Die Herausforderung der Umgestaltung durch Jesus
Gerhard Terstegen sagt, dass es unheimlich wehtun und Schmerzen bereiten kann, wenn man sich von Jesus umgestalten lässt. Das ist nicht etwas Erbauliches oder Tröstliches, sondern etwas Verletzendes.
Wir hören aus der Bergpredigt, wie Jesus das meint und wie er in die wunden Punkte unseres Lebens hineingreift (Matthäus 5,38-48).
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das gilt nicht nur im Alten Testament. Unter uns sind Richter nicht nur vom Amtsgericht, sondern auch vom Landgericht und überall. Wie soll man anders Recht sprechen als nach dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn? Nach welchen Kriterien soll man sonst ein Strafmaß bestimmen?
Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Übel nicht widerstehen. Wenn dir jemand einen Streich auf deine rechte Backe gibt, dann biete ihm auch die andere dar. Und wenn jemand dir deinen Rock und deinen Mantel nehmen will, dann lass ihm auch den Mantel. Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei.
Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der dir etwas leihen will.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen. So werdet ihr Kinder eures Vaters im Himmel sein. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr dafür haben? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe?
Darum sollt ihr vollkommen sein.
Das Wort „vollkommen“ kommt vom Hebräischen und bedeutet „ganz“. Es ist das alte fromme Wort, das schon bei Abraham gebraucht wird. Ihr sollt nicht gespalten sein wie Sonntagschristen, die nur mit dem Mund oder nur im Gedanken dem Herrn dienen, sondern ganz – mit eurem ganzen Leben!
Es gibt keine Fehlerlosigkeit, aber eine Ganzheit der Dienstbereitschaft gegenüber dem Herrn, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Die Bedeutung der richtigen Fragestellung beim Bibelverständnis
Wir hören noch einmal unseren Walternleser. Liebe Brüder und Schwestern, es macht unseren Kindern immer viel Spaß, wenn sie das Frage-und-Antwort-Spiel spielen. Dabei gibt es einen ganzen Stapel von Fragekärtchen. Einer legt eine Fragekarte vor, und der andere zieht blind eine Karte aus einem anderen Stapel mit Antwortkarten heraus.
Der ganze Spaß für die Kinder besteht darin, dass Frage und Antwort genau zusammenpassen – wie die Faust aufs Auge. Zum Beispiel: Die Frage „Isst du gern Nudeln?“ und die Antwort „Nein, ich werde gern seekrank.“ Oder die Frage „Fährst du gern Auto?“ und die Antwort „Na danke, ich bin schon satt.“
Genauso gibt es beim Bibellesen immer wieder Augenblicke, in denen Menschen voller Begeisterung entdecken: „Das stimmt ja gar nicht, was hier steht! Das passt ja gar nicht zusammen! Das ist ja unsinnig, was hier steht!“
Das Ganze rührt daher, dass sie dieses Bibelwort mit falschen oder anderen Fragen gelesen haben. Es geht ja nicht darum, dass ich Menschen einfach Bibelworte um die Ohren haue, sondern dass ich frage: Welche Frage hat Jesus hier eigentlich aufgegriffen? Auf welche Frage wollte Jesus in diesem Bibelabschnitt Antwort geben? Was hatte er im Blick?
Lassen Sie mich heute zuerst einmal darüber sprechen: die unpassenden Fragen zu der Antwort, die Jesus gibt. Nicht, dass diese Fragen nicht erlaubt wären oder nicht gestellt werden dürften, sondern dass unser Bibelabschnitt auf diese Fragen einfach keine Antwort gibt.
Das merken wir ja gleich: So kann man nicht leben, so kann man doch nicht leben!
Die Unmöglichkeit, Jesu Forderungen in der Welt umzusetzen
Stellen Sie sich vor, Sie fahren heute Mittag mit Ihrem Auto spazieren. Plötzlich beachtet jemand die Vorfahrt nicht und rammt Ihnen von rechts die ganze Seite des Autos.
