Das verbogene Kreuz in der Theologie und in der Predigt – in Predigt und Theologie.
Einleitung: Widerstand gegen das Evangelium am Beispiel Hülben und Dettingen
Im achtzehnten Jahrhundert, auf der Schwäbischen Alb, lebt im Dorf Hülben ein Dorfschulmeister mit seiner Frau Anna Katharina Kulln. Die Kulln aus Hülben beobachten mit Argwohn, was im Nachbarort Dettingen geschieht. Dort predigt ein junger Pfarrer namens Johann Friedrich Fricker.
Fricker verkündet das Wort vom Kreuz, und in Dettingen erlebt die Gemeinde einen geistlichen Aufbruch. Selbst in Hülben bekommt man das mit, zumal Fricker alle vierzehn Tage auch in Hülben predigt. Dort zeigt seine Predigt jedoch nicht dieselbe Wirkung; es gibt hauptsächlich Widerstand. Fricker berichtet, der Dorfschulmeister schaue immer so finster, doch immerhin fasst seine Frau Mut.
Eines Tages fragt Anna Katharina Kulln den Pfarrer, was man hier tun müsste, damit es auch in Hülben solche Verhältnisse wie in Dettingen gibt. Fricker antwortet: „Frau Schulmeisterin, lesen Sie den Römerbrief.“
Anna Katharina beginnt zu lesen, kommt aber nur bis zum ersten Kapitel, in dem Paulus beschreibt, dass alle Welt unter dem Zorn Gottes steht. Daraufhin teilt sie dem Pfarrer mit: „Also wissen Sie, Herr Pfarrer, die Römer-Epistel ist vielleicht etwas für die Dettinger, aber nicht für die Hülbener.“ Damit meint sie, dass es in Hülben keine so schlimmen Menschen gebe, wie sie in Römer 1 beschrieben werden. „Alle Welt unter dem Zorn Gottes“ – das mag anderswo passen, aber nicht bei uns, nicht wir, nicht ich.
Fricker entgegnet: „Frau Schulmeisterin, bitte lesen Sie die Römer-Epistel noch einmal!“
Sie befolgt diesen Rat und einige Zeit später gesteht Anna Katharina Kulln dem Pastor: „Ja, die Römer-Epistel ist auch etwas für uns, auch etwas für mich.“ Sie findet zum lebendigen Glauben.
Eine Nachfahrin dieser Anna Katharina Kulln ist mehr als hundert Jahre später Johanna Kulln. Durch Heirat wird aus Johanna Kulln Johanna Busch. Johanna Busch wird die Mutter von Wilhelm und Johannes Busch, die wiederum die Botschaft der Römer-Epistel im Land verbreiten.
Die menschliche Abwehr gegen das Kreuz: Ein universelles Phänomen
Ich denke, die frühe Schulmeisterin hat ehrlich ausgesprochen, was jedem natürlichen Menschen im Blut liegt: ein innerer Widerstand, eine instinktive Abneigung gegenüber dem Evangelium, gegenüber dem Kreuz Jesu Christi – nicht nur auf der Schwäbischen Alb. Diese radikale Form von Christsein, wie wir sie bei Paulus finden, ist nichts für mich, sie passt auch nicht mehr in unsere Zeit. Warum ist das so?
An keinem anderen Schauplatz der Geschichte – das haben wir heute Vormittag auch bei Wolfgang Bühne gehört – wird uns Sündern beides so krass vor Augen geführt: die Abgründigkeit unserer Schuld und die Abhängigkeit von einem Retter. Als unser Herr damals im engsten Jüngerkreis anfing, seine Leute auf diesem Weg vorzubereiten, da war auch deren erste Reaktion: Was? Unverständnis und Ablehnung. „Das widerfahre dir nur nicht“, sagt Petrus. „Also so geht es schon gar nicht.“ Was wundern wir uns da über die Kreuzesdebatte im einundzwanzigsten Jahrhundert?
Von Anfang an war das Kreuz hoch umstritten: den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit, den Preußen eine pietistische Übertreibung und in Westfalen, hier in Bielefeld, vielleicht eine geschmacklose Zurschaustellung von Leiden. So heißt unser Thema: „Das verbogene Kreuz in Predigt und Theologie“. Vielleicht hat mancher gedacht, na ja, das ist eben ein Problem der Theologen, die machen aus allem ein Problem.
Aber Theologie und Predigt sind ja erst die Auswüchse am Ende der Verwendungskette. Die Verbiegung des Kreuzes – siehe die Frau Schulmeisterin – beginnt ja im Herzen. Die Verbiegung des Kreuzes ist kein Theorieproblem, sondern ein Praxisproblem. Und die Theologie liefert dann nur die Begründung nach, mit der wir uns das Kreuz vom Halse halten. Die Predigt muss zusehen, wie sie fromme Worte machen kann, wie sie noch salbungsvoll von Jesus reden kann, ohne dem Sünder zu nahe zu treten und ohne sich angreifbar zu machen.
