Im Zeugenstand Gottes
Vor Jahren stand es als Schlagzeile in einer norditalienischen Provinzzeitung: Grave incidente a Merano. Schwerer Unfall bei Meran. Der VW nämlich, in dem ich hinten saß, war in einer Linkskurve mit einem holländischen Wagen zusammengeprallt. Aquaplaning und abgefahrene Reifen hatten einmal mehr eine Kollision verursacht. Die kleine Spritztour in den Süden war jäh zu Ende gegangen. Gott sei Dank gab es keine Toten, sondern nur Verletzte, die mit Blaulicht und Martinshorn ins nächste Krankenhaus transportiert wurden. Einige Zeit später wurde mir vom Postboten ein Einschreibebrief überbracht, der mit holländischen Briefmarken freigemacht war. "Sie sind als Zeugen geladen", hieß es auf dem Erlass eines Amsterdamer Bezirksgerichts. So reiste ich also in den Norden. Ein Rechtsanwalt holte mich auf dem Bahnhof ab und begleitete mich in die Verhandlung im altehrwürdigen Gerichtsgebäude. Dort bat mich der Richter in den Zeugenstand und fragte: "Sind Sie bereit zu reden? Sind Sie bereit auszusagen? Sind Sie auch bereit, Ihre Aussagen mit dem Eid zu bezeugen?" Ich stockte einen Augenblick. Für Sekunden nahm ich Bedenkzeit. Blitzschnell fuhr es mir durch den Kopf: Wäre es nicht klüger, die Aussage zu verweigern? Wäre es nicht gescheiter, die Worte zu sparen? Wäre es nicht besser, jetzt den Mund zu halten? Wer weiß? Aber dann schlug ich meine Bedenken in den Wind und sagte laut: Ja, ich bin bereit! Ich musste, ich konnte gar nichts anders, ich sagte, was ich gesehen und gehört hatte. Ums Zeuge sein kam ich nicht herum.
Liebe Freunde, wir erhalten heute keine Post eines kleinen Bezirksgerichts. Wir bekommen heute keinen Brief eines unbedeutenden Amtsgerichts. Vielmehr wird uns die Verfügung der höchsten und allerletzten Instanz überbracht: "Sie sind als Zeuge geladen." Gott ruft in den Zeugenstand. Es geht weder um einen Verkehrsunfall noch um die Kollision von zwei Blechautos, sondern um den Zusammenstoß von Gott und der Welt. Am Karfreitag sind sie aufeinandergeprallt. Die Katastrophe war vollständig. Ein Toter blieb auf der Strecke. Es geht um den größten Prozess, der je stattgefunden hat. Es geht um den wichtigsten Prozess, der je verhandelt wurde. Es geht um den entscheidendsten Prozess, der das Schicksal des Menschen besiegeln wird. Und dieser Prozess ist mit der Exekution des Beschuldigten Jesus nicht zu Ende gegangen. Er läuft durch die Jahrhunderte weiter. Jeder neue Tag, den wir erleben, ist Verhandlungstag. Und seit wir getauft und konfirmiert sind, seit wir am Abendmahl teilgenommen und vor dem Traualtar gestanden sind, können wir uns nicht hinausreden: "Das kratzt mich nicht. Das berührt mich auch nicht. Das hat mit mir überhaupt nichts zu tun. Die sollen doch weiterstreiten ohne mich. Nein, wir sind in diesen Prozess verwickelt. Wir werden in den Zeugenstand geladen. Wir haben schon Stellung bezogen. Nun fragt der Richter: "Sind Sie bereit, in Familie oder Schule darüber zu reden, dass dieser Jesus der Herr unseres Lebens ist? Sind Sie bereit, im Amt oder Geschäft darüber auszusagen, dass dieser Jesus der Erlöser unserer Schuld ist? Sind Sie bereit, Ihre Aussagen über Jesus Christus, dem Sohne Gottes, mit dem Eid zu bezeugen?" Wir stocken vielleicht. Wir nehmen Bedenkzeit. Wir wollen es uns noch einmal überlegen. Aber es nützt nichts. Wir müssen. Wir können gar nicht anders. Wir sagen, was wir gesehen und gehört haben. Ums Zeuge sein kommen wir gar nicht herum. Das also meint die Bibel, dass wir nachher nicht nur hinausgehen, sondern hingehen sollen, dass wir nachher nicht nur ein nettes Gesicht zeigen, sondern für Jesus zeugen sollen, dass wir nicht nur im eigenen Verein rotieren, sondern in der Welt votieren sollen. Gott ruft in den Zeugenstand. Damit wir aber dort nicht von allen guten Geistern verlassen sind, gibt er uns seinen guten Geist, nämlich den Geist der Wahrheit, den Geist der Freiheit und den Geist des Trostes.
