Vom Scheitern und verfehlten Maßstäben
Mit dem Stagioristen und dann diese Panne, dieser blöde Unfall, diese Politesse, diese uniformierte Grille, die doch überhaupt nichts anderes tut, als die Windschutzscheiben mit Strafzetteln zu tapezieren – die hat es doch überhaupt nicht verdient. Und dann der Wutausbruch: Türen schlagen, Rausschmiss, Maßstab, Chefredakteur – alles in den Sand gesetzt.
Maßstäbe setzen ist doch Käse, Romadur. Darf ich? Welche Maßstäbe haben Sie denn gesetzt? Darf ich aus meinem Leben erzählen? Ich wollte Klassenbester werden. Mein Maßstab war der Primus, der saß neben mir. Er war mehr die Flagge am Schulschiff, ich gehörte mehr zum Kiel. Aber auch der Tiefgang ist wichtig.
Und beim Aufsatz war es immer dasselbe. Nach dreißig Minuten gab er ab. Und ich zerkaute einen Bleistift, setzte meine ganzen Gehirnganglien in Bewegung, bis mir der Lehrer das Heft aus der Hand riss. Wenn es zurückkam, war es immer dasselbe: Er hatte seine Eins, und bei mir war Sonntag, Feiertag, Heiliger Abend, wenn ein Firminus dieses Machtwerk zierte. Er bekam den Scheffelpreis. Er gehört heute zum diplomatischen Chor in Berlin. Ich bin Rentner von der Alb – das ist der feine Unterschied.
Maßstab Primus – alles in den Sand gesetzt. Maßstäbe setzen ist doch Käse, Harzer Roller.
Und dann wollte ich Virtuose werden. Der Maßstab war Musiker, so wie Johannes Nietzsch, Musiker. Als Bub spielte ich schon die Blockflöte: Mach das A-Loch auf und B-Loch zu. Der Lehrer, der Pfarrer, engagierte mich als Hirte beim Krippenspiel. Ich lag vor dem Altar und spielte herrlich herrliche Weisen. Die alten Damen in der ersten Reihe sagten zueinander: „Schau, wie hübsch der aussieht, und hör, wie falsch der bläst.“
Und dann verlegte ich mich damals aufs Klavierspielen. Meine Finger rasten nur so über der Tastatur – Corelli und Diabelli. Aber es klang wie Spaghetti und Tutti Frutti. Deshalb ging ich dann über zur Geige. Mein Vater hatte ein wunderschönes Instrument gekauft, eingetauscht bei einem Zigeuner gegen eine alte Hose. Ein Meisterinstrument, das hatte die Form einer italienischen Stradivari und den Ton einer Fahrradbremse.
Und wenn ich geigte und geigte, rachte der Hund zum Haus hinaus. Dann verlegte ich mich aufs Posaunenspiel – das tue ich heute noch. Im Fohnwert bin ich allen anderen überlegen. Wenn ich auspacke, packen alle anderen ein.
Aber Maßstab für Dose – alles in den Sand gesetzt. Maßstäbe setzen ist doch Käse, wirklich. Käse.
Vom Traum Jugendpfarrer zu werden und den unerwarteten Wegen
Und dann wollte ich Jugendpfarrer werden. Mein Maßstab war: der Mann für die Jugend. Deshalb studierte ich nicht nur in Tübingen ganz bürgerlich, sondern reiste auch nach Hamburg, um dort in der großen, weiten Welt zu studieren.
Um noch die Krone aufzusetzen, ging ich anschließend in die USA. Mit dem Meistertitel dekoriert, heiratete ich und kam zurück – der richtige Mann für die Jugendarbeit.
Meine erste Stelle war in Bad Urach. Der Dekan stellte sich vor mich hin und sagte: „Du hast in Amerika studiert.“ Ich antwortete: „Ja.“ Er sagte weiter: „Ich habe gehört, du willst Jugendpfarrer werden.“ Ich bejahte. Daraufhin meinte er: „Dann übernimmst du die beiden Altersheime.“
Vor einem Jahr versorgte ich die beiden Altersheime Hausenberg und Hochberg. Es war meine schönste Zeit. So viel Milchkassenschokolade habe ich nie mehr bekommen.
Ich vergesse nicht die Dame in der ersten Reihe, die damals noch kein Hörgerät, sondern ein Hörrohr zum Auseinanderschieben hatte – so eine Art Margen-Katalysator. Sie strickte mir entgegen, doch nach zehn Minuten meiner spannenden Bibelarbeit klappte sie ihr Blechding zusammen, verstaute es in ihrem Handtäschchen, machte die Augen zu und war weg.
