. Wie im Traum ging Karl hinter einem jungen Bauernheer, das über den alten Friedhof dem Kirchlein zustrebte.
Jetzt durchschritt er das niedrige Portal, und nun saß er seit langem zum ersten Mal in einer Kirche.
Leise setzte die Orgel ein, dann fielen die Stimmen der Bauern um ihn her ein. Sie sangen:
Jesu meine Freude, meines Herzens Weide,
Jesu meine Zier,
wie lang auch lange ist dem Herzen bange
und verlangt nach dir.
Ihm war es, als sängen die Menschen nur für ihn.
Jetzt trat der Pfarrer an den Altar und las in die Stille hinein:
Jesus Christus spricht: Kommt zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
Da schlug Karl Freund die Hände vors Gesicht und ließ den befreienden Tränen ihren Lauf.
Oh je, wie ist doch noch Weihnachten geworden!
Es ging auf Weihnachten zu. In der Kaserne sprach man eigentlich nur noch vom Weihnachtsurlaub.
„Freut euch nicht zu früh“, sagte Paul, der bedächtige Bauernjunge aus Westfalen. „Wer weiß, ob wir noch wegkommen. Ein paar müssen ja doch hier bleiben und Wache schieben.“
Günther lachte. „Warum soll es denn ausgerechnet uns treffen? Ausgerechnet mich? Ja nee, mein lieber, was meiner Mutter Sohn ist, der ist am Heiligen Abend zu Hause.“
Und dann traf es ihn doch. Was war das für ein magerer Trost, als der Feldwebel ihm sagte, er dürfe über Neujahr nach Hause. So stand er am Heiligen Abend eisern auf Wache.
Ist das nun ein Weihnachtsfest?
Am ersten Feiertag erhält Günther früh eine Postkarte von seinem Stubengenossen Paul. Die Karte kommt von einem Wirtshaus. Tisch, Bier, Spritzer haben die Schrift verwischt, und ein paar unleserliche Unterschriften lassen erkennen, dass man schon reichlich Alkohol konsumiert hatte.
Blitzartig sieht Günther vor seinem Auge die lärmende, halbbetrunkene Gesellschaft. „War das nun ein Weihnachtsfest?“, denkt er bei sich, während er langsam in der Frühe des zweiten Festtages durch das Kasernentor geht.
Heute hat er nach dem Wachdienst frei. Wenigstens ein Feiertag. Aber wohin jetzt?
Der Klang der Kirchenglocken in der Nähe zieht ihn unvermittelt an. Günther wundert sich selbst, dass er wie von einer verborgenen Macht zum Schall der Glocken hingezogen wird.
Volk ist ja so allein, und er hat so viel übrige Zeit. Und jetzt, morgens, wo soll man da hin?
Wenn er zu Hause gewesen wäre, wäre er an den Festtagen gewiss auch mit den Eltern einmal in die Kirche gegangen.
Nun sitzt er in dem hohen Kirchenraum. Es sind heute am zweiten Feiertag wenig Leute da. Günther ärgert sich ein bisschen über den dünnen Gesang. Darum fällt er lauter ein, als er eigentlich vorgehabt hat.
Immer mehr nimmt ihn das frohe Singen gefangen.
„Fröhlich soll mein Herze springen,
dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen.
Heute geht aus seiner Kammer Gottes Held,
der die Welt reist aus allem Jammer.“
Dann steht ein junger Vikar auf der Kanzel. Wie man heute am zweiten Feiertag die Frühpredigt übertragen hat, ist er nicht viel älter als Günther.
Es ist ihm darum wie eine innere Verpflichtung, den Altersgenossen ernst zu nehmen. Und der nimmt seine Sache auch ernst.
Günther stößt sich nicht an der etwas unbeholfenen und ängstlichen Art des jungen Predigers. Es geht ihm durch und durch, als der junge Pfarrer dort oben sagt: „Wie ernst muss es doch Gott um unsere Rettung sein, dass es einen eingeborenen Sohn gab!“
Darüber hat Günther eigentlich noch nie nachgedacht. Wirklich noch nie, dass man überhaupt eine Errettung braucht.
Aber jetzt ist ihm alles ganz klar. Sein Gewissen sagt ihm, dass der da oben recht hat.
So lässt er sich gern und willig mitführen zu dem Kind von Bethlehem, in dem Gott uns die Errettung geschenkt hat.
Ja, alles, was er gehört hat, wird ihm so wichtig, dass er sich ein Herz fasst und nach dem Gottesdienst in die Sakristei geht.
Der junge Prediger ist fast erschrocken, dass sein Wort wirklich solch eine Wirkung gehabt hat, dass es sogar ein stolzes Soldatenherz erschüttern konnte.