1. Der Geist der Wahrheit
Vor mir stand also der holländische Richter. Er nötigte mir Respekt ab. Seine Autorität war unverkennbar. Nun hätte ich von meinen Gefühlen erzählen können, die mich am Unglückstag so stark durchwühlten. Die Reise war vermasselt, die wir uns so schön ausgedacht hatten. Der Urlaub war vermiest, den wir alle so nötig hatten. Das ganze Auto war im Eimer. Ich hing ganz tief durch. Aber Gefühle gehören nicht in den Zeugenstand. Nun hätte ich von meinen Gedanken berichten können, die mir am Unglücksort durch den Kopf gingen. Warum sind wir aus gerechnet diese Strecke gefahren? Warum konnten wir keinen trockenen Tag erwischen? Warum mussten wir ausgerechnet mit diesen Asphaltrasern kollidieren? Vor lauter Nachdenken brummte mir der Schädel. Aber Gedanken gehören nicht in den Zeugenstand. Nun hätte ich von Meinungen weitersagen können, die mich am Unglücksauto beschäftigten. Stoßstangen müssen wieder zu Schutzstangen werden. Geschwindigkeitsbegrenzungen müssen besser eingehalten werden. Einfach mehr Rücksicht im Straßenverkehr. Aber Meinungen gehören nicht in den Zeugenstand. Der Richter fragte: Was ist passiert? Nur die Wahrheit ist gefragt. Nur die Wahrheit hilft weiter. Nur die Wahrheit gehört in den Zeugenstand.
Und das ist beim Glauben nicht anders. Vor uns steht der göttliche Richter. Er nötigt uns Respekt ab. Seine Autorität ist unverkennbar. Nun könnten wir von unseren frommen Gefühlen erzählen, die uns etwa am Heiligen Abend so stark durchwühlten, als der Kinderchor bei der Christmette vom Knaben im lockigen Haar gesungen haben. Nun könnten wir von unseren fragenden Gedanken berichten, die uns am Beerdigungstag durch den Kopf gingen, als der Sarg der Mutter langsam der Erde übergeben wurde. Nun könnten wir von unseren religiösen Meinungen weitersagen, die uns beim Anblick von Bhagwans, von Gurus, von Hippies beschäftigten. Aber Gefühle, Gedanken, Meinungen gehören nun einmal nicht an diesen Platz. Der oberste Richter fragt: Was ist passiert? Nur die Wahrheit ist gefragt. Nur die Wahrheit hilft weiter. Nur die Wahrheit gehört in den Zeugenstand. Die Wahrheit aber ist die, dass sich Gott seinen einzigen Sohn vom Herzen gerissen hat, damit wir in dieser herzlosen Welt einen haben, der uns herzlich liebt. Die Wahrheit aber ist die, dass dieser Sohn am Fluchholz von Golgatha verendet ist wie ein Schlachttier, damit wir in dieser verfluchten Welt einen haben, der uns vom Fluch der Sünde freimachen kann. Die Wahrheit aber ist die, dass dieser Getötete am dritten Tag wieder auferstanden ist, damit wir in dieser Todeswelt einen haben, der uns aus dem Grab ins Leben reißen kann. Die Wahrheit aber ist die, dass Jesus Christus die Wahrheit in Person ist. Junge müssen das hören, die mit Sprühdosen an eine Betonwand gemalt haben: "Mich mag niemand." Alte müssen das hören, die durch die Schuld ihres Lebens depressiv und krank geworden sind. Alle sollen es hören, die auf dem Friedhof Erde ihrem Ende entgegen marschieren: Jesu Leben, Tod und Auferstehung ist wahr. Gott ruft in den Zeugenstand mit dem Geist der Wahrheit.
2. Der Geist der Freiheit
Hinter mir saß der holländische Autofahrer als Angeklagter. Er flößte mir Furcht ein. Seine Wut war unübersehbar. Beschuldigte können die Wahrheit nicht ertragen. Mit Belastungszeugen wollen sie nichts zu tun haben. "Der soll bitte ganz ruhig sein!", schimpfen sie. Mir wurde angst und bange. Die Zuhörer standen auf der Seite ihres Landsmannes. Wie ein Fremder fühlte ich mich im Gerichtssaal. Nun hätte ich mein Zeugnis verweigern können: "Hohes Gericht, angesichts der für mich so schwierigen Situation und angesichts der Tatsache, dass wir alle heil davongekommen sind, möchte ich jetzt nichts sagen. Aber nach holländischem Recht stand mir kein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Nun hätte ich mein Gedächtnis verleugnen können. "Hohes Gericht, nach so viel Monaten, die zwischen dem Unfall und heute liegen, kann ich mich an Einzelheiten überhaupt nicht erinnern." Aber ich konnte mich doch nicht selbst belügen. Nun hätte ich die Wahrheit verdrehen können: "Hohes Gericht, der Beschuldigte fuhr im Schritttempo, als ihn eine gewaltige Windböe auf die andere Straßenseite warf." Aber auf Meineid steht Zuchthaus. So schaute ich mich nicht um, gewann die innere Freiheit zurück und sagte das, was ich genau wusste. Der Zeugenstand verlangt freie Leute.