Später fragte ich sie, als das ein zweites Mal passierte: „Können Sie mich denn nicht verstehen?“ Sie antwortete: „Wissen Sie, ich verstehe kein einziges Wort, aber Sie sprechen wunderbar.“
Das hoffe ich auch an diesem Abend: Sie sprechen wunderbar!
Maßstab Jugendpfarrer – alles in den Sand gesetzt. Maßstäbe setzen ist doch Käse. Was haben Sie schon für Maßstäbe gesetzt?
Vom großen Fisch und der Hoffnung trotz Enttäuschung
Darf ich aus einem Buch erzählen? Sein Maßstab war der Fischerkönig. Er wollte Fischerkönig werden. Sein Maßstab war der Fisch, der große Fisch. Viele kennen diese Geschichte, ein Meisterwerk der Literatur: Hemingway, Der alte Mann und das Meer.
Jeden Morgen knotet er seinen Kahn los, dann rudert er mit ein paar Schlägen hinaus und wirft die Angel aus. Aber immer fängt er nur kleine Fische, immer nur kleine Fische. Dann kehrt er wieder zurück, müde und zermürbt. Doch er setzt seine Hoffnung auf den nächsten Morgen. Wieder knotet er den Kahn los, rudert hinaus, wirft den Haken aus – und wieder dasselbe Leben. Ein Pendeln zwischen Erwartung und Enttäuschung.
Eines Tages gelingt ihm der große Wurf: Ein Fisch geht ihm an den Haken, ein Riesending! Mit dem hat er ein Leben lang ausgesorgt. Doch dann kommen die Haie. Er kämpft, sticht, schlägt und rudert. Aber die Haie fressen seinen Fisch bis auf die weißen Knochen. Als er abends sein Schifflein in den Hafen bugsierte, hat er nur noch ein Skelett – ein Skelett der Hoffnung am Haken.
So wie wir uns am Lebensboot jeden Morgen losknoten, fahren wir hinaus auf die Höhen des Lebens. Jeden Tag suchen und angeln wir nach Ehre, Liebe und Glück. Abends kommen wir enttäuscht und müde zurück. Das Leben ist ein Pendeln zwischen Erwartung und Enttäuschung – bis zu dem Tag, an dem es passiert: Da geht ein Mädchen an den Anker. Ein Goldfisch, ein Prachtstier, eine Wunderkrake. Mit der habe ich ein Leben lang ausgesorgt.
Und dann kommen die Haie. Wenn er sein Schifflein, sein Eheschifflein, in den Ehehafen bugsiert, hat er nur noch ein Skelett – ein Skelett der Hoffnung.
Maßstab: großer Fisch. Alles in den Sand gesetzt. Maßstäbe setzen ist doch lauter Käse. Was haben Sie schon für Maßstäbe gesetzt?
Vom Glauben und Zeugnis in Antiochia
Darf ich Ihnen aus der Bibel erzählen, was Antiochia ist? Vielleicht wissen Sie auch nicht, wo das liegt. Ich wusste es bis vor wenigen Jahren auch nicht.
Eine Israel-Reise in diese Gegend sparte ich mir aus. Ich sagte mir: Ach, weißt du, diese ganze Gegend schaust du dir vom Himmel aus an. Vom Himmel aus hast du die beste Übersicht über Israel und die umliegenden Länder.
Als mir dann jemand sagte: „Woher weißt du eigentlich, dass du in den Himmel kommst?“, habe ich schnell eine Reise gebucht. Deshalb fuhr ich dorthin. Jetzt weiß ich, wo Antiochia war – nördlich des heutigen Israel.
Dort waren vier Männer. Wissen Sie, kein Männerquartett, wie die lustigen Krähen, auch keine Männerstaffel, die eine Viermal-Vierhundert-Meter-Strecke unter die Füße nahm. Es war auch keine Band, wie die Holy Stones on Tour. Nein, sie wollten Evangelisten werden.
Ihr Maßstab war das Zelt 53. Sie wussten: Glaube ist nicht wie badischer oder württembergischer Wein, der bei der Lagerung immer besser wird. Sondern Glaube ist wie Milch, die bei der Lagerung sauer wird.