Das Wort vom Kreuz aber zielt immer auf Konfrontation. Paulus hat von Anfang an gemerkt, ja geradezu gespürt, dass die Botschaft vom Kreuz Christi nicht nur Unverständnis auslöst, sondern oftmals geradezu eine aggressive Reaktion provoziert. Paulus sprach von der Torheit des Kreuzes (1. Korinther 1,18), er sprach vom Ärgernis des Kreuzes (Galater 5,11) und er sprach von den Feinden des Kreuzes (Philipper 3,18).
Die humanistischen Ästheten spotten über die Torheit des Kreuzes: Das ist ihnen zu direkt, zu blutig, zu unphilosophisch, zu dreckig. Die Moralbewussten empören sich über das Ärgernis des Kreuzes: Das ist ihnen zu pessimistisch, zu radikal, zu unpraktisch. „Ja, wo kommen wir denn hin, wenn nicht mal Gesetzesgehorsam mehr in den Himmel bringt? Das untergräbt doch die Moral!“ Und alle miteinander werden sie zu Feinden des Kreuzes, weil der Mensch gegen Gottes Urteil rebelliert und lieber vor die Hunde geht, als vor Gott zu Kreuze zu kriechen.
Aber das Kreuz steht da, es steht mitten in der Welt. So, wie es Horatius Bonar, der schottische Prediger des neunzehnten Jahrhunderts, besungen hat, und wie es die Generation unserer Großeltern dann nachgesungen hat in der deutschen Übersetzung:
„Das Kreuz, es steht fest, Halleluja, Halleluja,
Wie wild der Sturm auch bläst, Halleluja, Halleluja,
Die Hölle erhebt ihr Haupt, es droht die Welt und schnaubt,
Das Kreuz uns keiner raubt, Halleluja, rühmt das Kreuz.“
Es steht da und fordert jeden Menschen heraus, der über diese Erde geht. So haben die Sünder aller Länder ihre Strategien entwickelt, um sich gegen das Kreuz zu schützen, um sich gegen das Kreuz zu immunisieren, um sich gegenüber dem Kreuz abzuschotten. Die Bekämpfung des Kreuzes zieht sich wie eine endlose Spur durch die Geschichte.
Wir haben festgestellt: Es gibt eine weitreichende Verachtung des Kreuzes. Ich erinnere noch einmal an Wolfgang Bühnes Zitate von heute Vormittag: Heinrich Heine, Goethe, Nietzsche, Uta Ranke-Heinemann – es ist fast eine zu große Ehre für die Dame, in dieser Zitatreihe genannt zu werden. Ich füge noch ein paar weitere verachtende Zitate zum Kreuz hinzu.
Der Koran sagt über Isa, eine Karikatur von Jesus in Sure 4: „Doch ermordeten sie ihn nicht und kreuzigten ihn nicht, sondern nur einen ihm ähnlichen.“ Und der katholische Theologe und Psychologe Eugen Drewermann spricht mit seinem Einwand, denke ich, vielen aus dem Herzen, wenn er sagt: „Der Gedanke, dass Gott einen Menschen töten muss, um sich mit der Welt zu versöhnen, macht mir Gott nicht vertrauenswürdig, sondern lässt ihn blutrünstig, barbarisch und roh erscheinen.“
Ein typisches Beispiel für die evangelische Schultheologie ist Rudolf Bultmann. Er wollte die Sündebedeutung des Todes Jesu am liebsten ganz aus der Verkündigung verbannen. Er sagt: „Die Aussage, dass ein menschgewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünden der Menschheit sühnt, das ist primitive Mythologie. Diese Mythologie könne man nicht mehr sinnvoll existenzial interpretieren, sondern nur noch aus den Texten eliminieren, entfernen.“
An seinem Grünen schreibt er in ganz ähnlichem Duktus: „Gott, der den Tod seines Sohnes braucht, um uns vergeben zu können, wäre ein sadistischer Gott. Das Kreuz ist nicht die Bedingung, dass Gott uns vergibt.“ Er war ja häufiger Gastautor der evangelikalen Zeitschrift Aufatmen an Semm-Grün, und dort hat er einmal zum Tod Jesu Folgendes geschrieben: „Der Kern der biblischen Botschaft ist: Gott vergibt uns die Schuld, weil er Gott ist, weil er barmherzig ist und weil er gnädig ist – und nicht, weil Jesus am Kreuz gestorben ist.“
Eine weitere Stimme in dieser Ablehnungsfront ist die feministische Theologie. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, so sagt man dort, sei typisch männliche Theologie, bedingt durch den Ödipuskomplex. Man solle nicht mehr vom Tod Jesu reden, dem Tod sei überhaupt nichts Positives zu entnehmen. Nur Jesu Leben sei heilbringend, nicht aber sein Tod.