Nun freut er sich. Gern nimmt er den Suchenden auf und lädt ihn für den Nachmittag in seine kleine Bude ein.
Und hier an diesem Nachmittag geschieht, dass ein junger Mann den anderen zum Heiland führen kann.
Als Günther am Abend durchs Kasernentor geht, lächelt er still vor sich hin.
Merkwürdig. Kein Heimaturlaub, aber jetzt ist doch wirklich auch für mich Weihnachten geworden.
Ha ha ha ha.
Es ist keine Liebe drin. Ein düsterer roter Backsteinbau steht in einer lauten Straße. Hier hat die große Industriestadt ihre unversorgten Alten untergebracht.
Es ist ein seltsames Trio dieser alten Leute. Der Mann mit der hohen Gestalt hat einmal bessere Tage gesehen. Kein Mensch weiß, wie er hierher geraten ist. Einsam geht er durch seine Tage. Auch hier noch verschanzt er sich gegenüber seinen Leidensgefährten hinter großer Vornehmheit.
Und das Mütterchen da – wie ein spannender Roman ist es, wenn sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Jener dort war einmal Schneidermeister. Nun hat er von der alten Herrlichkeit nichts gerettet als seinen schwarzen Rock, an dem er beständig näht und bügelt, um ihn sonntags in stets neuem Glanz zu zeigen.
Einer fiel mir immer besonders auf. Er hatte einen merkwürdig traurigen Zug im Gesicht. Eines Tages erzählte er mir seine Geschichte. Ganz einfach war sie: Mühe und Arbeit war sein Leben. Die Frau war tot, die Tochter verheiratet. Sie besuchten ihre Tochter ab und zu. Da wird sein Gesicht bitter.
»Oh nein, sie mögen mich nicht«, sagt er.
Eines Tages hat er eine neue Wolljacke bekommen.
»Die ist aber schön warm, wo ist die denn her?«
»Von meiner Tochter. Hat sie Ihnen ein Paket geschickt?«
»Das ist aber nicht...«
»Ja«, erwidert er, »sie sorgt schon für mich, wie es nötig ist. Da kann ich nicht klagen.«
Es war allerhand Schönes in dem Paket. Aber ich unterbreche ihn: »Das ist doch fein, da gibt es doch kein Aber.«
Er will sich abwenden, doch ich halte ihn fest: »Nun sagen Sie mir, was Sie am Paket Ihrer Tochter auszusetzen haben.«
Er schaut mich unendlich bitter und traurig an und sagt: »Es war keine Liebe drin.«
Auf einmal verstand ich den Alten. Und ich verstand noch mehr. Ich verstand, warum viele von den Alten hier so bitter aussehen. Gewiss, sie haben eine Wohnung, Essen und Kleider, gewiss, sie sind versorgt. Aber es ist keine Liebe drin.
Das Wort wurde ich nicht mehr los.
Am Arbeitsamt führte mein Weg vorbei. Hunderte von Männern drängten sich hier. Warum waren die Gesichter so verbissen? Warum lag in den Augen so eine Traurigkeit? Warum sollten sie nicht anerkennen, dass die Gesellschaft und der Staat für sie sorgten, so gut sie es vermochten? Gewiss, es ist wenig. Aber warum schauten sie so verbittert?
Da war es mir, als wenn sie alle denselben Satz riefen: all die blassen Gesichter, die traurigen Augen und die schweren Herzen – es ist keine Liebe drin.
Ich weiß, es war keine politische Frage mehr und keine wirtschaftliche. Es war eine Anklage des Herzens gegen die Gesellschaftsordnung. Und die Anklage lautete: Es ist keine Liebe drin.
Man hatte die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts zu Maschinen, Teilchen gemacht, zu Nummern, die man beliebig braucht und wegwarf.
An einer Kneipe gehe ich vorüber. Im Tabaksqualm drängen sich Männer. Aber sie haben doch eine eigene Wohnung, ein Daheim, haben eine Frau, die sie erwartet, und Kinder. Warum findet man sie hier und nicht in ihrer Wohnung? Es ist keine Liebe drin.
Und wie oft hört man es von denen, die am Schnaps zugrunde gingen? Die blassen Frauen, die verhärmten Mütter. Sie waren doch einmal fröhliche junge Mädchen. Als sie heirateten, fanden sie kein Glück in ihrer Familie.
»Es war keine Liebe drin«, flüstern sie schmerzlich.
Wir lesen täglich von Selbstmördern. Warum sind sie aus der Welt geflohen, aus dieser Welt, die doch so schön sein kann? Es ist, als ob es aus den Gräbern rief: Es ist keine Liebe drin.