Und wie viele Leute kenne ich, die einmal vom Glauben gehört haben, ihn aufgenommen und in sich abgelagert haben – und dort ist er sauer geworden, richtig sauer, gerade gut genug für einen frommen Quark.
Glaube darf nicht abgelagert, sondern muss weitergetragen werden. Zwischen Glaube und Zeugnis steht kein Punkt und kein Komma. Glaube und Zeugnis sind eins.
Leute, die wissen: Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht predige. Das ist die Unruhe dieser Mitarbeiter hier in dieser Stadt. Sie machen das nicht, weil sie Zeit haben, weil sie diesem Hobby frönen oder weil sie nichts anderes zu tun haben, als eben ein Zelt aufzustellen und fromme Sprüche zu klopfen.
Nein, Leute, die wissen, weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige. Leute, die wissen, dass man den Mund nicht halten kann über diese weltbewegende Offenbarung, die in Jesus Christus geschehen ist.
Deshalb war ihr Maßstab Zelt 53. Die Knotenpunkte des Weltverkehrs sollten zu Knotenpunkten des Reiches Gottes werden. Städte wie Smyrna und Milei sollten endlich für diesen Herrn eingenommen werden.
So zogen diese vier los, dieses Evangelistikteam: Paulus, Timotheus, Silas und der Arzt Lukas.
Vom Umweg als Gottes Weg
Und dann hieß es plötzlich, der Weg war versperrt. Erdbeben wie heute, Unruhen wie jetzt in den türkischen Gefängnissen – ob es diese Gegend war oder Kriegsscharmützel, wir wissen es nicht. Der Weg war versperrt. Sie mussten ihren Plan ändern. Sie mussten nach Norden gehen, Richtung Schwarzes Meer. Doch auch von dort heißt es, dass sie nicht weiterkamen: Erdbeben, Kriegshändel, Streit.
Nur ein schmaler Weg nach Nordwesten blieb offen. Diesen wählten sie, und so kamen sie schließlich nach Troas, dem Krähwinkel der ganzen Provinz. Sie wollten Maßstäbe setzen, und jetzt waren sie selbst abgesetzt. Sie wollten Geleise legen für ihren Herrn, und jetzt waren sie selbst auf dem Abstellgleis. Sie wollten Fahne setzen, und jetzt waren sie selbst abgesetzt.
Liebe Freunde, in Troas war eine frustrierte Männerrunde. Maßstäbe setzen – das spürten sie – ist doch alles Käse. Aber hören Sie, wie es weiterging. In jener Nacht schlief Paulus nicht gut, und dann hatte er eine Vision. Eine Erscheinung – aber kombinieren Sie das nicht falsch! Ein Pfarrer, der auf der Kanzel mitten in der Predigt stand, wankte und verschwand hinter der Kanzel, hinter dem Pult. Die Gemeinde erstarrte vor Entsetzen, der Pfarrer war nicht mehr zu sehen.
Nach einigen Schrecksekunden tauchte er wieder auf und sagte: „Liebe Gemeinde, eben hatte ich eine Erscheinung, eine Alterserscheinung, liebe Gemeinde.“ Das war keine Alterserscheinung, das war eine Gotteserscheinung. Und er hörte eine Stimme, die sagte: „Komm herüber nach Europa und hilf uns.“
Dann wurde es ihm klar: Gottes Wille war es, so schnell wie möglich durch Kleinasien zu kommen. Gottes Wille war es, so schnell wie möglich nach Troas zu kommen. Gottes Wille war es, so schnell wie möglich nach Europa zu kommen. Sein Weg, sein Umweg war Gottes Weg. Seine Umleitung war Gottes Leitung. Sein durchkreuzter Plan war Gottes Kreuzplan.
Liebe Freunde, Gott ist nicht der verlängerte Arm unserer Wünsche. Gott ist nicht die simple und geradlinige Antwort auf unsere Fragen. Gott ist nicht der Notar unserer Gedanken. „Ich bin der, ich bin“, sagt Gott, „und meine Wege sind nicht eure Wege.“
Aber dieses Wissen, dass gerade die oft so unverständlichen, steilen und holprigen Wege zum richtigen Ziel führen, müsste uns doch zu denken geben. Prüfen Sie doch einmal nach: Sie sind auf einem Weg, der Ihnen so schwerfällt. Sie sagen, es ist ein Umweg. Ob es nicht doch Gottes Weg ist?
