Herr Präsident, liebe Gemeinde!
Am vergangenen Mittwoch war Schadensbegrenzung angesagt. Vielleicht haben Sie es mitbekommen: Die deutsche Nationalmannschaft ist in Florenz gegen Italien mit 1 zu 4 böse unter die Räder gekommen. Was da auf dem Platz stand, ähnelte zeitweise mehr einem Hühnerhaufen als einer gut eingespielten Mannschaft.
Die Frage des Abends und auch bei den Pressekonferenzen am nächsten Tag lautete: Was kann geschehen, damit aus einer Chaostruppe eine überzeugende Einheit wird? Diese Frage beschäftigt uns auch heute noch.
Einheit oder Chaostruppe – das ist zu allen Zeiten ein großes Thema in der christlichen Gemeinde. Einheit oder Chaos – auch das ist immer wieder eine Herausforderung.
In unserem Predigttext heute Morgen greift der Apostel Paulus genau diese Frage auf: Wie kann unter uns echte Einheit wachsen und gedeihen? Das ist unser Thema heute Morgen: Wie wird unsere Einheit stark?
Und Einheit meint dabei nicht, dass alle irgendwie in ein zwanghaftes Schema gepresst werden, unter Druck gesetzt. Vielmehr geht es um eine organische Einheit, eine Einheit, die von innen heraus wächst.
Übergang vom Epheserbrief zur praktischen Gemeindeeinheit
Und damit machen wir jetzt den nächsten Schritt in unserer Predigtreihe. Letzten Sonntag sind wir in die zweite Halbzeit des Epheserbriefs eingestiegen. Wir hatten gesehen, dass wirklich mit Kapitel vier die zweite Halbzeit beginnt. Der zweite Teil ist ein ganz neuer Abschnitt.
Teil eins, Kapitel eins bis drei, entfaltet die Grundlage der christlichen Lehre: Was heißt es, Christ zu werden? Worin liegt der Reichtum des Christseins? Welche Zukunft erwartet den Christen? Auf welcher Grundlage ist die Gemeinde Jesu Christi aus Juden und Heiden zusammengestellt? Das war der große Teil eins, ein grandioser Überblick über die Grundpfeiler der christlichen Lehre.
Kapitel vier steigt dann ganz neu ein. Wir hatten letzte Woche gesehen, dass Vers eins die Überschrift für den ganzen Teil ist, der jetzt noch kommt, also Epheser 4 bis 6. Die Überschrift für alles, was jetzt noch kommt, ist Kapitel vier, Vers eins. Dieser Vers ist zugleich die Klammer zwischen diesen beiden großen Teilen des Epheserbriefs.
Paulus beginnt: „Deshalb, so folglich, ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid.“ Paulus sagt also: Weil Kapitel 1 bis 3 für euch gilt, darum sollt ihr nun alles daransetzen. Weil ihr Christen werden durftet, weil ihr in Gottes großartigen Plan mit einbezogen worden seid, darum sollt ihr nun wirklich alles, was in euren Kräften steht, daransetzen, dass euer gelebtes Leben von Montag bis Sonntag von dieser Wahrheit Gottes bestimmt, geprägt und durchdrungen wird. Das ist das Ziel.
Rechtfertigung und Heiligung als Grundlage christlichen Lebens
Theologisch gesprochen geht es Paulus hier um den Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung. Die Rechtfertigung wird in den Kapiteln eins bis drei behandelt. Gott spricht mich gerecht. Wenn ich an Jesus Christus glaube, wird mir die Gerechtigkeit angerechnet, die Jesus Christus aufgrund seiner Sündlosigkeit hat. Die Bezahlung, die er durch seinen Tod am Kreuz erworben hat, wird mir angerechnet. Ich werde gerecht gesprochen, obwohl ich in mir selbst nicht gerecht bin. Gott adoptiert mich als sein Kind – das ist die Rechtfertigung.
In den Versen vier bis sechs folgt nun die Heiligung. Das heißt: Der Gott, der mich in seine Familie als sein Kind aufgenommen hat, erzieht mich jetzt. Er lehrt mich, nach seinem Willen und seinen Grundlagen zu leben. Er verändert mich gemäß seinem Willen.
Manfred Siebald hat ein Lied geschrieben, in dem dieser Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung sehr schön zum Ausdruck kommt. In der ersten Strophe heißt es am Anfang: „Jesus, zu dir darf ich so kommen, wie ich bin.“ Du hast gesagt, dass jeder kommen darf. Jeder ist gerufen, sich vergeben zu lassen, alle Schuld. „Kommt“, sagt Jesus, „ihr Mühseligen und Beladenen.“
In der letzten Strophe heißt es dann: „Jesus, bei dir muss ich nicht bleiben, wie ich bin.“ Ich darf zu dir so kommen, wie ich bin, und ich werde Kind Gottes aufgrund des Glaubens an Jesus Christus. Aber bei dir muss ich nicht bleiben, wie ich bin. Du nimmst mein Leben in deine Hand und veränderst mich nach deinem Plan.
Darum geht es jetzt um diesen Zusammenhang. Ab Kapitel vier ist das Thema Heiligung. Paulus sagt: Ihr habt das Größte erfahren, was ein Mensch erfahren kann. Ihr seid in einen göttlichen Adelsstand erhoben worden, der völlig über alles hinausgeht, was ihr euch jemals hättet verdienen können.
Und darum ermahne ich euch nun leidenschaftlich, mit allem Nachdruck, zu dem ich fähig bin – so könnte man es übersetzen – so ermahne ich euch nun wirklich mit ganzer Hingabe, dass ihr dieser Berufung gemäß auch würdig lebt, würdig wandelt. Das heißt, dass ihr euren normalen Alltag so gestaltet, wie es einem Kind des lebendigen Gottes, einem Repräsentanten des Himmels gewissermaßen entspricht.
Dass ihr darin, wie ihr denkt, wie ihr redet, wie ihr handelt, euch klar macht: Ihr seid Repräsentanten des lebendigen Gottes als seine Kinder. So ermahne ich euch nun, dass ihr der Berufung würdig wandelt, mit der ihr berufen seid.
Sagt Paulus: Das ist eure Bestimmung – nicht weniger, nicht weniger! Eure Bestimmung als Christen in dieser Welt ist nicht, euch einmal zu bekehren und dann so einigermaßen leidlich durchs Leben zu gehen. Eure Bestimmung ist es, zur Ehre Gottes schon hier in dieser Welt zu leben. Wandelt würdig dieser Berufung!