Du Gotteskind, die Welt, in der du stehst, braucht dich. Sie braucht nicht deine Redensarten, nicht deine sittlichen Entrüstungen und was du sonst dergleichen billig pfeilst.
Du kriegst die Welt von heute. Sie braucht von dir Jesus’ Liebe.
Aha, hallo Team! Kim ist ein Bäckergeselle, der heute engagiert in der evangelischen Jugendarbeit steht. Doch als die Geschichte passierte, war er noch Lehrling.
Er war ein blasser und schwächlicher Junge. Daher hatte er auch einen seltsamen Spitznamen: Käme. Das ist nämlich eine jungegemäße Abkürzung von Kalkeimer. So nannten ihn die Jungen in unserem Jugendkreis, weil er so entsetzlich blass aussah – eben wie ein Tag Eimer.
Aber es war kein Wunder, dass er so aussah. Denn das war Krieg. Tag und Nacht gab es in unserer Stadt Essen Alarm. Da musste man sehen, wie man die Arbeit dazwischen bekam. An so einem kleinen Lehrling blieb natürlich eine Menge hängen.
Doch unser Kim fand immer noch Zeit, unsere Bibelstunden zu besuchen. Wir kamen in einem dunklen Keller zusammen, denn die Gemeindehäuser waren längst alle zerstört. Doch das machte nichts. Der Herr Jesus kam zu uns, auch in den Keller, und erfüllte alles mit seiner Herrlichkeit.
Auch den jungen Kim gewann er sich zu eigen. Oh, wir haben feine Stunden dort in dem Keller zusammen erlebt!
Wieder einmal war ein furchtbarer Angriff über Essen niedergegangen. Als der Abend sich herabsenkte, brannte die Stadt an allen Ecken und Enden. Über Häusertrümmer bahnte ich mir meinen Weg zu unserem Keller. Wahrhaftig, es hatte sich wieder ein Triplan eingefunden. Die Lichtleitungen waren zerstört, und wir mussten bei einem kleinen Kerzenstückchen beisammensitzen.
Aber das Licht der Welt ging hell in unseren Herzen auf. Uns Leuten, die wir in Finsternis und Schatten des Todes saßen, ging auf der Aufgang aus der Höhe. Wer die Bibel kennt, weiß, dass das Wort aus dem Lobgesang des Zacharias im ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums stammt.
Als wir auseinander gingen, blieb Kim vor mir stehen. Einen Moment sah ich eine große Traurigkeit in seinem Gesicht. Dann sagte er: „Nun haben wir auch alles verloren. Eine Luftmine hat das Haus, in dem wir wohnten, in einen Trümmerhaufen verwandelt.“
Aber dann ging auf einmal ein unbeschreiblicher Glanz über das blasse Gesicht. Es war, als wenn ihm die Freude aus allen Knopflöchern strahlte. Als er fortfuhr: „Jetzt habe ich nichts mehr als bloß meinen Heiland.“
„Oh Junge“, sagte ich und drückte ihm die Hand, „da ist er ja, das Beste geblieben. Da ist dir ja der eigentliche Reichtum nicht verloren gegangen.“
Und Kim nickte freudestrahlend, mit Tränen in den Augen. Als ich die Tränen sah, fiel mir ein Verslein aus dem württembergischen Gesangbuch ein. Es heißt so: „Wein ich, wenn ich wein, doch noch mit Loben. Das Loben schickt sich fein zu solchen Proben. Man kann den Kummer sich vom Herzen singen, nur Jesus freut mich, dort wird es klingen.“
"So möchte ich nicht sterben", saßen wir einmal in einem Kreis junger Männer zusammen. Nach kurzer Zeit kam das Gespräch auf Kriegserlebnisse. Obwohl es ganz junge Kerle waren, hatten sie doch alle schon Unheimliches erlebt.
Auf einmal begann Schaustr – das ist natürlich sein Spitzname, und er verdient ihn auch, denn er ist ein lustiger und quicklebendiger Junge, der in kurzer Zeit einen ganzen Saal voller Leute zum Lachen bringen kann. Darum packte es alle mächtig, als wir in seinen Worten einen ungeheuren Ernst und ein tiefes Grauen spürten.