Und schließlich ein letztes Zitat in dieser Reihe von Nikolaus Schneider. Er ist immer noch der amtierende Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, also der höchste Repräsentant der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Nikolaus Schneider hat sich bereits 2009 in einem öffentlichen Statement von der Lehre distanziert, dass Jesus am Kreuz stellvertretend die Strafe für unsere Schuld auf sich genommen habe. „Gott brauche kein Sühnopfer“, so Nikolaus Schneider, „denn es muss ja nicht sein Zorn durch unschuldiges Leiden besänftigt werden.“
Ganz in diesem Sinne hat erst vor wenigen Monaten die EKD, also die Dachorganisation der Landeskirchen, eine Studie veröffentlicht unter dem Thema „Rechtfertigung und Freiheit – 500 Jahre Reformation“, auch im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017. Diese Studie schleicht um das Thema Rechtfertigung herum wie die Katze um den heißen Brei. Da heißt es: Luther lebte in einer Welt, in der Gott als Gerichtsherr über das Leben der Menschen urteilt und Sünde straft. Luthers Frage lautet: Mit welchen Gaben kann der Mensch seine Schuld vor Gott bezahlen? Wie kann er so leben, dass er der Strafe für nicht bezahlte Sünde entgeht? Damals, schreibt die Studie, habe die Vorstellung gegolten, dass Gott alle Menschen zur Rechenschaft zieht – damals.
Aber auf der nächsten Seite wird der Leser dann beruhigt: Die heutige Mehrheitsfrömmigkeit habe diese Frage nicht mehr. Nach dem Motto: Wenn die heutige Mehrheitsfrömmigkeit diese Frage nicht mehr hat, dann ist sie auch nicht mehr wichtig. Damit wird uns nahegelegt: Die verzweifelte Suche nach dem gnädigen Gott, diese verzweifelte Suche können wir getrost abblasen. Die war nur damals für die Menschen wichtig, das war mehr oder weniger eine Zeiterscheinung. Inzwischen habe der Mensch ganz andere Fragen. Inzwischen geht es nicht mehr um die Angst vor der Hölle, sondern um die Hölle auf Erden.
Der Rest des Buchs ist dann ein einziger krampfhafter Versuch, unter Berufung auf die Reformation und mit teilweise frommen Worten, etwas völlig anderes zu behaupten als die Reformatoren verkündigt haben.
Das sind jetzt also ganz unterschiedliche Beispiele für die Verachtung, Verharmlosung und Verneinung des Kreuzes Jesu Christi. Aber damit haben wir die größte Not unserer Tage noch gar nicht benannt. Das Hauptproblem ist nicht das verachtete Kreuz, sondern das verbogene Kreuz – das ist unser Titel. Verbogen heißt verändert, umgedreht, verfälscht in seiner Bedeutung, verzerrt.
Wissen Sie, wo das Kreuz verachtet wird, da lässt sich das noch verhältnismäßig leicht durchschauen. Obwohl sogar diese Denkschrift einigen Zuspruch von evangelikaler Seite bekam: Der Direktor der Evangelistenschule Johanneum sagte zu dieser Denkschrift, man könne sich über diesen Text nur freuen. Und dazu würde ich sagen: Man kann sich über diesen Kommentar nur wundern.
Aber normalerweise kann man die Verachtung des Kreuzes durchschauen. Wenn aber das Kreuz verbogen wird, ist das oft auf den ersten Blick nicht erkennbar. Denn die Verbiegung präsentiert sich nicht als Kritik des Kreuzes, sondern preist sich als Neuentdeckung, als Neuinterpretation des Kreuzes.
Und, ihr Lieben, die Dramatik unserer Tage besteht darin, dass diese Entwicklungen im engeren oder weiteren Zusammenhang mit der evangelikalen Welt stehen. Das Donnergrollen kommt immer näher.
Ja, das Kreuz ist irgendwie noch da. Es wird nicht ausdrücklich geleugnet, es wird nicht explizit abgelehnt, man spricht noch davon, manchmal. Aber es ist nicht mehr dasselbe Kreuz, das Jesus und die Apostel verkündigt haben. Es ist nicht mehr das Kreuz aus dem Neuen Testament. Es ist nicht mehr das Kreuz, an dem Jesus sein Leben für uns dahingegeben hat, um stellvertretend für uns die Strafe auf sich zu nehmen, die uns in die Hölle gebracht hätte.
Und das Problem dieses verbogenen Kreuzes ist nicht neu. Paulus hat uns dringend aufgefordert, wie ein Luchs darauf zu achten, dass das Kreuz nicht zunichtegemacht wird. Es geht um die Ehre des Gekreuzigten, und es geht um die Rettung der Verlorenen.