Praktische Lebensbereiche und die Bedeutung der Gemeinde
Paulus nimmt sich dann die einzelnen praktischen Lebensbereiche vor, mit denen wir im Laufe einer normalen Woche zu tun bekommen. Er spricht über Ehe, Kindererziehung, das Zusammenleben in der Familie und den Arbeitsplatz. Dabei geht es darum, wie man mit Chefs oder Untergebenen umgeht. Außerdem behandelt er die Frage, wie man in einem Umfeld zurechtkommt, in dem man als Christ eine absolute Minderheit ist und die meisten um einen herum dem Glauben wenig abgewinnen können.
Paulus spricht auch darüber, wie man mit Druck, Ungerechtigkeit und Gemeinheit umgeht, die einem angetan werden. Dabei wird immer wieder ein Grundsatz deutlich: Lehre und Leben gehören zusammen. Der erste Teil des Epheserbriefs umfasst Kapitel 1 bis 3, der dritte Teil Kapitel 4 bis 6. Ohne rechte Lehre fehlt die Orientierung für das Leben. Ohne gehorsames Leben machen wir das, was wir zu glauben behaupten, selbst zunichte. Dann wird unser Christsein zur Karikatur.
Man kann sagen, dass Gott seinen Kindern gegenüber anspruchsvoll ist – ausgesprochen anspruchsvoll. Aber er überfordert uns nicht. Gott ist kein Schinder, der ständig mit einer Peitsche hinter uns herläuft und Dinge von uns verlangt, die uns überfordern. Warum kann Gott das fordern? Weil er alles, was er verlangt, uns selbst schenkt.
Der Kirchenvater Augustin hat ähnlich gebetet: „Herr, gib, was du forderst, und dann fordere, was du willst.“ Das ist der Grundsatz. Gott will uns das schenken. Paulus hatte das schon in Epheser 2,10 gesagt: „Ihr seid Gottes Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, damit ihr in ihnen wandelt.“
Ihr seid Gottes Werk, und er hat schon längst die Wege bereitet, auf denen ihr wandeln sollt. Das ist das Prinzip: Wir sind sein Werk.
Stellen Sie sich vor, eine Familie ist im Restaurant. Am Ende sagt der Vater zu seinem jungen Sohn, als die Rechnung präsentiert wird: „Nun zahl mal!“ Der Sohn erschrickt natürlich. Das ist etwas anderes, wenn der Vater dem Sohn vorher das gut gefüllte Portemonnaie rüberschiebt. Dann kann er locker zahlen, und vielleicht macht es ihm sogar Spaß. So macht es Gott mit uns: Er stattet uns aus. Er gibt uns das, was wir weitergeben sollen.
Deshalb ist es keine Überforderung. Die Bibel spricht, auch wenn es um die praktische Bewährung des Christen geht, niemals von Leistung. Die Bibel kennt keine religiöse Leistung, sondern immer Frucht – etwas, das Gott in unserem Leben wachsen lässt und uns schenkt. Jesus sagt: „Wer in mir bleibt, der bringt viel Frucht, weil ich ihm das schenke.“
Wie diese Frucht aussehen soll, davon handelt der ganze Rest des Epheserbriefs. Der erste praktische Bereich, den Paulus anspricht, ist ausgerechnet die Gemeinde – das ist interessant. Paulus wusste, wie wichtig es für den Reifeprozess des einzelnen Christen ist, in einer funktionierenden Gemeinde zu leben. Wenn ein Christ im Glauben wachsen will, ist eine Gemeinde eine geistliche Heimat von unschätzbarem Wert – eigentlich unverzichtbar.
Paulus wusste auch, dass es für die Ehre Gottes und die Ehre Jesu Christi wichtig ist, dass die Gemeinde funktioniert und ihre Aufgabe wirklich wahrnimmt. Das hatten wir in Epheser 3,10 vor einigen Wochen gesehen. Wozu soll die Gemeinde dienen? Paulus sagt dort: „Damit die mannigfaltige Weisheit Gottes den Mächten und Gewalten im Himmel durch die Gemeinde kund wird.“
Wir hatten gesehen, dass die Gemeinde auch die Aufgabe hat, dass die Mächte in der unsichtbaren Welt die Weisheit Gottes erkennen. Deshalb ist es um Gottes Willen und um des Reifens der Christen willen wichtig, dass die Gemeinde funktioniert, lebt und so lebt, wie Gottes Modell es vorsieht. Das wusste Paulus.
Herausforderungen und Vielfalt in der Gemeinde
Paulus wusste, dass die Gemeinde nicht der vorweggenommene Himmel auf Erden ist. Er wusste auch, dass die Gemeinde nicht immer nur Freude und Sonnenschein bedeutet. Das Zusammenleben in der Gemeinde ist alles andere als ein Selbstläufer – wahrlich alles andere. Es gibt unzählige Fallen, über die eine Gemeinde stolpern kann.
Schon damals war es so, dass in den Gemeinden viele verschiedene Typen zusammenkamen. Sie stammten aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, wie wir heute sagen würden. Menschen mit ganz verschiedenen Lebensgeschichten trafen aufeinander. Sie waren unterschiedlich geprägt, hatten divergierende Geschmacksrichtungen, verschiedene Vorlieben und unterschiedliche Interessen. All diese Menschen kamen gemeinsam in einer Gemeinde zusammen. Das war damals nicht anders als heute.
Auch die Mentalitäten waren sehr verschieden. Manche waren sehr direkt und sagten anderen unverblümt, was sie dachten. Andere waren diplomatischer, wieder andere eher scheu und schluckten vieles in sich hinein, wurden innerlich aber bitter. Das war damals genauso wie heute in unseren Gemeinden.
Wie soll das gut gehen? Man kann sich diese Frage nur stellen. Sicher hat Paulus sich das oft gefragt: Wie soll das funktionieren? Wie können all diese Menschen über längere Zeit miteinander auskommen – nicht nur für ein paar Wochen? Wie sollen sie miteinander klarkommen, ohne sich gegenseitig die Augen auszukratzen? Manche neigen dazu, Streit zu suchen, andere ziehen sich zurück. Wenn es Krach gibt, ziehen sie sich zurück und sagen: „Wenn ihr mich nicht wollt, lasst mich in Frieden. Ich brauche euch nicht.“ Das war damals genauso.
Wer glaubt, dass die christlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert homogener, also einheitlicher, zusammengesetzt waren als heute, lebt einem romantischen Ideal nach. Das war nicht so. Wenn jemand die Gemeindewirklichkeit wirklich kannte, dann Paulus.
Paulus hat viele Gemeinden gegründet. Er betreute und besuchte nicht nur diese, sondern auch andere Gemeinden. Er bildete Mitarbeiter aus und schlichtete Streit in den Gemeinden. Was musste Paulus für Streit schlichten! Und was musste er selbst an Konflikten ertragen? Er war einer der führenden Apostel, und wie oft wurde ihm übel mitgespielt und böse Nachrede gemacht! Wie oft musste er sich gegenüber den Gemeinden rechtfertigen? Es gab sogar halbwegs den Vorwurf, mit der Kollekte sei nicht alles sauber gelaufen. Was musste Paulus alles im Zusammenarbeiten mit Gemeinden hinnehmen! Das war nicht einfach.