Er erzählte: "Der lag ich eines Tages in unserer Flakstellung im Bunker auf der Pritsche und las in meiner Bibel. Auf einmal kam ein Kamerad zu mir heran und fragte: 'Was liest du da?' – 'Die Bibel.' – 'Na, nun ging es aber los: Das ist doch ein unsinniges Buch, das ist doch ein Buch voller Widersprüche. Das liest doch kein vernünftiger Mensch mehr, das macht dich doch nur dumm!' Ich hörte mir das alles an und entgegnete schließlich nur den einen Satz: 'Was willst du eigentlich machen, wenn das Jüngste Gericht kommt und du mit allen deinen Sünden vor Gott stehst?'"
Da ging es natürlich erst recht los: "Das hab ich ja alles Unsinn, ein Gericht Gottes gebe es nicht, und da könne man richtig sehen, wie dumm die Menschen seien."
Am nächsten Tag kamen feindliche Flieger und deckten unsere Stellung ein. Es war furchtbar: Brandbomben und Sprengbomben krachten und hagelten in und um die Stellung. Als es zu Ende war, ging es ans Aufräumen. Da lag der Mann, der am Tag vorher so gespottet hatte, in einer grauenvollen Verfassung. Beide Beine waren ihm abgebrannt.
Ich packte mit an, und wir trugen ihn zum Verbinden. Der sah mich auf einmal groß an. Ein abgründiges Erschrecken ging über sein Gesicht, als er fragte: "Sag mal, gibt es wirklich ein Gericht Gottes?" Und dann starb er.
Ganz ernst schloss Schaustr seinen Bericht mit den Worten: "So möchte ich einmal nicht sterben. So möchte ich einmal nicht sterben."
Genau dasselbe Wort hörte ich ein paar Tage vorher von einem anderen jungen Mann. Das war in einem fröhlichen Zeltlager. Ich saß in meinem Zelt, da ging der Vorhang zurück. Ein junger Mann steckte den Kopf herein und fragte: "Darf ich Sie einmal sprechen?"
Es gab ein feines, ernstes Gespräch, das damit endete, dass wir zusammen die Hände falteten. Der junge Mann dankte von Herzen, dass er den Herrn Jesus Christus als seinen Heiland und Erlöser gefunden habe und dass er sich durch sein Blut errettet wisse von Sünde, Tod und Hölle.
Als wir nun gehen wollten, hielt ich ihn einen Augenblick fest und fragte: "Sag mal, wie bist du eigentlich auf diesen Weg gekommen? Ich weiß doch, dass alle deine Freunde und Bekannten vom Herrn Jesus nichts wissen wollen."
Da wurde er sehr ernst und sagte: "Ich habe im Krieg ein kleines Erlebnis gehabt, das hat mich nicht mehr losgelassen. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren bekam einen Bauchschuss."
"Als wir nun da waren, wie machte er immer zu? 'Wenn ich doch beten könnte, soll einer mit mir beten. Ich kann doch nicht beten. Kann ihn niemand mit mir beten?'"
Ich war damals sechzehn Jahre alt, und wie ich den Mann so jammern hörte, da bin ich furchtbar erschrocken und habe gedacht: "So möchte ich einmal nicht sterben. Nein, so möchte ich nicht sterben, dass ich nicht einmal beten kann."
Ich habe dann mit dem Mann zu beten versucht, und seit jener Zeit habe ich mir vorgenommen: Ich möchte ein Kind Gottes werden."
Auferstehung – ein Gespräch in der Vorortbahn
„Quatsch!“, ärgerlich knüpfte er seine Zeitung zusammen. Sein Nachbar schritt ordentlich zusammen und sagte: „Ach, diese blödsinnigen Osterbetrachtungen! Hören Sie bloß mal: Auferstehung? Der Frühling ist da! ‚Vom Eise befreit sind Strom und Bäche‘, sagte der große Dichter Goethe. Überall feiert die Natur Auferstehung. Lieblicher rauschen die Bäche, die Blümlein erwachen, die Vöglein kehren zurück. Es ist Ostern – überall!“
„Ist das ein Quatsch?“
„Na aber, erlauben Sie! Das ist doch kein Quatsch.“
„Wieso soll das Quatsch sein? Ist denn Ostern vielleicht nicht das Fest der Auferstehung?“
„Ja, sicher. Aber nicht um die Auferstehung in der Natur geht es so herrlich, sondern um die Auferstehung Jesu.“
„Na aber, erlauben Sie! Was sagen Sie da? Ich höre wohl nicht recht: Auferstehung Jesu?“
„Doch, Sie hören recht. Um die Auferstehung Jesu handelt es sich. Darum, dass der Sohn Gottes von Menschen gekreuzigt und ins Grab gelegt wurde und von den Toten auferstanden ist.“
„Gibt es denn das heute noch, dass Menschen so etwas glauben? Die Wissenschaft…“
„Wie? Was hat die Wissenschaft widerlegt? Hat sie die Auferstehung Jesu widerlegt? Das weiß doch jedes Kind!“
„Nun, dann weiß leider jedes Kind etwas sehr Dummes. Meine Kinder singen aber immer noch: ‚Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich.‘“