Deshalb, liebe Geschwister, müssen wir diese Verbiegungen erkennen, wir müssen sie durchschauen, wir müssen sie enttarnen, wir müssen sie durchblicken. Wir müssen das um unserer Kinder willen tun, um unserer Hauskreise willen, um unserer Gemeinden willen, auch um unserer ungläubigen Nachbarn willen, denen wir das Evangelium schulden.
Wer das Wasser in der Wüste kennt und es verschweigt, der ist schuld, wenn Sterbende es übersehen. Wer im Moor die festen Wege kennt und sie nicht zeigt, der ist schuld daran, wenn andere untergehen. Falsche Lehre, das ist das Moor, und auf den festen Wegen kann ich nur bleiben, wenn ich weiß, wo das Moor anfängt.
Darum müssen wir uns jetzt fragen: Woran kann ich diese Verbiegungen des Kreuzes erkennen? Und dazu müssen wir uns noch einmal klar machen, was die Bibel über das Kreuz lehrt. Ich will es nur noch einmal zusammenfassen.
Die entscheidende Frage am Kreuz lautet: Wie kann Gott Sünder begnadigen und trotzdem heilig und gerecht bleiben? Das ist die Frage von Paulus. Wie kann Gott an Sündern nicht ahnden und trotzdem gerecht bleiben? Die einzige Antwort ist, dass ein anderer stellvertretend die Strafe für uns erträgt – für uns, die wir diese Strafe verdient hätten. Dann kann Gott beides: Er kann uns begnadigen und trotzdem heilig und gerecht bleiben, weil Christus durch seinen Sühnetod die gerechte Strafe bezahlt hat.
So sagt es Paulus in Römer 3,26: „Gott erweist in dieser Zeit, also jetzt, wo Christus am Kreuz stirbt, seine Gerechtigkeit, und zwar, dass er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der da ist aus dem Glauben an Christus.“ Das ist die Botschaft vom Kreuz.
Diese Begnadigung hat eine juristische Seite und eine persönliche Seite. Die juristische Seite beschreibt die Bibel mit dem Begriff der Rechtfertigung: Gott spricht uns direkt gerecht. Die persönliche Seite beschreibt die Bibel mit dem Begriff der Versöhnung: Gott nimmt uns an als seine Kinder und versöhnt uns mit sich. Es ist beides – juristisch und persönlich.
Jetzt wollen wir fragen, worin die Verbiegungen des Kreuzes bestehen. Das Erste, was wir hier sehen: Das Kreuz wird verbogen zur Demonstration der Liebe Gottes. Das ist die erste Verbiegung.
Das Kreuz wird verbogen zur Demonstration der Liebe Gottes. Das klingt doch gut: Das Kreuz – Demonstration der Liebe Gottes. Kennen wir nicht alle Predigtpassagen wie die folgende?
„Am Kreuz beweist Jesus, wie sehr Gott uns liebt, wie wichtig wir ihm sind. Er nimmt sogar diese Qualen auf sich. Für ihn ist kein Preis zu hoch. Vom Kreuz her ruft Jesus dir zu: Ich bin für dich da, ich erwarte dich mit offenen Armen, ich bete auch noch für meine Feinde. Jetzt muss keiner mehr zweifeln, dass meine Liebe allen Hass besiegt.“
Das klingt gut, und hier wird das Kreuz vor allem als Demonstration der göttlichen Liebe gepredigt. Das ist nicht falsch, aber es ist zu wenig. Hier wird werbend und warmherzig vom Kreuz gesprochen, ohne die Sache der Sühne und Versöhnung zur Sprache zu bringen. Hier wird nicht einmal gesagt, warum Jesus sterben musste – nämlich zur Sühne für unsere Sünden. Das ist in Gottes Augen auch ein juristischer Akt.
Wenn das Kreuz nur zur Demonstration der Liebe Gottes dient, dann wird dem Sünder das Wichtigste vorenthalten. Am Kreuz zeigt Gott uns nicht nur etwas von sich, sondern am Kreuz tut Gott etwas für uns.
Diese Verkürzung und Verwirrung gab es bereits im Mittelalter. Petrus Abaelardus hat es dort ganz berühmt gelehrt: Er propagierte die These, das Kreuz Jesu diene in erster Linie als Demonstration der göttlichen Liebe. Gottes vollkommene Liebe wecke im Menschen die Gegenliebe. Wenn er diese vollkommene Liebe Gottes sieht, dann wecke sie die Gegenliebe bei uns, und diese Gegenliebe bewirke, dass wir uns von der Sünde abkehren.
Also, im Fall von Abaelardus hat das Kreuz keine direkte Wirkung, sondern nur eine indirekte. Christus musste nicht leiden, damit Gott Sünden vergeben kann, sondern das Leiden soll seine Liebe beweisen. Diese Liebe soll meine Gegenliebe reizen und bewirken, dass ich mich von der Sünde abkehre.