Dabei hatte Paulus gelernt: Eine der größten Gefahren für eine Gemeinde, einer der gefährlichsten Hemmschuhe für Wachstum und Entwicklung, für die geistliche Gesundheit einer Gemeinde, ist das Zerbrechen und Zerbröseln der Einheit. Das ist eine Riesengefahr, die Paulus sehr deutlich vor Augen hatte.
Darum ist die Einheit der Gemeinde der erste praktische Punkt, den Paulus hier anspricht. Das ist eine spannende Beobachtung. Der erste Lebensbereich, den Paulus anspricht, ist die Gemeinde. Und das erste Thema, das er im Lebensbereich Gemeinde anspricht, ist die Frage der Einheit.
Mir ist das bei der Vorbereitung noch nie so deutlich geworden wie jetzt: Zunächst geht es um die Einheit der Gemeinde vor Ort. Und, wie viel Segen wurde wohl schon verhindert? Wie viel geistlicher Schaden wurde einzelnen Menschen zugefügt, weil Christen die Einheit nicht gewahrt haben?
Einheit in der Gemeinde als Gabe und Aufgabe
Als ART, also mit unserer Akademie in Marburg, sind wir stets auf Spenden angewiesen. Vor einiger Zeit erhielten wir eine recht substanzielle Spende, die jedoch eine traurige Ursache hatte. Eine Gemeinde in Westdeutschland, die etwa drei Jahre bestanden hatte – Sie kennen diese Gemeinde nicht – hatte sich nach schweren Auseinandersetzungen aufgelöst.
Es waren noch finanzielle Mittel vorhanden, und man überlegte, welchen christlichen Werken man das verbliebene Geld zugutekommen lassen könnte, in der Hoffnung, dass es weiterhin zum Segen für die Sache Gottes, das Reich Gottes, eingesetzt werden kann.
Diese Spende war also eine traurige Spende. Natürlich haben wir uns über die finanzielle Unterstützung gefreut, aber zugleich mit den Christen über den Anlass dieser Spende getrauert. Wie oft und wie leicht zerbricht die Einheit einer Gemeinde! Das ist ein hochsensibles Thema. Gerade mit dem Thema Einheit wird heute besonders viel Schindluder getrieben.
Der Gedanke der Einheit wird oft missbraucht – für bestimmte politische Ziele oder ideologische Zwecke. Denken Sie nur an die ganze Globalisierungsdebatte und daran, wie man versucht, die Religionen zusammenzuführen, um die weltweiten Entwicklungen schneller voranzutreiben. Dabei wird eine Einheit praktiziert, die auf Kosten der Wahrheit geht. Ein ganz heikles Thema.
Doch wissen Sie, die typische Gegenreaktion bei Christen ist oft folgende: Wenn ein Thema missbraucht wird, dann lässt man es lieber unter den Tisch fallen. Man sagt: „Oh, mit Einheit wird so viel Schindluder getrieben, daran wollen wir uns jetzt lieber nicht die Finger verbrennen.“
Das ist genau falsch. Gerade die Themen, die falsch besetzt werden, müssen wir aufgreifen und deutlich machen, was die Bibel zu diesen Themen sagt. Wir dürfen sie nicht meiden oder vor ihnen ausweichen, sondern müssen sie ansprechen.
Genauso ist es mit dem Thema Einheit. Wir müssen fragen: Was sagt die Bibel zum Thema Einheit? Deshalb ist es so wichtig, dass wir zunächst klar sehen, was Paulus zum Thema Einheit sagt und was er nicht sagt. Damit werden wir heute beginnen und in der nächsten Zeit fortfahren.
Paulus sagt zunächst nicht – und ich bitte Sie, das sehr genau zu beachten – in Vers 3: „Bringt nun endlich zustande, dass zwischen euch eine größere Einheit entsteht!“ Sondern was sagt Paulus? „Seid darauf bedacht, die Einigkeit des Geistes zu wahren, durch das Band des Friedens.“
Verstehen Sie? Die wirkliche Einheit in einer Gemeinde können wir nicht organisieren, nicht machen, nicht herbeiführen oder erarbeiten. Paulus sagt, diese Einheit sollen wir bewahren. Das heißt, sie ist bereits vorhanden. Diese Einheit ist uns schon vorgegeben.
Das ist ein Unterschied: Ob mir jemand sagt, ich soll eine schöne Vase zusammenbauen – da würde ich wahrscheinlich mit großen Augen schauen und sagen: „Wie soll das gehen? Das kriege ich nicht hin.“ Oder ob er sagt: „Ich habe hier eine schöne Vase, nimm sie vorsichtig in die Hand und stell ein paar Blumen hinein.“
Gut, meine Frau würde sagen, das kriege ich auch nicht hin, aber ich würde es vielleicht eher hinkriegen. Verstehen Sie den Unterschied? Ob wir etwas herstellen sollen oder ob wir etwas, das uns schon anvertraut ist, bewahren, damit arbeiten, es einsetzen und gebrauchen sollen – sei es eine Vase, ein Auto oder etwas anderes.
So sagt Paulus: Die Einheit hat Gott geschaffen. Es ist die Einheit des Geistes, also des Heiligen Geistes. Das ist der Genitiv der Urheberschaft. Der Heilige Geist hat euch in diese Einheit in der Gemeinde bereits hineingestellt.
Wie das geschehen ist, erklärt Paulus an anderer Stelle, nämlich im 1. Korintherbrief, Kapitel 12. Dort sagt er in Vers 13: „Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft.“
Paulus spricht hier von der Geisttaufe, der Taufe durch den Heiligen Geist. Alle Christen, die zur Bekehrung gefunden haben und den Heiligen Geist empfangen haben, sind durch ihn in die Gemeinde hineingetauft worden. Das hat zunächst nichts mit der Wassertaufe zu tun, sondern ist die Taufe des Heiligen Geistes.
Paulus sagt: Ihr seid alle in einen Leib hineingetauft. Der Heilige Geist hat in euch Wohnung genommen, er hat euch das Verständnis für das Wort Gottes geöffnet, er hat euch als Christen zusammengebunden, euch in eine Familie eingefügt und auf eine gemeinsame Grundlage gestellt.
Die Grundlage dieser Einheit ist die Wahrheit, die gemeinsame Wahrheit, an die ihr glaubt. Frau Pakula hat heute so schön gesungen: „Gesegnet sei das Band, das uns im Herrn vereint.“ Das ist das Band der Wahrheit, der gemeinsam geglaubten Wahrheit.