Sie steigen aus, verbeugen sich tief und sagen: „Sie brauchen keine Sorge haben, ich rufe keine Polizei. Aber wären Sie vielleicht noch so nett und würden auch die andere Seite noch demolieren? So kann man doch nicht leben in unserer Welt!“
Wo kämen wir denn hin, wenn jemand an Ihrer Glastür klingelt und Sie merken, dass es ein unbekannter Händler ist, der Ihnen einen Kaufvertrag über Zeitschriften andrehen will? Jemand, der nur seinen eigenen Verdienst im Auge hat? Dann sagen Sie vielleicht: „Lieber Freund, ich gebe dir gleich noch 200 Mark extra, weil ich spüre, dass du unlautere Geschäfte machst.“ So kann man doch nicht leben!
Wer von Ihnen nicht das große Glück hat, in einem Einfamilienhaus zu wohnen, sondern mit Hausnachbarn zusammenlebt, die meistens so sind wie Menschen in unserer Welt, der weiß, dass man sich manchmal Respekt verschaffen muss. Es braucht manchmal auch ein deutliches Wort, damit überhaupt eine Kehrwoche gemacht wird und am Samstag wenigstens einmal der Hof durchgekehrt wird.
Es gibt bei uns noch Häuser, in denen man eine Waschküche teilt oder gemeinsam eine Bühne sauber halten muss. Überall gibt es das gleiche Problem des Zusammenlebens zwischen Menschen. Kann man so leben?
Nicht nur in dem kleinen Bereich unserer Wohnungen oder Familien ist das so. Stellen Sie sich vor, ich würde bei meinen Kindern nicht auf den Tisch klopfen – die würden mir auf den Kopf herumsteigen. Vielleicht haben Sie bessere Kinder, aber Sie wissen, wie das ist: Man muss sich doch manchmal Respekt verschaffen.
In den Ordnungen unserer Welt ist es doch unvermeidbar, dass die Polizei in der Neckarstraße Radarkameras aufstellt. Am Ende muss man sogar Attrappen aufhängen, weil, wenn man an einer Stelle ein Foto bekommt, man an fünf anderen Stellen wieder schneller fährt. So ist eben der Mensch.
Damit in dieser Welt überhaupt ein sinnvolles Miteinander möglich ist, braucht man Regeln und manchmal auch Gewalt. Es gibt manche Leute, die in den Diskussionen der letzten Wochen immer gesagt haben, es sei nicht gut, dass man etwas durch Strafgesetze durchsetzen will.
Ich weiß gar nicht, wie diese Leute sich unsere Welt vorstellen. Es ist natürlich traurig, dass wir ein Strafgesetz brauchen, um Mord zu verbieten. Wer viel Einfühlungsvermögen hätte, müsste das nicht machen.
Muss man dem Übel nicht widerstehen, wenn Jesus sagt: „Ihr sollt nicht widerstehen dem Übel“? Wie sieht das für uns Christen aus, wenn wir in unserer Welt einfach schweigen, während Menschen unterdrückt werden? Wenn wir beobachten, wie jemand vor unseren Augen fortwährend getreten wird?
Ist es nicht unsere Pflicht, für die Gerechtigkeit einzutreten? Es ist doch christlich, dem Bösen Widerstand zu leisten. Oder wollen wir einfach nur dasitzen, die Hände falten und sagen: „Ach, lasst alles über uns kommen – das Schlechte, das Gemeine, die Bestechung, die Gewalt, die Unterdrückung“?
So geht es doch nicht. An dieser Stelle ist immer der große Streit um die Bergpredigt entstanden.
Die Grenzen der Bergpredigt im politischen und gesellschaftlichen Kontext
Sie wissen, dass der edle Graf Leo Tolstoi den Gedanken hatte, dass der Staat auf alle Gewalt verzichten sollte. Ihm schwebte ein pazifistisches Friedensreich vor, das uns nur voller Bewunderung und Achtung für so einen Menschen sprechen lässt. Dennoch sagen wir, es ist ein sinnloses Träumen, denn so funktioniert die Welt nicht.