„Aber sagen Sie, wieso hat die Wissenschaft die Auferstehung Jesu widerlegt?“
„Ich fürchte, Sie haben fantastische Vorstellungen von der Wissenschaft.“
„Bitte, ich habe vor einiger Zeit gelesen, dass man die Auferstehung Jesu geistig verstehen muss. In seinen Worten lebt er weiter.“
„Das klingt ja ganz nett. Nur haben die Apostel Jesu den größten Wert darauf gelegt, dass er leiblich auferstanden ist. Sie betonen, dass sie ihn betastet haben und dass er vor ihnen gegessen hat.“
„Ach, mein lieber Herr, die Apostel? Was die schon sagen! Die hatten doch nur eine Vision. Die dachten Tag und Nacht dann nichts anderes als an die Auferstehung. Na und, schließlich bildeten sie sich ein, sie hätten Jesus gesehen. Das habe ich auch in einem wissenschaftlichen Artikel gelesen.“
„Komische Wissenschaft! Machen Sie sich doch mal die Mühe und lesen Sie im Neuen Testament nach. Die Jünger dachten gar nicht Tag und Nacht an die Auferstehung. An das Gegenteil dachten sie! Als Jesus aus dem Grab kam, wollten sie es nicht glauben. Sie waren sehr kritisch und sehr nüchtern.“
„Nein, so entsteht keine Autosuggestion. Aber ich kann doch nicht glauben, dass einer von den Toten aufersteht.“
„Die Leute in Jerusalem, die Jesus gekreuzigt hatten, wollten es auch nicht glauben. Nun, sie hatten jedoch ein gutes Mittel, sich zu überzeugen, ob dies auch wirklich so sei.“
„Nun?“
„Sie brauchten nur das Grab zu öffnen und nachzusehen, ob Jesus noch darin liege.“
„Das werden sie sicher auch getan haben.“
„Wäre der Leichnam noch da drin gewesen, hätten sie gewiss ein großes Geschrei erhoben. Davon aber hören wir nichts.“
„Also war das Grab leer. Jesus ist auferstanden!“
„Aber mein lieber Herr, meine… Hätte ich Sie rückständig genannt? Das beweist doch gar nichts. Ich erinnere mich, dass ich darüber einmal einen sehr interessanten Vortrag gehört habe. Da wurde klar bewiesen, dass Jesus nur scheintot war. Und so ist er eben am dritten Tag aus dem Grab herausgegangen.“
„Da haben Sie eine sehr gute natürliche Erklärung für die Auferstehung.“
„Na, Sie haben ja eine ganze Serie von Erklärungen bereit. Wenn die eine nicht zieht, dann holen Sie die nächste hervor. Sie sind ein seltsamer Wahlzucker. Aber nehmen Sie mir es nicht übel: Was Sie da gesagt haben, ist auch Quatsch.“
„Aber bitte!“
„Nein, nichts für ungut. Also passen Sie mal auf: Am Ostermorgen gingen drei rüstige Frauen zum Grabe Jesu, so erzählt die Bibel.“
„Das war ja bekanntlich eine Felsenhöhle, die durch einen schweren Felsblock verschlossen war. Die Frauen wollten den Leichnam Jesu einbalsamieren, wie es damals üblich war.“
„Unterwegs kamen ihnen Bedenken: ‚Wer will uns denn den Stein von des Grabestür?‘ Der Stein war so schwer, dass drei gesunde Frauen ihn nicht wälzen konnten. Und den soll ein Scheintoter weggewälzt haben, und zwar einer, der drei Tage nichts gegessen hat, der eine grausame römische Geißelung und eine Kreuzigung hinter sich hat.“
„Bei der Kreuzigung wurden die Hände durchbohrt, also der Schlagaderbogen verletzt. So ein Leichnam war stark ausgeblutet. So ein Scheintoter reißt keine Felsblöcke mehr um.“
„Außerdem hatten sich ja die Römer vorher überzeugt, dass er wirklich tot war.“
„Nein, nein, mit so primitiven Erklärungen kommen Sie der Sache nicht bei.“
„Ja, mein Herr, dann ist der Leichnam eben auf andere Weise verschwunden.“
„Ich erinnere mich, gehört zu haben, dass die Jünger ihn gestohlen haben.“
„Davon haben Sie gehört?“
„Davon spricht sogar die Bibel selbst.“
„Na, sehen Sie, da klärt sich ja…“
„Ja, ja, es klärt sich. Die Bibel erzählt nämlich, dass die Feinde Jesu diese Lüge ausstreuten, als das leere Grab nicht mehr zu verheimlichen war.“
„Natürlich glaubte das schon damals kein Mensch. Denn bekanntlich wurde Jesu Grab von römischen Soldaten bewacht. Und den Dieb möchte ich sehen, der römischen Soldaten einen Leichnam stiehlt.“
„Hören Sie mal, glauben Sie wirklich an die Auferstehung Jesu?“
„Allerdings. Vor allem glaube ich deshalb daran, weil mir Jesus in meinem Leben begegnet ist. Ich wollte nicht mehr leben ohne die Gewissheit, dass ich einen lebendigen Heiland habe.“
„Auch Sie können ihn in Gottes Wort finden. Lesen Sie doch mal heute am Ostertag die Auferstehungsgeschichte!“
Zirkus Sarrasani
Der Fernsprecher schrillt.