Was das bedeutet, werden wir nächsten Sonntag sehen, wenn Paulus diese Inhalte in den Versen 4 bis 6 weiter beschreibt: „Ein Herr, ein Geist, wie auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung, ein Leib, ein Geist, und dann ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“
Das ist die Dreieinigkeit: ein Geist (Vers 4), ein Herr (Vers 5), ein Gott (Vers 6). Das ist die inhaltliche gemeinsame Grundlage unserer Einheit. Darüber sprechen wir nächsten Sonntag.
Die Einheit beruht also nicht auf einem pragmatischen Kompromiss, sondern auf der gemeinsam geglaubten Wahrheit. Die Einheit ist zunächst eine Gabe. Wer an Jesus Christus als seinen Herrn glaubt, wird von Gott hineingestellt in die universale Gemeinde Jesu Christi, die in der ganzen Welt lebt, und in der Regel auch in eine Ortsgemeinde.
Aus dieser Gabe wächst eine Aufgabe. Diese Aufgabe besteht jedoch nicht darin, die Einheit selbst herzustellen oder zu organisieren. Paulus sagt in Vers 3: „Seid darauf bedacht, die Einigkeit des Geistes zu wahren.“
Das heißt, setzt euch mit heiligem Eifer dafür ein. „Seid darauf bedacht“ ist ein starkes Verb, das so viel bedeutet wie: Müht euch darum, lasst nichts unversucht, die Einheit, die der Heilige Geist euch geschenkt hat, auszuleben, durchzuhalten, im Alltag zu praktizieren, ihre Wirkung erkennbar werden zu lassen und Zeugnis von ihr abzulegen.
Das meint Paulus, wenn er sagt: Setzt alles daran, die Einheit des Geistes zu wahren, zu leben und zu bewähren. Das ist unsere Aufgabe.
Es ist dem Herrn der Gemeinde, also Jesus Christus, ausgesprochen wichtig, dass wir diese Einheit untereinander leben und praktizieren. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Paulus gerade als ersten Punkt bei der praktischen Behandlung des Themas Gemeinde auf das Thema Einheit zu sprechen kommt.
Der Auftrag an uns ist nun klar formuliert: Seid eifrig darauf bedacht, auch ihr hier in Hannover nichts unversucht zu lassen, damit die Einheit in unserer Gemeinde bewahrt, bewährt und gelebt wird und ihre Wirkung entfalten kann.
Vier Grundhaltungen für gelebte Einheit
Jetzt stellt sich natürlich eine weitreichende Frage, die ganz einfach lautet: Wie soll das gehen? Wie können wir diese Verantwortung angemessen wahrnehmen?
Angesichts all der Schwierigkeiten, von denen ich vorhin sprach, die für die Gemeinde Jesu Christi zu allen Zeiten normal sind, ist es gut, dass Paulus uns mit dieser Frage nicht allein lässt. Worauf sollen wir besonders achten?
Paulus wird hier sehr konkret. Er nennt in Vers 2 vier Qualitäten oder man kann auch sagen vier Grundhaltungen, die wir in unserem Leben kultivieren sollen. Dafür sollen wir beten, dass Gott diese in unserem Leben Wirklichkeit werden lässt. An diesen vier Grundhaltungen sollen wir lernen, sie sollen wir praktizieren und an uns arbeiten.
Man kann sagen: Wenn diese vier Grundhaltungen reifen, dann ist es gut bestellt um die gelebte Einheit in einer Gemeinde. Deswegen wollen wir die restliche Zeit jetzt noch nutzen, um uns diese vier Grundhaltungen kurz anzusehen.
Demut als Grundlage der Gemeinschaft
Wie unsere Einheit stark wird, zeigt Paulus vier Grundhaltungen auf, die wir alle beherzigen und lernen sollen.
Das Erste, was Paulus nennt, steht in Vers 2: In aller Demut sollen wir darauf bedacht sein, die Einigkeit des Geistes zu wahren. Demut ist grundlegend für all die anderen Haltungen, die dann folgen. Wenn man Demut erklären möchte, kann man sagen, dass es sich um eine innere, aufrichtige Bescheidenheit handelt. Paulus meint mit Demut, dass man sich selbst zurücknehmen kann. Demut ist das Gegenteil von Aggressivität. Sie ist das Gegenteil der Haltung, sich selbst behaupten zu wollen oder für sich die entsprechenden Positionen zu beanspruchen.
Deshalb haben wir ja auch in der Lesung zu Beginn des Gottesdienstes gehört, wie die beiden Jünger im Angesicht des Passionsweges, den Jesus gerade ankündigt, an nichts anderes denken können als an ihre Pöstchen in der Ewigkeit. Sie bitten: „Herr, lass uns sitzen zu deiner Rechten und zu deiner Linken.“ Jesus macht dann deutlich, dass das nicht die richtige Haltung ist. Das hat nichts mit Demut zu tun.
Interessanterweise gibt es in der zeitgenössischen griechischen und römischen Literatur kein Wort für Demut. In den Augen der Römer und Griechen war Demut Schwäche. Man musste sich durchsetzen und sich selbst entfalten. Diese Haltung war ihnen so fremd, dass sie das Wort kaum gebrauchten, höchstens negativ, denn sie hielten Demut für Schwäche. Der griechische Begriff wurde möglicherweise erst von den Christen geprägt. Denn die Christen wussten, dass Demut – im Griechischen tapenophrosyne – eine besondere Stärke ist, die besonderen Mut erfordert.
Im Alten Testament gibt es ein hebräisches Wort für Demut. Wissen Sie, von wem es gebraucht wird? Von Mose. In 4. Mose 12,3 heißt es: Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden. Und Mose war kein Mensch, der an Führungsschwäche litt. Er war ein sehr demütiger Mensch in seiner Grundhaltung.
Demut bedeutet, den anderen höher zu achten als sich selbst, oder sich zumindest darum zu bemühen. Paulus schreibt an anderer Stelle, in Philipper 2,3: „In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Das heißt, wenn ich in Demut den anderen höher achte als mich selbst, bemühe ich mich, ihm mit großem Respekt zu begegnen.
Wenn ich dem anderen mit großem Respekt begegnen will, bedeutet das auch, dass ich mich selbst nicht zu ernst nehme. Nicht im Sinne davon, dass ich immer zu meinem Recht und zu meiner entsprechenden Würdigung kommen muss. Demut in der Gemeinde zu praktizieren heißt, dem anderen mit großem Respekt zu begegnen.
Das griechische Wort, das hier steht, macht deutlich, dass es zunächst um die Art und Weise geht, wie ich denke – um meinen Mut, meine Gesinnung, meine Sichtweise. Man sagt ja, jemand hat „guten Mut“. Das hängt mit der Gesinnung, mit der Art und Weise zusammen, an die Dinge heranzugehen.