Man kann dem Staat nicht die Machtbefugnis zum Strafen und Richten absprechen. Das sind keine falschen Fragen, doch auf diese Fragen gibt dieser Bibelabschnitt keine Antwort. Ich erkläre Ihnen gern, warum. Nicht jedes Bibelwort beantwortet jede Frage. Schon wenn Sie ein Bibelgespräch führen, entsteht oft diese merkwürdige Verwicklung: Einer sitzt da mit einer ganz bestimmten Not an diesem Abend. Er hört den Bibelabschnitt nur vor dem Hintergrund seiner eigenen Frage und wundert sich, wenn er am Ende keine befriedigende Antwort findet.
Man muss die eigenen Fragen offen auf den Tisch legen. Vielleicht sitzt jetzt jemand da, der sich in einer bestimmten Sache bemüht, weil er die Lebenspläne Gottes nicht versteht. Er hört die ganze Predigt, geht aber enttäuscht weg, weil er keine Antwort auf seine Fragen bekommt.
Ich möchte Sie bitten, einmal die Frage aufzunehmen, die Jesus hier in der Bergpredigt beantworten will. Es geht nicht darum, wie man diese Welt erhält. Das ist die Frage, die unsere Richter bewegt: Wie kann man die Welt einigermaßen über die Runden bringen? Richter meinen nicht, dass sie die Welt unbedingt verbessern, sondern dass sie die mindesten Ordnungen für alle Menschen möglichst gerecht und mit der besten Gleichheit verteilen können.
Diese Frage bewegt Menschen, wenn sie in ihren Häusern und Familien Ordnungen schaffen. Dann fragen sie sich, wie sie möglichst gut über die Runden kommen. Das war aber nicht Jesu Frage.
Jesus hat dem Staat dieses Recht nie abgesprochen. Er sagte deutlich: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist." Er übte auch keine billige Kritik am römischen Weltreich mit seinen Stärken und Schwächen. Als er selbst verurteilt wurde und jemand ihm ins Gesicht schlug, wäre das der Moment gewesen, an dem Jesus die andere Backe hätte hinhalten können. Stattdessen fragte er sehr deutlich und konkret: "Habe ich übel geredet? Beweise, dass es böse ist! Habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?"
Wir denken auch daran, dass der einflussreichste Apostel des Neuen Testaments, Paulus, das römische Recht ungeniert in Anspruch nahm und sich als römischer Bürger auf das Berufungsrecht beim Kaiser berief. Ob ihm das nicht eine Anfechtung war und ob er es so hätte machen sollen, sei dahingestellt. Es gibt keine Worte der Kritik dafür.
Ich glaube nicht, dass Christen die Ordnung der Welt sabotieren sollten. Uns muss daran liegen, dass auch brüchige und fehlerhafte Ordnungen der Welt erhalten und respektiert bleiben.
Die Unmöglichkeit, die Bergpredigt als gesellschaftliches Programm umzusetzen
Ja, aber jetzt kommen wir ganz vom Thema ab. Wie wird das denn jetzt auf einmal? Sehen Sie, die Einwände in der Bergpredigt sind interessant, weil jeder Mensch aufbraust und sagt: So kann man nicht leben, so kann man nicht leben. Warum kann man eigentlich so nicht leben? Ja, das kann kein Mensch halten, so kann keiner von uns sein. Wo käme man denn da hin?
Mir ist erstaunlich, wenn Jesus anfängt zu reden, wird aus unserem Mund ausgesprochen, wie unheimlich wir sind und wie unheimlich die Welt ist, in der wir leben. Wenn Sie die Diskussionen heute um die Gewalt verfolgen, die ja unter jungen Christen, auch unter jungen Theologen, wieder eine große Rolle spielt – Theologie der Revolution –, dann heißt es oft: Man muss nicht gewaltsam die Welt verändern. Dann ist es immer wieder erstaunlich, dass alle sagen: Aber wir dürfen die Gewalt nicht richtig gebrauchen.