Prüfen Sie nach Ihre Leitung. Sie meinen, es sei eine Umleitung. Sie wollten etwas, und nun sind Sie ganz woanders. Prüfen Sie nach, ob diese Umleitung nicht doch Gottes Leitung ist.
Viele Ihrer Pläne sind durchkreuzt, sie sind kaputt. Sie sind hergekommen mit ihren zerrissenen Plänen und einem zerrissenen Herzen. Prüfen Sie nach, ob das nicht Gottes Kreuzpläne mit Ihnen sind.
Maßstab Zelt 53 war nicht in den Sand gesetzt.
Von Lydia, der Modefachfrau und der Suche nach Sinn
Darf ich Ihnen die Geschichte weiter erzählen? Genau die, die im Text dort angefügt ist.
Sie wollte Modefachfrau werden. Ihr Maßstab war die Haute Couture. Sie hieß Lüttja, und das sagt etwas darüber aus, woher sie kommt. Wissen Sie, eine Person aus Bayern wird Bayern genannt, eine aus Hessen wird Hessen genannt, eine aus Baden wird eine Badenserin genannt. Und sie kam aus Lütjen und wurde Lüttja genannt, genauer gesagt aus Thyatyra. Das war ein weltbekannter Ort.
Pforzheim ist bekannt durch seinen Schmuck, Solingen durch seine Messer, München durch sein Bier, Meißen durch sein Porzellan, und der Thürer war bekannt durch seinen Purpur. Dort wurde Purpur hergestellt. Hunderttausende von Purpurschnecken wurden benötigt, und es brauchte zwölftausend Schalentiere, um fünf Gramm Farbstoff zu erzeugen. Wenn dann Leinen, Wolle oder Seide durch diesen Farbstoff gezogen wurden, dann waren sie nicht mehr einfach Leinen, Wolle oder Seide, sondern jeder begehrte blaurötliche Purpur.
Purpur war teuer. Purpur zu kaufen war unendlich teuer, aber es war schick, Purpur zu tragen. Purpur gesteigert war in. Deshalb sagte sich diese smarte Frau mit ihrem Maßstab: Damit lässt sich ein Lebensunterhalt verdienen, nicht in diesem Schneckendorf Thyatyra, sondern in der Stadt Philippi, dort, wo die römischen Rentner wohnen, die bekanntlich ganz verrückt auf Purpur waren.
So zog sie eines Tages los und eröffnete mitten in der Fußgängerzone ein Stoffgeschäft, sagen wir die Modiboutique Lüttja. Nichts, kein Wort gegen den Verkauf von Luxusartikeln, kein Wort gegen die Ausrottung von Schalentieren, kein Wort gegen die emanzipatorischen Tätigkeiten einer Frau – ein ganzes Jahr lang zu all dem.
Dort hatte sie ihren Platz. Nur am Sabbat, am Sonntag, da nahm sie einen anderen Platz ein, bitte! Das war kein Kellerplatz, um die Wäsche der vergangenen Tage zu erledigen, das war kein Sesselplatz, um endlich einmal die Rechnungen auszustellen, das war kein Sesselplatz, um endlich einmal die Füße hochzulegen. Nein, das war ein Sitzplatz beim ersten Gottesdienst im Grünen. Dort hatte sie ihren Stammplatz.
Warum eigentlich? Warum diese Frau mit dem Maßstab Haute Couture? Sie hatte diesen Maßstab Haute Couture und hatte ihn auch erreicht, aber der Sinn, der letzte Sinn, fehlte. Man kann Maßstäbe setzen, man kann sie verfolgen, man kann sie sogar erreichen. Aber dann fragt man: Wo bleibt denn der Sinn? Warum das alles?
Der Purpur war schön, wunderschön, aber füllt das das Leben aus? Der Schmuck, schön, wunderschön, aber füllt er das Leben aus? Die Kleidung, schön, wunderschön, aber füllt sie das Leben aus?
Lydia suchte, und deshalb saß sie draußen. Dort erlebte sie eigentlich an jedem Sonntag, wie die Torahrolle aufgeschlagen wurde, wie dort über die zehn Gebote gepredigt wurde, über die Maßstäbe im Reich Gottes. Sie wusste, wie wichtig sie waren. Sie wusste: Diese Gebote Gottes sind die Maßstäbe im Reich Gottes, das Grundgesetz, die Mittelstreben auf dem Weg, die Leitplanken, damit wir nicht abstürzen.