Gott will in unserem Herzen diese besondere Art des Mutes wachsen lassen: dass wir niedrig von uns selbst denken im Hinblick auf das, was wir erreichen wollen oder für uns beanspruchen. Gleichzeitig sollen wir die Würde und den Wert unserer Mitchristen ungemein hoch veranschlagen.
Demut hat nichts zu tun mit einem krampfhaften Kokettieren mit schwachem Selbstbewusstsein. Manche Menschen glauben, besonders demütig zu sein, wenn sie sagen: „Ach, ich kann ja gar nichts, ich weiß ja gar nichts, ich würde ja am liebsten ...“ Das hat nichts mit biblischer Demut zu tun. Manchmal ist das sogar das Gegenteil, weil jemand so mehr Aufmerksamkeit bekommen möchte.
Demut bedeutet vielmehr, sich freiwillig selbst zurückzunehmen – um des anderen Willen. Das heißt, sich in gewisser Hinsicht selbst zu erniedrigen, bereit zu sein, zurückzustehen und auch ein Opfer zu bringen, dem anderen zuliebe.
Jesus ist das beste Vorbild dafür. Was sagt Jesus in Matthäus 11,29? „Nehmet mein Joch, kommt und lernt von mir, denn ich bin von Herzen demütig.“ Jesus hat das über sich selbst gesagt.
Woran wird diese Demut besonders deutlich? Jesus kam aus der Herrlichkeit des Himmels und wurde in einem armseligen Stall geboren – freiwillig! Jesus war Gottes ewiger Sohn, ausgestattet mit allem Wissen und Können, das man sich vorstellen kann. Und doch sagte er Ja dazu, in einer ganz normalen Zimmermannsfamilie aufzuwachsen.
Jesus stand aller Reichtum zur Verfügung, lebte aber weltlich in relativer Armut. Er predigte in einem geborgenen Boot und starb in einem geborgenen Grab. All das hat er freiwillig hingenommen. Am Kreuz hätte er jederzeit seine Macht ausspielen können, um das Kreuz triumphierend zu verlassen, doch er verzichtete darauf.
Paulus sagt: Er erniedrigte sich selbst. Warum? Um unseres Willen hat er es getan, um uns zu dienen. Das haben wir in der Lesung gehört: „Ich bin nicht gekommen, um mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ Das ist Demut.
Die Frage, die ich mir selbst stellen muss und die auch Sie sich stellen sollten, lautet: Was ist eigentlich meine Erwartung an die Gemeinde? John F. Kennedy sagte einmal: „Frage nicht, was dein Land für dich tut, sondern was du für dein Land tun kannst.“
Für Christen gilt das noch viel mehr in Bezug auf ihre Gemeinde, denn hier dienen wir nicht in erster Linie Menschen, sondern Christus und seiner Ehre. Er hat schon so unendlich viel für uns getan – für jeden von uns.
Deshalb müsste man Kennedys Satz abwandeln und sagen: Mach dir klar, was Christus alles für dich getan hat. Das wird dich dazu drängen, ein wenig davon zurückzugeben und einen Dienst für ihn einzusetzen. Demut heißt dienen.
Gerade auch in Aufgabenbereichen, die vielleicht auf den ersten Blick keinen großen Ruhm bringen. Wenn ich manchmal einfach nur Dinge schleppen muss, die nicht sehr anspruchsvoll sind – aber wichtig für das Ganze. Oder wenn ich in Zusammenhängen diene, wo ich vielleicht auffalle, aber es mich besonders viel Nervenaufwand oder Lampenfieber kostet. Dann will ich das annehmen aus der Hand Gottes und sagen: „Gut, wenn du willst, dass ich das tue, auch wenn es mir unbequem ist, ich will es gern tun um deinetwillen.“
Wenn ich dann mit dir und Mitgeschwistern in der Gemeinde helfen kann, ist Dienen die Haltung, die wirklich versucht, den anderen zu verstehen, ihm entgegenzukommen und ihn zu würdigen.
Von Friedrich von Bodelschwingh berichtet ein älterer Freund des Werkes in Bielefeld – Sie kennen die großen Anstalten von Bodelschwingh. Er war ein wohlhabender Gutsbesitzer mit einem herrlichen Gut in Ostpreußen. Über vier Jahre hinweg hatte er das Werk in Bethel stark gefördert und unterstützt.
Immer wenn er auf seinen Reisen nach Bethel kam, wurde er als Förderer sehr freundlich willkommen geheißen. Dann kam der große Krieg und der furchtbare Zusammenbruch. Der Gutsherr verlor alles, was ihm gehörte. Er musste flüchten und kam nach entsetzlichen Irrfahrten wie ein Bettler irgendwo in der Lüneburger Heide an.
Dort ließ er erst einmal seine Familie zurück und versuchte, von dort aus eine neue Heimat zu finden. Bei einer dieser Reisen kam er nachts zwischen elf und zwölf Uhr in Bielefeld, also in Bethel, vorbei. Er erinnerte sich an die Verbindung und ging zum Pförtnerhaus. Er fragte, ob der Pastor von Bodelschwingh noch zu sprechen sei.
Der Pförtner runzelte die Stirn und sagte: „So spät, ich weiß nicht, ob das noch geht.“ Dann rief er bei Bodelschwingh in der Wohnung an. Bodelschwingh sagte: „Natürlich, er soll sofort kommen.“
Dann stand dieser Gutsbesitzer, der alles verloren hatte, verlegen, zerlumpt, unrasiert und halb verhungert vor Bodelschwingh. Er erklärte mit einem schwachen Lächeln: „Jetzt bin ich selbst ein Bruder von der Landstraße geworden.“
Was sagte Bodelschwingh? Das hat dieser Gutsbesitzer später erzählt, und es hat ihn sehr gestärkt und ermutigt. Bodelschwingh sagte: „Erhalten Sie Bethel und uns Ihre Liebe! Erhalten Sie Bethel und uns Ihre Liebe!“
Er behandelte den verarmten Gutsbesitzer nicht wie jemanden, dem er jetzt helfen muss oder etwas zurückgeben kann von dem, was er früher geleistet hat. Stattdessen sagte er: „Du bist immer noch ein Gebender für uns. Erhalte uns in Bethel deine Liebe. Wir wissen, dass du uns immer noch helfen und dienen kannst, und wir vertrauen dir.“
Diese Haltung hat den Mann in seiner Situation so ermutigt und gestärkt. Bodelschwingh hat sich auf diesen Menschen eingestellt. Das kam ganz von selbst aus ihm heraus, wie er später sagte: „Erhalten Sie uns in Bethel Ihre Liebe auch weiterhin!“
So sollten wir miteinander umgehen. Den verarmten Mann nicht als Bittsteller behandeln, sondern sagen: Du kannst uns trotzdem noch viel geben. Ihn wertschätzen und ermutigen. So hat Bodelschwingh sich ihm gegenüber verhalten und diesen Mann gestärkt.