Das ist beim Glauben genauso. Um uns sitzen Leute. Sie flößen uns Furcht ein. Ihre Ablehnung ist oft unübersehbar. Das können die eigenen Kinder sein, wem man seine Hände zum Tischgebet falten will. Das können nette Kollegen sein, wenn man nicht bei allem und jedem mitmischt. Das können teure Freunde sein, wem man aufgrund der Gebote Gottes ein klares und deutliches Nein sagt. Zeitgenossen können die Wahrheit nicht ertragen. Mit Zeugen wollen sie nichts zu tun haben. "Die sollen doch bitte ganz ruhig sein, die sind auch nichts Besseres als wir." Es kann einem angst und bange werden. Die meisten stehen auf der andern Seite. Wie ein Fremder kann man sich im Klassenzimmer, im Büro, mitten in der Abendgesellschaft fühlen, wie ein Fremder. Nun könnte man auch das Zeugnis verweigern oder das Gedächtnis verleugnen oder die Wahrheit verdrehen, aber die Bibel warnt: Lügt nicht wider die Wahrheit! Schaut euch nicht um, dem sie werden euch in den Bann tun. Sagen wir nicht vorschnell, dass dies für unser Jahrzehnt und unseren Breitengrad nicht mehr gelte. Sicher sind die Spielarten des Hasses und die Hitzegrade des Leidens verschieden. Sie richten sich nach der politischen Großwetterlage, die sehr wechselhaft ist. Im sibirischen Arbeitslager und im südkoreanischen Gefängnis sieht es in der Tat anders aus als im schwäbischen Stuttgart. Trotzdem bleibt es dabei, dass der Hass der Welt kein Sonderfall, sondern der Normalfall ist. Ob uns im Großen ein politisches System den Fehdehandschuh hinwirft oder ob uns im Kleinen ein mitleidiges Lächeln trifft, es wird für alle Zeiten dafür gesorgt sein, dass seine Zeugen von einer Atmosphäre der Heimatlosigkeit umgeben sind. Wer aber dennoch nach vorne schaut, den letzten Richter erblickt, seinen Zusagen traut, der bekommt jenen Geist, der einem die innere Freiheit zurückgibt und sagen lässt: "Wir können's ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollen von dem, was wir gesehen und gehört haben." Gott ruft in den Zeugenstand mit dem Geist der Freiheit.
3. Der Geist des Trostes
Neben mir saß der holländische Rechtsanwalt. Er gab mir Mut. Seine Übersicht war unbestreitbar. Er kannte das Recht. Er gab mir Hinweise. Er war bereit, mich gegen ungerechte Vorwürfe zu schützen. So war ich doch nicht mutterseelenallein.
Keiner ist mutterseelenallein, wem er in den Zeugenstand Gottes tritt. Er verspricht den Paraklet, den Tröster, genauer übersetzt: den Rechtsbeistand, den Rechtsanwalt. Er kennt das Recht und Unrecht dieser Welt. Er gibt Hinweise, Einblicke und Durchblicke. Er ist bereit, sich schützend vor uns zu stellen. Wir sind gar nie auf uns selbst gestellt. Niemand muss die schweren Dinge alleine packen. "Wer diesen Herrn zum Beistand hat, findet am besten Rat und Tat." Gott ruft in den Zeugenstand mit dem Geist des Trostes.
Liebe Gemeinde, am 26.Juli 1944 flogen die Alliierten einen heftigen Angriff auf unsere Stadt. Die ganze Innenstadt fiel in Schutt und Asche. Auch unsere ehrwürdige Stiftskirche wurde getroffen und zerstört. Der damalige Stiftsprediger und Prälat Karl Hartenstein versammelte die von außen und innen an geschlagene Gemeinde. In einer Predigt stellte er die Frage: "Was brauchen wir jetzt zuallertiefst?" Dann wies er auf unsere Textstelle und sagte: Wir brauchen den Geist der Wahrheit." Heute, nach über 40 Jahren, ist vieles anders geworden. Die Stadt wurde wieder aufgebaut. Auch die Stiftskirche ist wieder erstanden. In Ruhe und Frieden können wir uns in diesem Gotteshaus versammeln. Aber was ist von innen her zerstört? Wieviel ausgebrannte Menschenleben unter uns? Brauchen Sie nicht das Wort: "Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott"? Wieviel zerrissene Menschen leben mit uns? Brauchen sie nicht das Zeugnis "Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen"? Wieviel niedergeschlagen Menschen leben um uns? Brauchen Sie nicht das Wort: "Er gibt den Müden Kraft und Stärke den Unvermögenden"? Was brauchen wir heute zuallertiefst?
Die Antwort ist dieselbe geblieben. Den Geist der Wahrheit. Den Geist der Freiheit. Den Geist des Trostes. Gott sei Dank sind wir nicht auf andere Geister angewiesen.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]