Ich denke an einen jungen Theologiestudenten, der sagt: Wir gebrauchen nur am Anfang Gewalt, nachher wollen wir es auch gewaltlos machen. So leben sie in einem furchtbaren Zwiespalt zwischen Gewaltanwendung und Gewaltlosigkeit.
Ich denke an das Wort eines Professors, der sagt: Gewalt ist ein Teufelskreis, aber man muss einmal in diesen Teufelskreis hinein und diesen Teufelskreis sprengen. Ein guter Vorsatz. Es sind immer Menschen, die in unseren Tagen recht kühn und mutig sagen: Die Welt steht in einem furchtbaren Teufelskreis. Das sind Menschen, die noch gar nicht viel vom Evangelium begriffen haben. Sie geben zu, dass Gewalt ein Teufelskreis ist.
Bei den schwierigen politischen Friedensverhandlungen – was denken Sie, wenn da einer sich nicht alle Hintertüren offenhält im Nahost oder in Vietnam? Dem wird ja das Fell über die Ohren gezogen. Wenn nicht einer schon wieder geheim seine Waffen beschafft und wenn einer nicht schon wieder an den besten Waffensystemen arbeitet, der ist doch verloren.
Aber merkwürdig ist, dass wir das gar nicht offen zugeben wollen: Wir leben in einer Welt der Gewalt. Nicht nur in der großen Politik, sondern auch bei uns – wenn es um unsere Karriere geht, im Beruf, wenn es um unsere Familien geht, um unsere Rechte, in unseren Wohnungen oder wo wir mit anderen Menschen zusammenleben.
Warum reden wir vom Teufelskreis? Warum reden wir nicht sehr nüchtern davon, dass man sich in der Welt der Gewalt bedienen muss?
Es gibt da immer wieder Leute, die reden von der Liebe und sagen: Ja, aber man muss doch auch Nächstenliebe halten. Erlauben Sie mir, dass ich das jetzt einmal lächerlich mache. Wenn ich meine, dass Jesus mit diesen Worten etwas aufspießt, dann die komische Moral unserer Welt.
Man bedient sich der Gewalt, man redet schüchtern und keusch vom Teufelskreis der Gewalt, obwohl man sie tüchtig mitbedient, und dann redet man von Liebe und deckt alles fröhlich zu. Das ist scheinheilig.
Ja, wir müssen doch die anderen lieben, wir müssen uns doch für die armen, entrechteten Menschen einsetzen. Was ist das für eine merkwürdige Flucht vor der eigenen Gewaltanwendung?
Ich kann Neger in Nordamerika auch lieb haben. Das ist leicht, die sind genügend weit weg, und ein Ozean liegt dazwischen. Ich kann mich sehr stark machen für Südafrika, das ist wirklich ein Problem, aber mir tut es nicht weh, und es berührt meinen Kreis nicht. Das tastet mein Leben nicht an, da vergebe ich mir überhaupt nichts.
Oh, ich habe so Angst, dass wir immer von Liebe reden, gerade da, wo es darum geht, dass wir unser eigenes Leben unangetastet lassen.
Es ist so eine Mode bei uns, dass gerade alles Reden von Liebe und von Freundlichkeit nur wie eine dünne Lackschicht ist.
Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Kultur und die Notwendigkeit göttlicher Ordnung
Über Pfingsten war ich zusammen mit Walter Lach bei einer dreitägigen bayerischen Glaubenskonferenz. Dort hatten wir die Aufgabe, gemeinsam Bibelarbeiten zu halten. Es hat mich tief beeindruckt, wie Walter Lach Bibelstellen auslegte und diese mit Zitaten moderner Kulturforscher belegte.