Liebe Glaubensgeschwister, wenn wir Einheit in unserer Gemeinde wachsen lassen und bewahren wollen, ist es wichtig, dass wir alle die Haltung der Demut immer mehr lernen und uns von Gott schenken lassen.
Wir sollen lernen, uns selbst zurückzunehmen, dem anderen zugewandt zu sein und ihn höher zu achten als uns selbst. Wir sollen die Gesinnung des Dienens immer mehr bekommen, während Stolz und Selbstbehauptung aus unserem Herzen verschwinden.
Der Stolz meldet sich oft in Gedanken wie: „Ich habe mein Recht“, „Es geht um meine Ehre“, oder „Da hat mich jemand nicht gegrüßt“ und „Da bin ich nicht zum Zuge gekommen.“ Das ist unser Stolz, der sich in solchen Dingen zeigt.
Wir sind so, weil wir Menschen und Sünder sind. Aber Jesus will uns verändern und diese echte Demut in unserem Leben wachsen lassen. Das ist das Erste, was ich am ausführlichsten behandelt habe, weil es die Grundlage ist.
Sanftmut als Ausdruck der Demut
Und dann kommt die nächste Qualität, von der Paulus spricht: Er sagt „in aller Demut und Sanftmut“. Wo Demut wächst, da ist die Sanftmut nicht fern.
Sanftmut heißt übersetzt so viel wie Milde oder Freundlichkeit. Wissen Sie, wovon der Begriff Sanftmut abgeleitet ist? Von gezähmten Pferden. Diese besitzen noch volle Kraft, sind aber durch ihren Reiter gezügelt. Das bedeutet Sanftmut: volle Power, gezügelt und kontrolliert. Sanftmut ist also das Gegenteil von Laschheit, von Lahmheit oder Nachlässigkeit.
Sanftmut setzt, denken Sie an das Pferd, Selbstbeherrschung voraus. Das heißt, ich lasse nicht einfach meinen Gefühlen freien Lauf. Wenn ich sauer bin, lasse ich das nicht ungezügelt heraus. Nur der ist stark, der sich selbst im Griff hat – soweit das für uns als Sünder möglich ist. Sanftmut hat sehr viel mit Selbstkontrolle zu tun. Es ist die Behutsamkeit des Starken, der seine Stärke unter Kontrolle hat.
Demut bedeutet, ich achte den anderen höher als mich selbst. Ich gehe mit ihm um in der Gesinnung des Dienens und des Respekts. Sanftmut beschreibt nun die Art und Weise, wie ich das mache. Ich lasse das auch in meinem Verhalten dem anderen gegenüber deutlich werden, vor allem in kritischen oder Konfliktsituationen.
Paulus schreibt einmal an Timotheus: „Ein Knecht des Herrn soll nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich gegen jedermann, der mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist“ (2. Timotheus 2,24). Es gibt also Menschen, die widerspenstig sind und zurechtgewiesen werden müssen. Paulus sagt, ein wirklicher Diener des Herrn soll das mit Sanftmut tun. Er soll sich dabei unter Kontrolle haben, auf seinen Ton achten und versuchen, es so zu sagen, dass der andere es auch hören kann.
Beides hat Jesus selbst von sich behauptet. Er sagte in Matthäus 11,29: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Nehmet auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“ Paulus sagt also: Wenn ihr euch Jesus anseht, nehmt Maß an ihm in der Art und Weise, wie ihr miteinander umgeht.
Wohlgemerkt: Sanft bedeutet nicht, dass ich immer unbedingt leise auftreten muss. Denken Sie nur an die Tempelreinigung, wie Jesus dort mit einem Stock die Leute hinausgetrieben hat und für klare Verhältnisse sorgte. Das stand nicht im Gegensatz zu seiner Sanftmut, sondern er setzte sie gezielt ein. Man könnte sagen, es war ein heiliger Zorn.
Sanft bedeutet also nicht, dass ich immer nur leisetrete. Es bedeutet vielmehr, dass ich von Gott gezeigt bekomme, was dran ist, dass ich mich unter Kontrolle habe und versuche, wo immer es geht, in Milde und Freundlichkeit die Dinge zu sagen, die gesagt werden müssen.
Noch einmal: Sanftmut ist nicht das Gegenteil von Führungsstärke, sondern die Voraussetzung dafür. Nur wer sich selbst im Griff hat, kann auch andere führen. Nur wer seine Gefühle nicht einfach immer freien Lauf lässt, kann sich mit anderen verständigen.
So sagt Paulus: Das soll euer aller Kennzeichen werden – Demut und Sanftmut. Je mehr diese Eigenschaften in eurem Leben wachsen, umso besser ist es für die Einheit in der Gemeinde. Und umso besser seid ihr dann auch für Konflikte gerüstet.
Geduld als Umgang mit Konflikten
Und um Konflikte geht es bei den Qualitäten drei und vier. Das machen wir jetzt zum Schluss noch. Diese letzten beiden Begriffe handeln davon, wie ich auf eine spezielle Situation reagiere, nämlich auf die Situation, wenn es kracht, wenn es Konflikte gibt, wenn es Schwierigkeiten gibt.
Wenn ich vielleicht mit menschlichen Schwächen und mit menschlicher Sünde konfrontiert bin, wenn ich vielleicht selbst unrecht behandelt werde, wenn ich Bösem und Falschem in der Gemeinde begegne, dann brauche ich diese beiden Eigenschaften.
Das Dritte, was Paulus hier sagt, ist: In aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Geduld ist das Dritte. Die meisten von uns meinen ja eher das Gegenteil, nämlich Ungeduld. Das geht bis in unsere Gebete hinein, nach dem Motto: Herr, schenke mir doch Geduld, aber bitte sofort.
Hier geht es aber um Geduld, vor allem gegenüber anderen Menschen und hier in allererster Linie gegenüber den Mitchristen. Man kann den Begriff auch übersetzen mit Langmut oder Ausdauer, den Zorn weit weg sein lassen. Das steckt so dahinter: Langmut, Ausdauer, den Zorn weit weg sein lassen. Das heißt, Geduld erträgt auch Rückschläge mit dem Bruder und mit der Schwester und hält trotzdem an ihm fest.
Wissen Sie, was eine englische Übersetzung für Geduld ist? Natürlich unser "Patience", das ist die gebräuchlichste. Aber es gibt auch noch ein anderes Wort: "Long Suffering". "Long Suffering" als Übersetzung für Geduld heißt, ich bin bereit, lange an dem anderen zu leiden. "Long Suffering" bedeutet, ich bin bereit, lange wirklich manches zu ertragen und zu leiden und trotzdem das Tischtuch nicht durchzuschneiden. Das meint Geduld, einen langen Atem zu haben mit dem, der mir Mühe macht.