Darin steckt natürlich eine Teilwahrheit. Ja, Jesus hat uns in seinem Leiden auch ein Vorbild hinterlassen (1. Petrus 2,21). Paulus kann sagen in Römer 5,8: „Gott zeigt seine Liebe zu uns, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ Aber die Hauptbedeutung dieses Erweises am Kreuz liegt eben nicht in der Demonstration von Gottes Liebe, sondern in der Aktion von Gottes Liebe.
Die Aktion von Gottes Liebe ist die Tilgung unserer Schuld. Am Kreuz zeigt Gott uns nicht nur etwas über sich, vielmehr tut er konkret etwas für uns. Das ist der erste Fall von verbogenem Kreuz: verbogen zur Demonstration der Liebe Gottes.
Damit kommen wir zu einem zweiten Fall: Das Kreuz wird verbogen zur religiösen Begründung für ethische Forderungen. Damit bewegen wir uns jetzt auf dem Feld der Emerging Church, der sogenannten missionalen Theologie.
Sie wissen, die Emerging Church ist keine geschlossene Schule, es gibt verschiedene Ausprägungen, aber es gibt doch zentrale Gemeinsamkeiten. Wichtige Namen für uns in Deutschland sind unter anderem Tobias Feix, Johannes Reimer, Fabian Vogt und viele andere.
Ich will hier nur eine dramatische Auswirkung dieser Denkweise benennen: Die Emerging Church verändert den Sinn des Evangeliums und damit auch die Bedeutung des Kreuzes. Das Kreuz ist dort nicht in erster Linie der Ort, an dem Jesus für meine Schuld stirbt.
Ich habe hier vorliegend ein Thesenpapier von Johannes Reimer, das er anlässlich einer Diskussionstagung im Januar 2013 unter dem Thema „Evangelisation: Grund, Motiv, Ziel“ entworfen hat. Auf vier Seiten wird entfaltet, dass auf diesen vier Seiten weder das Kreuz Christi vorkommt noch der Sühnetod, den er am Kreuz für uns gestorben ist.
Der Sühnetod wird nur an einer einzigen Bibelstelle erwähnt, die aber in einem ganz anderen Sinne gedeutet wird. Das Kreuz ist nicht der Ort, an dem Jesus für unsere Schuld stirbt.
Reimers Schüler Tobias Feix zeigt dann in einem Aufsatz, was im Denkrahmen der Emerging Church mit dem Kreuz geschieht. Er sagt, das Kreuz dient der Transformation. Der Aufsatz heißt „Aspekte der Transformation durch das Kreuz“. Was soll das Kreuz da?
Das Kreuz wird zum Anstoß, zur Motivation, zur religiösen Verstärkung – wofür? Für ethische Forderungen. Diese ethischen Forderungen, die er dann entfaltet, sind größtenteils innerweltlich und politisch ausgerichtet. Es geht um Forderungen für den Bereich der Politik, der Ökonomie, der Kultur, der Ökologie, der Soziologie.
Dort soll das Evangelium Veränderung bewirken und uns zu politischem Einsatz bewegen. Und ich denke, jetzt sehen wir den Unterschied: In der Bibel handelt das Evangelium davon, was Gott tut. Hier bei Falks und Reimer wird das Evangelium zu etwas, das wir tun müssen. Da wird das Evangelium zum Gesetz.
Johannes Reimer hat einmal gesagt: „Nichts wäre heute wichtiger als die Entscheidung der Christen, das Reich Gottes in der Welt mit den Menschen zusammenzubauen. Nicht für sie und erst recht nicht gegen sie, also die Nichtchristen, sondern mit ihnen.“ Christen und Nichtchristen bauen gemeinsam das Reich Gottes in der Welt – das wäre jetzt die anstehende Entscheidung.
Da wird das Evangelium zum Gesetz. Aus dem Kreuz, an dem Jesus für mich stirbt, wird eine Motivation zu politischem Handeln. Aus dem Geschenk der Sündenvergebung wird eine Forderung zum Gutes Tun. Aus dem „Es ist vollbracht“ wird ein „Nun vollbringe mal“.
Deshalb kann Tobias Falks in einem Interview in diesem Sinne auch behaupten: „Das Evangelium zeigt sich auch im sozialen Miteinander.“ Damit ist klar, dass er mit dem Evangelium hier nicht meinen kann, was Christus für uns am Kreuz getan hat, denn das zeigt sich nicht im sozialen Miteinander.
Falks verwechselt die ethischen Folgen des Evangeliums mit dem Evangelium selbst und verliert dadurch das Evangelium. Als William Wilberforce Christ wurde, trieb es ihn dazu, zur Abschaffung der Sklaverei beizutragen. Aber ihm war immer klar: Das ist die Folge meines Christseins, dass ich Verantwortung übernehme als Politiker. Die Abschaffung der Sklaverei kann niemals ersetzen, dass ich errettet wurde durch Jesus Christus vom Tod und der Hölle.