„Herr Pfarrer, in Ihrem Bezirk steht zurzeit der Zirkus Sarrasani. Dort ist vorgestern eine Amerikanerin gestorben. Sie müssen die Beerdigung übernehmen.“
Zeit und Stunde werden ausgemacht.
Am nächsten Tag stehe ich bei der Friedhofskapelle. Dort liegt der Sarg. Eine große amerikanische Flagge bedeckt ihn. Ein Wärter tritt zu mir.
„Wissen Sie, dass es sich um eine Indianerin handelt? Ihr Zelt, in dem sie im großen Zirkuslager wohnte, hat Feuer gefangen. An den Brandwunden ist sie gestorben.“
Eine Indianerin war sie also, Christine. Welche verschlungenen Wege sie wohl von den Steppen Nordamerikas zu uns geführt haben mögen!
Während ich noch alle auf mich einstürmenden Gedanken ordnen will, höre ich draußen Musik. Ich eile hinaus. Ein buntes Bild: Da kommt der ganze Zirkus, marschiert heran. Voran dreifarbige Musikkapellen, dahinter der Zirkusdirektor. Dann kommen die Indianer. An der Spitze der hochgewachsene Häuptling, hinter ihm die anderen Männer und Frauen seines Stammes, große, hagere Gestalten im Schmuck der Adlerfedern.
Dahinter ein endloser Zug: Kosaken und Tataren, Chinesen und Japaner, Rif-Kabylen aus Nordafrika und Cowboys von den Vereinigten Staaten, Neger, Tänzerinnen. Besonders fällt mir eine Reihe junger Mädchen in Reithosen und Sporenstiefeln auf. Ihre Gesichter sind über und über geschminkt und gepudert. Sie alle füllen schwatzend und lärmen die enge Friedhofskapelle. Das Gedränge ist groß.
Die jungen Reitmädchen setzen sich auf die Fensterbank, um von dort oben alles sehen zu können. Dann stellt mich der Zirkusdirektor dem Indianerhäuptling vor. Ein seltsames Bild: Der evangelische Pfarrer in seiner Amtstracht, dem der Indianerhäuptling in voller Kriegsbemalung die Hand drückt.
Aber dann fällt mir meine Leichenrede schwer aufs Herz. Eine solche Beerdigung habe ich noch nie erlebt. Es wird gut sein, wenn ich dem fahrenden Volk ein Wort von der Wanderschaft des Erdenlebens sage und von der großen Ewigkeit. Wird es aber möglich sein?
„Sag auf“, wende ich mich an den Zirkusdirektor.
„Sagen Sie das doch bitte. Verstehen die Leute denn Deutsch?“
„Bewahre“, lacht er. „Auch Englisch verstehen nur ein paar von ihnen. Da sind viele Ausländer darunter, die nur ihre Muttersprache sprechen. Sie verständigen sich mit mir durch ihren englischsprachigen Dolmetscher.“
„Reden Sie nur irgendetwas, es versteht es doch niemand.“
Da kommt eine große Verzagtheit über mich. Das wäre ja sinnlos, wenn ich reden sollte, was kein Mensch versteht. Nun, dann will ich wenigstens zu denen sprechen, die mich doch verstehen müssen: der Zirkusdirektor und der oder jener unter den Deutschen. Sie werden lange nicht in der Kirche gewesen sein. Denen will ich ein Ewigkeitswort sagen.
So lese ich ein Bibelwort und sage ein paar Sätze. Die Versammlung ist schrecklich unruhig. Die Mädchen dort oben auf der Fensterbank beschäftigen sich mit Taschenspiegel, Lippenstift und Puderquaste. Nun, es muss auch langweilig sein, wenn man eine Rede nicht versteht.