Das hat man über Jesus gesagt, in Matthäus 12,19-20, als ein Zitat aus dem Alten Testament: „Er wird nicht streiten noch schreien, und das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Geduld – so handelt Jesus.
Und wohlgemerkt: Geduld bedeutet nicht – und das ist unheimlich wichtig zu unterscheiden – Geduld bedeutet nicht, dass ich lange zusehe, wenn ein anderer Falsches verbreitet. Das ist nicht mit dieser Geduld gemeint, dass ich einfach das Böse sich ausbreiten lasse und darauf warte, na, irgendwann wird Gott schon eingreifen und etwas machen. Nein, das heißt es nicht.
Geduld heißt, ich halte an dem Menschen, an dem Mitchristen fest und versuche erst recht, ihn zurechtzubringen. Schauen Sie: Mose wurde ja gesagt, dass er der demütigste Mensch war. Wie sich seine Demut in Geduld auswirkte, das können Sie bei ihm besonders daran sehen, wie er sich gegenüber der Schwester Miriam verhalten hat.
Miriam polemisierte gegen ihn, weil sie im Verbund mit Aaron seine Autorität nicht akzeptieren wollte. Sie sagte: „Redet denn der Herr allein durch Mose?“ Hier, Aaron, Miriam, wir haben schließlich das gleiche Standing, was soll's! Und dann steht hier eben, Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden.
Dann soll Miriam diese schreckliche Strafe Gottes treffen mit dem Aussatz. Und was macht Mose? Darin zeigt sich seine Geduld als Frucht seiner Demut: Er fleht von Herzen Gott darum an, dass er doch die Miriam schnell wieder gesund machen möge.
Verstehen Sie, das ist Geduld. Er hat sich mit seiner ganzen Leidenschaft bei Gott dafür verwendet, dass er doch die Miriam gleich wieder gesund machen möge. Geduld – Geduld mit dem anderen.
Auch die Art und Weise, wie ich versuche, den anderen zu korrigieren, wenn ich meine, ihn korrigieren zu müssen, soll dann von dieser Grundhaltung bestimmt sein.
Paulus sagt mal in 2. Timotheus 2,4: Weise zu Recht, ja, rede ernstlich zu, ermahne! Aber wie? Und dann geht der Satz weiter: „Mit aller Geduld und Lehre.“ Also gib nicht dem Impuls nach, den anderen runterzumachen, ihm jetzt mal so richtig zu besorgen, jetzt stutz sie mal so zusammen, das muss er jetzt mal hören, ja? Gib nicht deinen Leidenschaften nach!
Und schauen wir: Auch diese Grundhaltung der Geduld finden wir in Vollendung wieder bei Gott, bei Gott selbst. Wenn Gott nicht geduldig wäre, oh weia, da hätte keiner von uns eine Chance, keiner von uns auch nur den Hauch einer Chance, wenn der Herr nicht geduldig wäre mit uns.
Und ein wenig davon sollen wir versuchen, in der Gemeinde untereinander weiterzugeben, wiederzuspiegeln.
Liebe als Fundament des Miteinanders
So, und jetzt haben wir es schon fast geschafft. Wo Demut ist, kann Sanftmut gedeihen. Wo Demut und Sanftmut sind, kann Geduld wachsen. Und Geduld mündet dann in diese letzte Haltung, von der Paulus hier spricht: „Ertragt einer den anderen in Liebe.“
Ich habe das genannt: Duldungsbereitschaft aus Liebe. Seid solche Leute, die einander in Liebe ertragen. Und noch einmal: Das heißt nicht, dass wir, wenn wir überzeugt sind, dass Falsches geschieht, dieses Falsche einfach stehen lassen. Es heißt schon gar nicht, dass ich tatenlos zusehe, wenn einem anderen Unrecht geschieht, und sage: „Ich bin ja so ein geduldiger Christ, ich gucke mal zu, wie dem anderen Böses widerfährt.“ Das ist damit nicht gemeint.
Damit können wir nicht unsere Harmoniesucht, Faulheit oder Feigheit rechtfertigen. Aber es heißt: Wenn mir persönlich der andere Not macht, dann soll ich lernen, diesen Bruder oder diese Schwester in Liebe zu ertragen. Und ich hoffe, dass der andere es genauso lernt.
Wo sich etwas persönlich klären lässt, da sollen wir versuchen, das in guter Art und Weise miteinander zu klären, miteinander zu reden. Aber nicht immer lässt sich alles klären, auch was auf der menschlichen Ebene läuft. Nicht immer lässt sich alles gleich klären. Manchmal kann man ein bisschen etwas klären, aber obwohl man etwas geklärt hat, bleibt einem der andere trotzdem eine Last. Oder man selbst bleibt für den anderen trotzdem in mancher Hinsicht eine Last.
Vielleicht nervt man sich gegenseitig. Vielleicht ist es schwierig, mit den unterschiedlichen Arten klarzukommen. Vielleicht tritt der eine dem anderen auf die Füße, ohne es zu merken. Und vielleicht ist der andere so abweisend und kühl, ohne es zu merken und zu wollen. Manches können wir uns nicht einfach so aberziehen oder abgewöhnen, weder uns noch den anderen. Oder an einem bestimmten Punkt habe ich mich nicht im Griff und schlage immer wieder über die Stränge.
Es kann so viel passieren. Und da sollen wir lernen, wirklich Geduld miteinander zu haben und einander zu ertragen. Paulus sagt einmal über jemanden, der geistliche Verantwortung tragen will, in 2. Timotheus 2,24: „Ein Knecht des Herrn soll freundlich sein gegen jedermann“ – und dann kommt es: „der Böses ertragen kann.“ Wer in einem gemeindlichen Zusammenhang Verantwortung wahrnehmen will, der muss Böses ertragen können, ohne gleich reinzuschlagen.
Dazu gehört auch, dass ich immer wieder versuche, den anderen zu verstehen. Warum hat er sich vielleicht, wie ich meine, so komisch verhalten? Vielleicht hat er eine schlimme Woche hinter sich. Vielleicht ist er gesundheitlich nicht in Schuss und das drückt ihn so, dass er sich schlecht kontrollieren kann. Vielleicht hat er Ärger an seiner Arbeitsstelle, fürchtet, arbeitslos zu werden. Vielleicht hat er diese oder jene Wahrheit aus der Bibel bisher noch nicht gehört oder verstanden. Vielleicht ist er oder sie provoziert worden – durch etwas, vielleicht sogar durch mich oder durch irgendetwas anderes.