Wer das Kreuz verbiegt, wer das Kreuz zum Gesetz macht, verliert seinen Trost und seine Rettung.
Andere Vertreter der Emerging Church sind an dieser Stelle noch weitergegangen. Sie haben sich offen gegen den Sühnetod Jesu ausgesprochen. Brian McLaren zum Beispiel gilt als einer der Vordenker der Emerging Church Bewegung in Amerika.
Nach ihm ist die Lehre vom stellvertretenden Sühneleiden Jesu keine verbindliche Lehre, sondern nur eine mögliche Erklärung für Jesu Tod – unter anderem. McLaren fragt einmal, warum die Bestrafung eines Unschuldigen der Versöhnung mit Gott dienen könne. Dann legt er in einem seiner Bücher einem der Protagonisten, einem Mann namens Kelly, folgende gotteslästerliche Aussage in den Mund: „Das hört sich lediglich wie eine weitere Ungerechtigkeit in der kosmischen Gleichung an. Also die Rede vom Kreuz – das hört sich an wie göttlicher Kindesmissbrauch, nicht wahr?“
Das Kreuz wird zur religiösen Begründung für ethische Forderungen verbogen. Es bleibt nur noch die moralische Abzweckung im Rahmen der Emerging Church.
Dann ein dritter Fall von verbogenem Kreuz: Das Kreuz wird verbogen zum Symbol des Sieges Christi. Auch das klingt doch wieder gut. Wissen Sie, das ist so verführerisch, weil es so gut klingt.
Das Kreuz, so sagt man dort, ist ein Symbol dafür, dass Jesus durch Kreuz und Auferstehung die Herrschaft als König im Universum angetreten habe. Was fehlt hier? Es fehlt die entscheidende Tat, die Jesus am Kreuz selbst vollbracht hat: Er starb für meine Schuld. Das fehlt.
Das wirkliche Kreuz, ihr Lieben, ist viel, viel mehr als nur allgemein ein Symbol des Sieges. Das wirkliche Kreuz ist zuallererst der konkrete Ort, an dem Jesus konkret das Sühnopfer für die Sünden der Welt gebracht hat. Ein Symbol ist nur ein Zeichen, am Kreuz aber ist wirklich etwas passiert.
Diese Verkürzung des Kreuzes zum Symbol des Sieges Christi ist ein Baustein in einem großen Gebäude, das sich die neue Paulusperspektive nennt. Da habt ihr bestimmt schon davon gehört: neue Paulusperspektive.
Die neue Paulusperspektive gehört wohl zu den Irrlehren, die zurzeit in evangelikalen Kreisen besonders viel Einfluss gewinnen. Ihr bekanntester Vertreter ist N. T. Wright, auch genannt Tom Wright. Er ist Professor für Neues Testament in Schottland und war von 2003 bis 2010 Bischof in der anglikanischen Kirche in Durham.
Was lehrt die neue Paulusperspektive nun über das Kreuz Jesu? Wir wollen uns nur auf diesen einen Punkt hier konzentrieren: Was sagt die neue Paulusperspektive über das Kreuz?
Nach Wright haben die Reformatoren den Apostel Paulus völlig falsch verstanden – vor allem im Hinblick auf ihr Kernstück, nämlich die Rechtfertigungslehre. Und es ist gut, dass Herr Wright und ein paar andere jetzt kommen und uns endlich darüber aufklären, dass die Reformatoren und wir alle den Paulus völlig falsch verstanden haben – jahrhundertelang.
Beim Kreuz, so Wright, geht es im Kern nicht um die Frage, wie ein Sünder mit Gott versöhnt wird. Die Rechtfertigungslehre, wie sie vom wirklichen Apostel Paulus gelehrt wurde, habe kaum etwas mit persönlicher Errettung von Sünde und Schuld zu tun.
Das Problem der Juden nach der neuen Paulusperspektive war gar nicht ihre vermeintliche Werkgerechtigkeit, sondern ihr elitäres Denken und ihre selbstgerechte Abschottung gegenüber den Heiden. Das war ihr Problem. Und so behauptet Wright, Paulus werfe den Juden seiner Zeit nicht Gesetzlichkeit und nicht Werkgerechtigkeit vor.
Ihr Hauptfehler bestand nicht gegenüber Gott darin, dass sie sich auf ihre Taten verließen, die nicht ausreichten, sondern ihr Hauptfehler bestand gegenüber den Heiden, die sie nicht an den Tisch im Hause Gottes ranlassen wollten.
Das Judentum seiner Zeit, so behauptet Wright – und er hat die neue Paulusperspektive nicht erfunden, zwanzig Jahre vor ihm ist das auch schon mal aufgekommen, aber er hat es popularisiert – habe gar keine Werkgerechtigkeit vertreten.