Ich spreche von dem traurigen Schicksal dieser Indianerin, die nun in fremdem Land ihr Grab findet. Sie, die immer umherzog durch alle Länder. Ihr alle seid heimatlose Leute, aber euch möchte ich sagen, dass dafür die ewige Heimat zu euch gekommen ist. Unsere Seele ist zuhause, wenn sie bei Jesus ist.
Da geschieht etwas Seltsames: Als ich den Namen Jesus ausspreche, geht es wie eine Bewegung durch die Versammlung. Das ist ein Wort, das sie alle verstehen. Und beim Klang des Wortes Jesus horchen sie auf. Aber ich merke sofort, es ist nicht nur deshalb, weil der Name unbekannt ist. Er hat eine ganz eigentümliche Gewalt.
Die Indianer neigen sich, die unruhigen Asiaten werden ganz still, die Russen schauen mit großen Augen an. Da habe ich nun auf einmal meine Leichenrede gefunden. Sie kann von nun an nur noch ein Wort sein: dieser große Name Jesus.
So sage ich einen Satz nach dem anderen. Es kommt mir nur mehr auf den Namen Jesus an. Immer wieder verneigen sich die Indianer. Ganz still ist es mit einem Mal in der Versammlung. Meine Augen gehen zu den leichtfertigen Mädchen. Verschwunden sind Lippenstift und Spiegel. Der einen laufen die hellen Tränen übers Gesicht, eine andere stützt den Kopf in die Hände. Ob ihre Gedanken wohl zurückgehen in eine reinere Jugendzeit, wo sie zum ersten Mal den Namen Jesus hörte?
Während ich weiter den Namen Jesus verkünde und alle diese Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt vor ihm still werden, ist mir, als erlebte ich schon ein Stück von dem, was am Ende einmal sein wird: dass sich in dem Namen beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.
Das habe ich noch nie erlebt. Nein.
Diesen schrecklichen Morgen im Jahr 1940 werde ich nie vergessen können. Die Gestapo führte einen großen Schlag gegen die evangelische Jugendarbeit in unserer Stadt durch. In meinem Büro erschienen zwei finstere Männer. Sie stöberten in allen Akten, beschlagnahmten verdächtiges Material und fuhren schließlich mit allen Schreibmaschinen davon.
Mir war der Kopf noch ganz benommen, da stellte sich eine weinende Frau Kahmann, die Mutter eines treuen Mitarbeiters, bei mir ein. „Bei uns sind sie gewesen und haben alle Schränke ausgeleert und alle Schubladen umgekippt. Dann haben sie einen Ball gefunden. Da haben sie erklärt: ‚Jetzt haben wir den Beweis, dass hier verbotener Sport getrieben wird.‘“
Sie war noch nicht zu Ende, da kam ein Vater mit einem ähnlichen Bericht herein. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich dachte: „Die müssen böse gehaust haben, wenn ein starker Mann so verstört wird.“
Am Ende waren vierzig bis fünfzig Leute versammelt. Bei allen meinen freiwilligen Mitarbeitern waren die Beamten eingebrochen, hatten verwüstende Haussuchungen gehalten und wilde Drohungen ausgestoßen. Wir haben dann ein Wort Gottes zusammen gelesen – von der Stadt Gottes, die fröhlich bleiben soll, auch wenn die Berge wanken. Darauf haben wir zusammen gebetet. Getröstet verließen sie mich, doch mit Furcht im Herzen, was daraus werden würde.
Nun, es ist eigentlich gar nichts daraus geworden. Vielleicht wollte man den jungen Leuten und ihren Eltern nur ein wenig den Mut zur Mitarbeit im evangelischen Jugendwerk nehmen. Aber eine kleine Geschichte ist im Zuge dieser Sache geschehen, die es wert ist, erzählt zu werden.
Zunächst wurden alle jungen Männer zu einem Verhör bestellt und in langwierigen, quälenden Verhandlungen befragt. Am Ende kam ich selbst an die Reihe. Als verantwortlicher Leiter stand ich mit Herzklopfen wieder in dem Raum, in dem ich schon so viele schwere Stunden erlebt hatte. Lange schaute mich der verhörende Beamte schweigend an. Dann atmete er plötzlich tief auf und sagte – eine tiefe Erschütterung war in seinen Worten zu spüren:
„Jetzt habe ich fünfzig Ihrer Jungen verhört, und dabei ist etwas geschehen, was ich noch nie erlebt habe: Keiner von den fünfzig hat mich angelogen. Alle haben lieber zu ihrem eigenen Schaden ausgesagt, als dass sie eine Lüge gesagt hätten. Dass es so etwas gibt...“
Mir wurde das Herz fröhlich. „Oh, ihr Jungen“, musste ich denken, „ihr habt gewaltiger gepredigt als mancher berühmte Evangelist. Ihr habt das Gewissen dieses verhärteten Mannes angerührt.“
Der Beamte saß schweigend auf einem Stuhl. „Armer Mann“, hätte ich gerne zu ihm gesagt, wenn das möglich gewesen wäre. Denn es streifte mich in diesem Augenblick eine Ahnung, wie furchtbar eine Welt ist ohne Christus.