Martin Lloyd Jones hat das großartig ausgedrückt. Er sagte: Suche jede denkbare Entschuldigung für diese andere Person, die du irgendwie finden kannst, sei es für ihr falsches Verhalten oder für andere Dinge. Und wenn du überzeugt bist, dass du richtig liegst, dann versuche mehr als alles andere, ihn für deine Position zu gewinnen. Versuche ihn zu gewinnen, aber schlag nicht auf ihn ein, schick ihn nicht weg. Sei nicht geringschätzig und sei nicht ungeduldig mit ihm.
Das ist der Anspruch Gottes, das ist das Ziel. Und wir fragen natürlich: Wie soll das gehen? Paulus sagt gleich, das ist nur durch eines möglich, nämlich durch Agape, durch Liebe. Er sagt: „Ertragt einander in Liebe.“ Diese Liebe, von der da die Rede ist, ist die Liebe Gottes.
Das ist die Liebe, die wir nicht selbst machen können. Das ist die Liebe, die unserem normalen Charakter eigentlich ziemlich fremd ist. Das ist die Liebe, die sich nicht vom Sympathischen anziehen lässt. Also, das ist keine objektorientierte Liebe, bei der ich etwas liebe, weil es schön, lieb oder freundlich ist. Diese Liebe, diese Agape, diese Liebe Gottes, ist bedürfnisorientiert.
Das heißt, sie lässt sich vom Bedürfnis des Anderen anziehen. Gott hat die Welt geliebt, dass er seinen Sohn gab – nicht, weil diese Welt so schön, sündlos oder empfangsbereit für Gott war, sondern weil sie so verloren, verrottet und hilfsbedürftig war. Diese Liebe ist gemeint. Und diese Liebe, sagt Paulus, brauchen wir, wenn wir in dieser Weise miteinander umgehen wollen.
Diese Liebe kann uns nur Gott immer wieder schenken, diese Liebe, die das Wohl des Anderen sucht, auch wenn er mir emotional längst zur Last geworden ist. Und wenn mein Geduldshahn längst zweimal gerissen ist und ich trotzdem wieder anfange, zu verstehen. Das schaffen wir nicht so menschlich. Das kriegen wir nicht hin, auch mit noch so viel gutem Willen nicht.
Aber Gott will uns lehren. Er will diese Früchte wirklich in unserem Leben als Einzelne und als ganze Gemeinde wachsen lassen. Und es ist sehr viel gewonnen, wenn wir das erkennen und wenn jeder für sich und wir alle als Gemeinde miteinander zu Gott bitten und sagen: Herr, schenke uns das! Schenke uns diese Gesinnung!
Schenke uns bitte echte Demut, die den anderen wirklich höher achtet als sich selbst, die bereit ist, sich selbst zurückzunehmen und die diese Grundhaltung bekommt: Wie kann ich dem anderen jetzt helfen? Schenke uns Sanftmut, dass wir lernen, uns zu zügeln, dass wir in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, lernen, uns zu kontrollieren und uns um Freundlichkeit und Milde im Umgang mit dem Anderen bemühen.
Schenke uns Geduld, dass wir dort, wo es zu Konflikten kommt, nicht einfach sagen: „Willst du nicht mein Bruder sein? So schlage ich dir den Schädel ein.“ Und wenn du das jetzt nicht kapierst, dann kapierst du es eben nicht. Sondern dass wir uns wirklich in Geduld um den anderen mühen. Und dass aus dieser Geduld dann auch wirklich die Bereitschaft wächst, einander in Liebe zu ertragen.
Ertragen muss man sich nur dort, wo man einander schwerfällt, wo man sich gegenseitig auf die Nerven geht oder Schlimmeres. Wo wir uns alle prima nett finden und gern zusammenarbeiten – und das ist doch, denke ich, in den häufigeren Situationen so – da müssen wir nicht lernen, einander in Liebe zu ertragen. Das in Liebe Ertragen beginnt dort, wo der andere mir wirklich Not macht, wo es schwer ist und ich vielleicht auch schlucken muss.
Aber der Herr will uns das lehren, und er will uns auch die Demut schenken, die nötig ist, um in Liebe einander zu ertragen.
Letztes Bibelzitat für heute aus dem ersten Petrusbrief, Petrus hat das ganz ähnlich gesagt, 1. Petrus 4,8: „Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe, denn die Liebe deckt auch die Menge der Sünden.“
Mit „die Sünden zudecken“ ist nicht gemeint, Konflikte zu vertuschen oder den Mantel des Schweigens über alles zu breiten, was unbequem ist. Das kann Petrus nicht meinen. Sondern die Liebe deckt auch die Menge der Sünden, heißt: Die Liebe erträgt auch die Menge der Sünden, behandelt sie sanft und versucht, den anderen zu helfen, von dem, was wir als Sünde erkannt haben, wegzukommen.
Die Liebe erträgt den anderen trotz vieler Sünden. Und darauf hoffe ich, dass die anderen mich trotzdem noch lieben, auch wenn ich ihnen gegenüber schuldig werde. Dass die anderen trotzdem zu mir stehen, mich in der Gemeinde achten und als Bruder mittragen, auch wenn ich an ihnen vielleicht schuldig geworden bin.
Wir wollen, dass Gott uns allen das schenkt. Diese vier Haltungen will er unter uns wachsen lassen. Wenn das geschieht, dann werden wir, wie Paulus es hier schreibt, „die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens wahren.“
Das heißt, der Friede, den Jesus uns schenkt – der Friede mit Gott – wird immer bestimmender werden für die Art, wie wir miteinander umgehen. Wir werden immer mehr von diesem Frieden umschlossen sein.
Klar, wir werden auch wieder in Fallen hineintappen. Wir werden den alten Adam in uns spüren. Wir werden mit dieser Gemeinde, wenn Gott es uns schenkt, dass sie noch lange erhalten bleibt, noch durch manche Konflikte und Schwierigkeiten hindurchgehen müssen, bis wir im Himmel angekommen sind. Das ist so.
Aber Gott will es uns schenken, und er kann es schenken, dass es echte Veränderung gibt in meinem Herzen und in Ihrem Herzen. Und dann auch für uns als ganze Gemeinde. Das kann und will Gott schenken.
Das heißt am Schluss: Für die Einheit der Gemeinde ist jeder von uns mitverantwortlich. Das ist nicht nur eine Sache der Ältesten, nicht nur eine Sache der Gruppenleiter oder der Verkündiger, sondern für die Einheit in der Gemeinde ist jeder von uns mitverantwortlich.
Darum wollen wir alle den Herrn bitten, dass er dies immer mehr in uns wachsen lässt: Demut, Sanftmut, Geduld und Duldungsbereitschaft aus Liebe. Amen!
Lassen wir uns jetzt singen das Lied 426: „Herr, wir stehen Hand in Hand, die dein Hand und Ruf verband.“