Nun, diese Behauptung lässt sich leicht widerlegen. Denken Sie nur an Jesu Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner in Lukas 18. Dort geißelt Jesus die Werkgerechtigkeit der Pharisäer. Ich denke schon, dass Jesus und Paulus das Judentum des ersten Jahrhunderts besser verstanden haben als Wright und sein Gewehrsmann Sanders zweitausend Jahre später.
Was sagt die neue Paulusperspektive zur Rechtfertigung? Das Neue Testament sagt, in der Rechtfertigung geht es darum: Wie werde ich mit Gott versöhnt? Wie komme ich in den Himmel? Wie werde ich ein Kind Gottes?
Die neue Paulusperspektive lehrt: Nein, nein, in der Rechtfertigung geht es darum, wie wir zu einer neuen Gemeinschaft werden – Juden und Heiden, und dann später eben auch Evangelische und Katholiken.
Demnach ist die Botschaft des Galaterbriefes nach der neuen Paulusperspektive nicht das Problem der Werkgerechtigkeit im Galaterbrief. Wir haben es ja so aus dem Wort Gottes verstanden, dass Paulus dort die Leute warnt vor der Werkgerechtigkeit. Er sagt: Sobald ihr die Beschneidung zusätzlich zum Glauben an Jesus fordert, zerstört ihr das Evangelium, es ist ein anderes Evangelium.
Aber nein, nein, sagt die neue Paulusperspektive, das Problem im Galaterbrief ist gar nicht die Werkgerechtigkeit. Sondern das Problem war nur, dass die Juden sich zu sehr abschotteten gegenüber den Heiden, und sie sollten sich endlich öffnen.
Jetzt müsst ihr aufpassen: Während die bibeltreue Auslegung im Galaterbrief zu Recht eine Warnung vor der Ökumene findet, dreht Wright den Spieß um, verbiegt er den Galaterbrief gewissermaßen und macht aus dem Galaterbrief eine Verpflichtung zur Ökumene. Er sagt, der Galaterbrief sei die eigentliche ökumenische Epistel. Der Galaterbrief besage, so Wright, dass alle, die an Jesus glauben, an denselben Tisch gehören.
Aber was bedeutet „an Jesus glauben“? Das bleibt bei Wright sehr unklar, völlig unbestimmt, schwammig. Was es heißt, an Jesus zu glauben.
Denn das Evangelium ist für ihn ja nicht die gute Nachricht, dass Christus am Kreuz für unsere Schuld gestorben und auferstanden ist und dass, wer dies im Glauben ergreift, Gottes Kind wird. Sondern: „Das Evangelium ist“, nach N. T. Wright, „die Bekanntgabe, dass Jesus durch Tod und Auferstehung zum Herrn der Welt intronisiert wurde.“ Das Evangelium ist die Ausrufung eines königlichen Sieges, aber es ist nicht die Botschaft davon, dass Jesus rettet.
Über das Kreuz Christi lehrt das Neue Testament: Ja, das ist der Ort, wo Jesus meine Strafe trug. Und die neue Paulusperspektive macht daraus ein Symbol des Sieges über den Tod. Das ist zu wenig.
Hören wir noch einmal Wright im Originalton: Er sagt: „Das Evangelium ist kein System, das erklärt, wie Menschen gerettet werden. Das Evangelium ist kein System, das erklärt, wie Menschen errettet werden, sondern das Kreuz ist nur ein Symbol des Sieges.“ Und eben nicht der Ort, wo am Karfreitag damals das Gericht über meine Schuld folgte.
Das ist gravierend, ihr Lieben. Und wenn persönliche Rettung nicht mehr so wichtig ist, dann wundert es einen auch nicht, dass N. T. Wright total verharmlosend über die Hölle redet. Er behauptet, die klassische Verkündigung sei hier von mittelalterlichen Vorstellungen völlig überfrachtet, die Hölle sei kein wirklicher Ort.
Phil Johnson, einer der engeren theologischen Mitarbeiter von John MacArthur, hat zusammenfassend über die neue Paulusperspektive geschrieben: „Wrights Verständnis von der Rechtfertigung ist der Versuch, die Reformation umzukehren. Wir müssen uns solchen Bemühungen widersetzen, es geht um Leben und Tod, um ewiges Leben und ewigen Tod.“
Liebe Geschwister, diese neue Paulusperspektive ist, man kann es nicht anders sagen, eine krasse Irrlehre. Umso mehr muss erstaunen, dass Wright auch in evangelikalen Kreisen zunehmend Gehör findet. Immer mehr seiner Schriften werden ins Deutsche übersetzt, viele davon unter anderem im Franke Verlag. Im Januar fand eine größere Studientagung mit ihm auf St. Chrischona bei Basel statt. Jetzt im Juni folgte dann eine Seminarwoche am Ökumenischen Institut der Universität Freiburg in der Schweiz.