Diese Forscher sagen, dass selbst die modernste kulturelle Erziehung des Menschen nur eine dünne, schwache Schicht ist. Im Grunde bleibt der Mensch immer im Tova Bohu, dem Urzustand der Welt. Er lebt auf einer sehr dünnen Schicht. Wenn diese Schicht durchbrochen wird, kehrt das Chaos in ihm zurück. Dann kommen alle Urkräfte wieder hervor. So haben viele Menschen es in der Kriegsgefangenschaft erlebt: Wenn es plötzlich nur noch um die elementarsten Wünsche zum Leben geht, zeigt sich der Urmensch, der alles niedertrampeln kann.
Sagen wir es offen: Das ist das Gesetz unserer Welt. Gewalt kann nur durch Ordnung gebändigt werden. Übrigens findet sich dieser Gedanke auch in der Bibel und wird dort nicht abwertend dargestellt. Im Noah-Bund, im 1. Mose 9, wird gesagt, dass die Welt nur durch Gewalt erhalten wird und durch Gewalt bestehen kann.
Im Neuen Testament wird erneuert, dass alle Regierungen dieser Welt – so schwierig sie auch sein mögen – eine Ordnungsfunktion erfüllen. Paulus spricht dort vom neronischen Staat, der später Christen verfolgte. Trotzdem betont er, dass auch diese Obrigkeit vor Gott eine Ordnungsfunktion hat. Jeder Staat erfüllt mit seiner Gewaltanwendung auch eine Ordnungsfunktion.
Wir Christen wissen das, denn wenn diese Ordnungsfunktion wegfallen würde, wäre die Tür für Schrankenlosigkeit und Chaos weit geöffnet.
Das Erste, was Jesus in dieser Sache nicht beantwortet, ist die Frage nach dem Noah-Bund und den Notordnungen unserer Welt. Darüber kann man viel reden: Wie die Welt erhalten wird und wie man sie über die Runden bringt. Doch das war nicht die Botschaft Jesu.
Die persönliche Herausforderung: Licht und Salz in der Welt sein
Wie kommen wir weiter? Nun, der zweite Punkt lautet: Worauf zielt Jesus?
Jesus war eines immer wichtig, wenn er mit Menschen sprach: Wie kannst du in dieser furchtbaren Welt des Teufelskreises, in der wir alle gefangen sind, Licht und Salz werden? Er sprach dabei immer nur mit Einzelnen. Wie kannst du anderen Menschen Heil und Freude bringen?
Jesus beschäftigte sich nicht mit den Politikern seiner Zeit, sondern sprach mit Menschen, die sich seiner Botschaft öffneten. Das ist heute und auch morgen für uns eine große Sache: Jesus sagt, ich habe eine Botschaft an euch.
Ein englischer Journalist schrieb ein Buch über den Erweckungsprediger John Wesley. Er sagte, dass John Wesley mit seiner Erweckungspredigt, in der er Menschen zu Jesus führte, in England das bewirkte, was in Frankreich nur die Französische Revolution schaffte. In England wurden durch ihn Kinderarbeit und Sklavenarbeit abgeschafft und Sozialgesetze eingeführt. Er öffnete den Menschen die Augen dafür, dass sie als veränderte Menschen etwas bewirken können.
Deshalb liegt Gewalt nicht darin, andere mit Gewalt zu beherrschen, sondern Jesus dreht die Sache um: Wenn Heil und Freude entstehen sollen, musst du an dir selbst Gewalt anwenden.
Wenn Sie mir oder dem Evangelium nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens Karl Marx. Er sagt, die schwierigste Frage überhaupt sei die Emanzipation des Menschen vom Egoismus. Oder auf Deutsch: die Befreiung des Menschen von seiner Selbstsucht.
Wenn Sie alle Systeme dieser Welt umgestaltet haben, gerecht, menschenfreundlich und sozial gemacht haben, steht nach Karl Marx die Hauptaufgabe noch bevor. Wenn Sie heute junge Marxisten zum Gespräch anhören, werden Sie immer wieder feststellen, dass sie verstehen, dass das Problem darin besteht, wie man den Menschen so verändert, dass er anderen Freude bereitet.