Wo kommen wir denn in unseren Familien hin, wenn wir das Gebot nicht mehr kennen, das sagt: Vater und Mutter ehren? Wo kommen wir denn hin, wenn Kinder unter dem Herzen der Mütter einfach abgetrieben werden? Wo kommen wir denn hin, wenn das Gebot „Du sollst nicht töten“ nicht mehr gilt? Wo kommen wir denn hin, wenn jede fünfte, vierte oder gar dritte Ehe in manchen Städten geschieden wird? Wo kommen wir denn hin, wenn die Linie zwischen „mein“ und „dein“ nicht mehr klar ist? Wo kommen wir denn hin?
Diese Maßstäbe sind wichtig. Aber jedes Mal, wenn sie nach Hause ging, da hatte sie in ihrem Herzen eine ungestillte Sehnsucht, eine ungestillte Sehnsucht. Sie sah in dem vielen Rot nur die vielen Verbotsschilder: Du sollst nicht, du darfst nicht, du kannst nicht.
Deshalb kommen auch so viele nicht zum Christentum, weil sie meinen, das hätte alles immer nur mit Verbotsschildern zu tun: Das kannst du nicht, das sollst du nicht, das musst du nicht, das darfst du nicht.
Sie war immer wieder auf der Suche nach dem Sinn, nach dem Sinn des Lebens – bis zu jenem Tag.
Vom Kreuz als neuem Maßstab und geöffneter Herzens
Sie saß wieder dabei, und das Evangelistikteam hatte sich durchgeschlagen. Sofort bekam Paulus das Wort. Doch er predigte nicht langweilig wie die alten Pfarrer, sondern erzählte eine Geschichte.
Er hatte eigentlich immer nur eine einzige Geschichte parat. Diese Geschichte war eine Purpur-Geschichte. Bei den Frauen erzählte er sie, und von Anfang an war diese Frau ganz Ohr. Denn als sie Purpur hörte, war sie elektrisiert.
Er erzählte von einem jungen Mann, der einen Purpur trug. Er war 33 Jahre alt. Nein, er konnte ihn nicht selbst bezahlen – andere hatten ihn für ihn bezahlt. Bevor sie ihm diesen Purpur umhingen, hatten sie ihm den Rücken wundgeschlagen. Damit er noch schöner aussah, setzten sie ihm eine Krone auf den Kopf. Keine Goldkrone, sondern eine Dornenkrone. Die Stacheln trieben tief in die Gehirnrinde ein.
So führten sie ihn durch die Stadt, durch Jerusalem, bis hinaus auf die Müllkippe. Dort rissen sie ihm den Purpur herunter, legten ihn auf ein Kreuz, und dann hing er zwischen Himmel und Erde. Unten standen ein paar römische Soldaten mit ihren Lederwürfeln und einem Lederbecher. Dort würfelten sie, und der mit den meisten Augen hatte den Purpur gewonnen. Wie er strahlte, endlich einen Purpur zu besitzen!
Dann wurde es dunkler, dunkler, dunkler – so wie am 11. August, als eine Finsternis über das ganze Land kam. Dort schrie eine Stimme: „Tetelestai! Es ist vollbracht!“ Im selben Augenblick gab es ein Erdbeben. Im Tempel entstand ein großer Schaden – kein Gebäudeschaden, sondern ein Inventurschaden. Der große Vorhang, der das Allerheiligste von den Leuten trennte, dieses riesige Stück aus Purpur, zerriss von oben bis unten.
Der Frau war das wie ein Blitz in ihrem Körper. Sie konnte ermessen, was für ein Verlust das war. Dann war es, als ob ihr das Herz aufging. Plötzlich wurde ihr klar: So viel ließ dieser Gott sich seine Liebe kosten, dass er den Rücken seines Sohnes blutig schlagen ließ. So viel ließ dieser Gott sich seine Liebe kosten, dass er seinen Sohn ans Kreuz schlagen ließ. So viel ließ er seine Liebe kosten.
Auf einmal sah die Frau in dem vielen Rot nur noch das Rot der Liebe Gottes – nur noch das Rot der Liebe Gottes. Der Mann, der vor Jahren starb, war ja für ihre Schuld und Last mitgestorben. Sie sah eine ausgestreckte Hand, die sich anbot, sie durch das Leben zu führen und sie zu begleiten. Auf einmal wurde das Kreuz zum Maßstab ihres Lebens.