Aha, aha – Christus oder Antichristus, verzweifelt kämpft dich um mein Haus.
Der furchtbare Fliegerangriff vor zwei Tagen hatte die Stadt in ein Flammenmeer verwandelt. Ringsumher hatten die Menschen den Kampf aufgegeben. Es standen nur noch rußgeschwärzte Mauern, aus denen leise Rauch aufstieg. Es war nicht mehr viel zu retten. Die beiden obersten Stockwerke waren bereits ausgebrannt. Doch wenn es gelang, das Feuer zum Stillstand zu bringen, konnte ich meine wertvolle Bücherei und einige Möbel retten.
Meine Augen waren vom Rauch und der Müdigkeit entzündet, die Hände verbrannt. Mit langen Stangen rissen wir das Feuer auseinander. Wasser gab es längst nicht mehr, da alles verbrannt war.
Plötzlich klingelte das Telefon. Es war fast lächerlich, dass in diesem zerstörten, brennenden Haus, in das von oben der blaue Frühlingshimmel hereinschaute, das Telefon noch funktionierte. Ich stürzte hin und nahm ab.
„Hier die Geheime Staatspolizei. Kommen Sie sofort hierher!“
Ich konnte doch nicht mehr, das war mein letzter Besitz, der zu verbrennen drohte. Wenn die Staatspolizei ruft, muss man sofort erscheinen. Wir erwarten Sie in einer halben Stunde.
Und so saß ich bald im Büro der Gestapo vor einem eleganten Beamten. Er streifte meine verbrannten Kleider nur flüchtig und teilte mir dann irgendeine unsagbar lächerliche Verbotsmaßnahme mit, mit der die evangelische Jugendarbeit ständig gequält wurde.
„Ihre Sorgen möchte ich haben“, entfuhr es mir, und dann erschrak ich selbst über meine Worte. Doch der hohe Herr war sehr gnädig. „Wieso?“, fragte er nur.
„Hier geht eine Welt unter, und Sie entblöden sich nicht, mich wegen so einer Sache hierher zu bestellen?“
Plötzlich wurde er sehr ernst. „Uns ist diese Sache wichtig. Sehen Sie, wir haben Sie genau beobachtet. Dabei haben wir festgestellt, dass Sie keinen Gottesdienst und keine Jugendstunde ausfallen lassen haben. Als Ihre Seele und Ihre Kirchen zerstört waren, gingen Sie in die Keller. Und wenn ein Keller verschüttet war, richteten Sie sich im nächsten ein.“
Ich musste lächeln. „Ja, der Siegeszug des Evangeliums geht weiter.“
Da fuhr er auf: „Und unser weltanschaulicher Kampf geht auch weiter. Und wenn die Welt untergeht ...“
Wir sahen uns in die Augen und spürten in einander eine unheimliche Entschlossenheit. „Damit geben Sie zu“, sagte ich langsam, „dass das Thema dieser schrecklichen Zeit heißt: Christus oder Antichrist.“
„Da gebe ich Ihnen recht. Es geht nur um die Frage, ob Ihr eingebildeter Jesus Christus noch länger die Hirne gefangen halten soll oder ob wir und unsere Weltanschauung herrschen. Darum geht es allein in dieser Zeit. Alles andere ist nur Begleitmusik.“
Ich konnte nicht anders. Ich streckte ihm die Hand hin und sagte: „Wenn uns auch Welten trennen, mit Ihnen verstehe ich mich über alle Köpfe hinweg, die nicht begreifen, um was es geht.“
Dann durfte ich ihm sagen, dass Jesus Christus keine Einbildung ist, sondern lebt.
Als ich nach Hause ging, fiel mir plötzlich mein brennendes Haus wieder ein. Das hatte ich ganz vergessen, und das war gut so. Es ging ja auch nicht um Haus und Besitz. Mein Herz wurde in all meiner Not fröhlich, weil ich einem Herrn dienen durfte, dessen Sieg sicher ist, seitdem er auf Golgatha rief: „Es ist vollbracht.“