Sehen Sie, hinter der Bergpredigt steht nicht die Frage, wie Sie die Welt erhalten können – das können Sie nicht. Das hat Tolstoi missverstanden. So wird die Welt untergehen, und kein Staatsmann wird das übernehmen. Aber die Botschaft ist ernst gemeint.
Wenn alle Christen auf der Welt, wenn alle Menschen, die heute hier in diesem Gottesdienst wären, in der kommenden Woche dieses Gesetz leben würden, dann würde für viele Menschen ein glücklicher Tag anbrechen, an dem sie mit anderen zusammentreffen. Darum geht es doch. Wie würde unsere Welt plötzlich aussehen?
Aber seien Sie ehrlich: Das können wir doch gar nicht! Probieren Sie es doch einmal aus, probieren Sie es einmal mit der Liebe!
Die wahre Bedeutung der Liebe im Neuen Testament
Jetzt darf ich noch einmal ausholen und erklären, was das Neue Testament und Jesus mit der Liebe meinen. Ich habe schon zuvor erwähnt, dass man Liebe immer hört und meint, Liebe heiße, sich für Entrechtete in Südostasien, Südafrika oder Nordamerika einzusetzen.
In der Bibel gibt es einen Apostel, der wie kein anderer von der Liebe gesprochen hat. Sie wissen, wer das war: Johannes. Er hat fünf Bücher geschrieben – drei Briefe, eine Offenbarung und ein Evangelium. Fortwährend spricht er von Liebe. Wenn man das aber genau philologisch untersucht, stellt man fest: In all diesen fünf Büchern meint er, wenn er von Liebe redet, nie die Liebe zehntausend Kilometer weit entfernt. Er meint die Liebe zum Feind, er meint immer den Bruder, der neben mir sitzt.
Denn das Schwerste an der Liebe ist, den anzunehmen, den ich nicht einmal riechen kann, der jetzt neben mir auf der Bank sitzt. Johannes hat immer von der Gemeinde gesprochen, von denen, mit denen wir zusammentreffen. Es ist leicht, ferne Menschen zu lieben. Es ist leicht, die Armen zu lieben, die ich im Augenblick gar nicht sehe. Aber den, der jetzt da ist, mit dem man zusammenlebt als Christ in einer Gemeinschaft – warum ist es denn in unseren landeskirchlichen Gemeinden so kühl?
Weil wir dieses Geheimnis der Botschaft des Johannes noch nie begriffen haben: Liebe gibt es nie anders. Sie erfahren Liebe nie anders als zuerst über die Bruderliebe. Wenn das Wort Bruder und Schwester für Sie keine Bedeutung hat, dann glaube ich, dass das Wort Liebe für Sie überhaupt keine Bedeutung hat.
Stellen Sie sich mal vor, was das bedeutet: Da sage ich ja, der geht mir doch auf den Wecker, wenn ich den schon sehe. Wie soll ich den lieben können, der mit mir dauernd zusammen ist? Immer zuerst von der Bruderliebe zu sprechen – das ist das Schwierige. Dort können Sie Liebe einüben. Dort vergeht Ihnen die Lust, von der Liebe zu reden.
Mit unseren Geschwistern, mit unseren Kindern, mit der Liebe dort muss man doch einfach anfangen. Und man merkt plötzlich, da fehlt es doch.
Die Schwerkraft der Sünde und die Befreiung durch Jesus
Ich möchte Ihnen ein Bild verwenden. Ich habe hier einen Geldbeutel, in dem nur Münzen sind. Aber dieser Geldbeutel hat Schwerkraft. Wenn Sie ihn hochheben, fällt er herunter. Das ist die Schwerkraft des Geldbeutels.
Wir leben in einer Welt, in der es ganz selbstverständlich ist, dass wir gar nicht wirklich lieben können. Die Schwerkraft zieht uns immer wieder hinein in diese Verstrickung. Wir wollen das gar nicht. Sie können aus der Kirche rausgehen. Doch bevor Sie Ihr Mittagessen verschlungen haben, werden Sie merken, dass bereits ein Missgeschick passiert ist.