Und heute kann das wieder so sein. Die ausgestreckte Hand Gottes geht durch die Jahrhunderte bis hinein in dieses Zelt. Diese ausgestreckte Hand Gottes streckt sich Ihnen entgegen. Sie ist vor Ihnen in Sichtweite, in Reichweite, und sie sagt: Gib doch deine Last her, gib doch deine Schuld her, gib doch alles her.
All ihre Last, ihre Not, ihre Verzweiflung, ihre Trauer, ihre Krankheit, ihre Depressionen sind dort mit aufgenommen und weggenommen. Gott tat ihr das Herz auf, heißt es dort. Niemand muss heute Abend mit verbittertem Herzen nach Hause gehen. Niemand muss heute Abend mit verstocktem Herzen nach Hause gehen. Niemand muss heute Abend mit traurigem Herzen nach Hause gehen.
Es gibt dieses Wunder des geöffneten Herzens. Man sieht auf einmal den, der vor Jahren starb, aber der für mich gestorben ist, der so viel getragen hat und der auch mich tragen kann und tragen will. Er sagt: „Euer Herz erschrecke nicht und fürchte dich nicht! Dein Herz erschrecke nicht und fürchte dich nicht!“
Das Kreuz ist der Maßstab, der Urmeter, der Leisten, über den alles geschlagen werden muss. Das Kreuz gibt Sinn in unser Leben. Das Kreuz gibt Sinn und bestimmt neu unser Leben – so wie bei dieser Frau.
Vom geöffneten Herzen zur gelebten Gemeinschaft
Wem der Herr das Herz öffnet, dem öffnet er auch das Haus. Die Öffnende war es, die all diesen Leuten Herberge gab. Ihre Ladenstube wurde zur ersten Stätte der Christenheit. Dort lernten die Menschen, dass man sich beim Christsein nicht schämen muss. Vielmehr wird in der Liebe Gottes all meine Last und Not aufgehoben und weggenommen.
Wem der Herr das Herz öffnet, der öffnet auch das Haus. Und wem der Herr das Herz öffnet, der öffnet auch die Hände. Ich sehe die Hände dieser Modefachfrau, wie sie abmessen, wie sie maßen, wie sie formten und wie sie kassierten. Doch jetzt sehe ich diese Hände auf einmal anders: Sie laden andere ein und sind für andere da – helfende Hände.
Wem der Herr das Herz öffnet, dem öffnet er auch die Augen. Und plötzlich sieht man mehr. Ein Rabbi wurde gefragt: „Wann ist eigentlich Tag?“ Ist Tag dann, wenn man ein Haus von einer Hütte unterscheiden kann, einen Baum von einem Strauch oder ein Pferd von einem Esel? Der Rabbi antwortete: „Tag ist dann, wenn ich das Angesicht meines Bruders oder meiner Schwester sehe. Dann ist Tag.“
In meinem Anfang wurde Tag, weil er das Gesicht dieser Politäst gesehen hat. Bei Lydia wurde Tag, weil sie die Gesichter der neuen Geschwister erkannte. Bei Ihnen kann es Tag werden, wenn Sie in Ihren eigenen Kindern wieder die Kinder Gottes sehen – nicht nur auf den Geist bezogen, sondern wieder, wieder ans Herz.
Wem der Herr das Herz öffnet, dem öffnet er auch den Mund. Wenn er Ihnen das Herz öffnet, öffnet er auch Ihren Mund. Lydia ließ sich taufen, das heißt, sie legte ein öffentliches Bekenntnis ab, dass sie nun dem Herrn Jesus Christus gehört. Wenn jemand fragte: „Sind Sie Christin?“, wurde sie nicht mehr rot. Sie wurde zur unverschämten Botin – „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ –, zur unverschämten Botin dieses Herrn. Sie sagte ihr Ja.
Vielleicht haben Sie Ihr Ja schon lange gesagt, in Ihrer Jugendzeit oder irgendwo bei einem Gottesdienst oder einer Bibelstunde. Heute Abend besteht die Möglichkeit, dieses Ja entweder zum ersten Mal oder auch zum wiederholten Mal zu sagen. Denn der Glaube lebt auch von einem Ja, so wie eine Ehe vom Ja lebt. Ich habe zu meiner Frau Ja gesagt, und Sie zu mir. Doch immer wieder sagen wir es einander.
Das Verhältnis zwischen Gott und uns lebt von diesem Ja. Wem der Herr das Herz öffnet, der öffnet auch den Mund. Vielleicht ist heute Abend eine Gelegenheit dazu – nicht spektakulär, sondern ganz einfach.