Ich habe mir vorgenommen, im Augenblick gar nicht daran zu denken. Doch dann kam irgendein dummer Straßenbahnschaffner oder jemand, der mir gerade über den Weg lief. Am nächsten Rotlicht ist irgendein doofer Heini nicht rechtzeitig losgefahren und drückte auf die Tube. Schon bin ich wieder drin in dieser Verstrickung, die mich hinunterzieht.
Auf einer Pfingstkonferenz, bei der ich war, hat Walter Klach ein eindrucksvolles Beispiel verwendet. Ich möchte es hier einfach als Reisemitbringsel für Sie mitbringen. Er sagte: Wenn diese Schwerkraft mich hinunterzieht, stellt sich die Frage, wie man Schwerkraft aufheben kann.
Er benutzte das Bild von Raketenstarts auf Cape Canaveral, wie man Raketen in den Weltraum schießt. Mit zunehmender Entfernung von der Erde wird plötzlich die Schwerkraft aufgehoben. Dann kann man die Gegenstände nehmen, und sie werden nicht mehr nach unten gezogen.
Er sagt weiter: Wenn Jesus sagt: „Ein neues Gebot gebe ich euch“, dann meint er nicht, dass es neu wäre. Von Liebe haben schon alle gesprochen. Er sagt vielmehr: Ich kann euch in dieses Raumschiff hineinnehmen – in meine Liebe, so wie ich euch geliebt habe. Dort werdet ihr erleben, dass die Schwerkraft der Sünde aufgehoben wird.
Die Dinge dieser Welt ziehen mich immer wieder herunter. Solange ich lebe, bin ich anfällig für Ehrverletzungen. Solange ich lebe, bin ich anfällig für Menschen, die nicht das Recht gelten lassen.
Doch erst wenn ich mich ganz in diesen Kampf hineinknie, den Jesus für mich ausgefochten hat – der nicht widersprach, als er gescholten wurde, der nicht drohte, als er litt –, dann merke ich: Jesus hat auch, wenn er einem Menschen auf das Recht hingewiesen hat, nicht die Rechtsordnung dieser Welt aufgelöst.
Er hat vielmehr deutlich gemacht, dass es nicht um mein Recht geht, nicht um meinen Egoismus. Jesus hat das Ganze eingesetzt, damit ich die Freiheit zum Leben habe und mich nicht an den schnöden Dingen des Lebens festhalte.
Es war ihm wichtig, dass du dich nicht in Paarfragen und Paarrechthabereien verstrickst. Dafür hat er gelitten. Deshalb kannst du nicht in einen Tag hineingehen, ohne dich in diese Liebe Jesu hineinzustellen. Du musst dir das ganz vor Augen halten.
Diese Liebe reißt dich mit voller Schubkraft mit. Alles andere wird unwesentlich, wenn du sagst: „Wenn ich nur heute bei Jesus geborgen bin.“
Ein Zeugnis der Liebe in schwerer Lebenslage
Ich denke an eine Frau, die das Allerschwerste durchlitten hat. Ihr Mann hat sie über viele Jahre hinweg regelmäßig verlassen und kam die ganze Nacht nicht zurück. Sie wusste genau, bei wem er war. In dieser Nacht hat sie nicht einmal die Augen zugemacht. Stattdessen ist sie aufgestanden und hat die Bibel gelesen – aus nur einem Grund: Wenn ihr Mann morgens kam, wollte sie ihm den Kaffee machen und ihm ihre Liebe spüren lassen.
Wissen Sie, das können Sie nicht. Wenn derjenige hereinkommt, könnten Sie ihm ins Gesicht springen, falls Sie überhaupt noch ein Gefühl als Frau haben. Das geht Jahr um Jahr, Tag um Tag so weiter.
Wie sie dann sagte, sei ihr am meisten die Schallplatte der Bachkantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ ans Herz gewachsen. Diese Kantate stammt aus Gottes Liebe heraus. Nicht, weil man das kann oder weil jemand sagt: „Ich will ein Wunder haben“ usw.
Nach der Ansprache von Walter Klach kam ein alter Mann zu ihm und sagte: „Das müssen Sie mir diktieren, das muss ich immer wieder lesen können.“
Doch das hilft Ihnen auch nichts, wenn Sie es immer wieder lesen können. Sie können das Bild nicht in sich behalten. Stattdessen müssen Sie so von Jesus freigemacht worden sein, dass Sie sagen: Wenn alle meine Lebenspläne durchgestrichen werden, dann darf nur noch von meinem lebendigen Stück die Liebe Jesu ausstrahlen.
Was wir der Welt wirklich zu bieten haben
Noch kurz: Wir sind am Ende unserer Zeit. Ich fasse mich deshalb kurz.
Was haben wir der Welt zu bieten? Das ist der dritte Punkt. Sie verstehen, ich muss noch einmal ausholen, denn Jesus will nicht darauf antworten, wie unsere Welt erhalten wird. Das war ihm nicht wichtig. Das zweite war ihm wichtig, worauf er zielt. Nun zum dritten Punkt: Was haben wir der Welt zu bieten?
Sie haben der Welt unheimlich viel zu bieten. Wir denken oft, unsere Geistesblitze seien das, was wir der Welt geben können. Oder wir glauben, es seien die vielen Aktenbündel, die wir am Schreibtisch abarbeiten, oder die großen Taten und Spenden, die wir leisten. Doch davon wird die Welt nicht genesen. Auch nicht von unseren klugen Sprüchen wird die Welt genesen.
Jesus sagt: Was in der Ewigkeit noch Bedeutung hat, ist, wenn du dich einmal freimachen kannst. In der kommenden Woche kannst du einem Menschen, der auf dich wartet, noch eine zweite Stunde schenken, die zweite Meile gehen und einfach Zeit haben. Lass eine ganz neue Wertordnung in deinem Leben gelten. Vielleicht merkst du, dass in der Frage deines Besitzes die Dinge ganz anders verteilt werden könnten. Oder dass sich in der Frage deiner Zeiteinteilung vieles völlig neu gestalten könnte.
Vielleicht sitzt gerade ganz nah bei dir jemand, der dir furchtbar viel Not macht, und du darfst ihn segnen. Es geht dabei nicht um Feinde, die irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang sitzen, sondern um Feinde, die dir das Leben streitig machen. Und die du segnen darfst, indem du über den Graben zu ihnen hingehst – weil du von Jesus freigemacht bist.
Das ist keine Wunderkraft und kein spirituelles Geheimnis. Es ist die Tatsache, dass Jesus darum gelitten und gekämpft hat, dass diese Dinge uns nicht binden. Bei der Versuchungsgeschichte, als der Versucher kam und ihn binden wollte, fragte er: „Willst du nicht Brot haben?“ Jesus antwortete: „Man lebt nicht vom Brot allein.“ Ebenso schärfte er seinen Jüngern ein, dass man nicht lebt für Ansehen und Ehre, wenn man sich von der Tempelzinne hinunterstürzt, damit das Volk einem zujubelt. Man lebt für eines: dass der Vater Ja zu einem sagt und dass über unserem Leben das steht.
Was könntest du in deinem Leben tun? Was könntest du in der kommenden Woche für deinen Herrn wirken? Du ahnst nicht, welch einen Reichtum du weiterträgst.
Wenn du nicht merkst, dass wir das bei den Menschen in unserer nächsten Nähe realisieren können, will uns der Herr gar nicht woanders haben. Ich lebe nicht weit weg. Ich lebe hier, ich lebe mit diesen Menschen zusammen.
Welch eine Gabe tragen wir mit uns herum! Was dürfen wir weitergeben für eine neue Welt, die hier schon mitten in dieser Welt anbricht.
Amen.