Das ist eine katholische Institution, die ihr Selbstverständnis auf das Zweite Vatikanische Konzil gründet. Aber dieses Ökumenische Institut führte diese Veranstaltung mit Wright nicht alleine durch, sondern es hatte Mitveranstalter und Partnerorganisationen. Zu diesen Mitveranstaltern und Partnerorganisationen gehörten diverse evangelikale Werke, unter anderem der Schweizer Zweig des Buzer Seminars. Der Direktor des gesamten Buzer Seminars ist ja bekanntlich Thomas Schirrmacher.
Der Schweizer Zweig des Buzer Seminars hat einen Newsletter herausgegeben und eine ausgesprochen positive Würdigung dieses N. T. Wright-Seminars veröffentlicht.
Kommen wir zu einer letzten Verbiegung des Kreuzes für heute. Diese letzte und vierte Verbiegung erhält natürlich von der neuen Paulusperspektive massive Unterstützung.
Das Kreuz wird verbogen – ich fasse noch einmal zusammen: erstens zur Demonstration der Liebe Gottes, zweitens zur religiösen Begründung für ethische Forderungen (das ist das Konzept der Emerging Church), drittens zum Symbol des Sieges Christi (das ist die neue Paulusperspektive) und viertens – und das ist das Letzte, was wir uns heute anschauen – das Kreuz wird verbogen zur Basis für ökumenische Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche.
Das Stichwort lautet: Ökumene unter dem Kreuz. Man argumentiert so: Ja, es gibt noch bestimmte Dogmen, die uns trennen, aber bei Jesus und seinem Evangelium sind wir uns doch wohl einig. Deshalb können wir doch auch in der Evangelisation zusammenarbeiten.
Diese Denkweise wurde unter den Evangelikalen vor allem durch die Evangelisation von ProChrist verbreitet. Erst jüngst hat der Geschäftsführer von ProChrist wieder diese Argumentation herangezogen: Man wäre doch stärker, wenn man eine größere Koalition bilden könnte.
Als Papst Benedikt dann im September 2011 seinen Deutschlandbesuch machte, wurde er von bekannten Evangelikalen mit einer Briefsammlung begrüßt. Gegen eine Briefbegrüßung ist erst mal nichts einzuwenden, aber schon schwieriger ist, dass diese Briefe veröffentlicht wurden unter dem Titel „Lieber Bruder in Rom – ein evangelischer Brief an den Papst“.
Zu den Briefschreibern gehörten der Generalsekretär des CVJM Roland Werner, die damalige Leiterin des Instituts für Islamfragen der Evangelischen Allianz Christine Schirrmacher, der Journalist Markus Spieker und der Evangelist Ulrich Parzany.
Sie alle sprachen den höchsten Vertreter der römischen Lehre als „Bruder in Rom“ an und setzten damit voraus, dass man eben gemeinsam Jesus nachfolgt.
Uli Parzany hat in seinem Brief immerhin zugestanden, dass die Unterschiede in Lehre und kirchlicher Ordnung beträchtlich seien, gleichwohl aber hinzugefügt, dies stelle kein Hindernis für gemeinsame evangelistische Anstrengungen dar.
Damit unterstellt Parzany eine grundsätzliche Einigkeit im Hinblick auf das Evangelium. Er schreibt weiter: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich als evangelischer Christ einmal den Papst bitten würde, die Evangelisation in Europa stärker voranzutreiben.“
Ja, ehrlich gesagt, das hätte ich auch nicht gedacht, dass man mal den Papst darum bitten würde.
Hier wird das Kreuz verbogen zu einer Basis für ökumenische Zusammenarbeit. Aber was lehrt die römische Kirche bis heute? Sie lehrt bis heute genau das, was der Galaterbrief als ein anderes Evangelium bezeichnet.
Die römische Kirche verneint und bestreitet bis heute, dass Jesus allein zur Rettung genügt. Bis heute gelten die klassischen Verurteilungen des Konzils von Trient, wo gerade der Glaube an das Evangelium abgelehnt wird.
Dort heißt es in den offiziellen katholischen Dokumenten: „Wer behauptet, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die um Christi willen die Sünden nachlässt, und dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerechtfertigt werden, wer das behauptet – und das ist in der Tat die Lehre, die Römer 3 offenbart – wer das behauptet, sagt Rom, der sei ausgeschlossen.“
Mit anderen Worten: Wer behauptet, dass wir allein durch das Vertrauen auf Christus gerettet werden, der sei ausgeschlossen. Das ist aktuelle gültige römisch-katholische Lehre.
Und wie können wir dann unter dieser Voraussetzung gemeinsam evangelisieren?
Erst im November 2013 hat Papst Franziskus in einem Lehrschreiben sein Verhältnis zu und sein Verständnis von Evangelisation dargelegt. Das Lehrschreiben trägt den Titel „Evangelii Gaudium“, also „Freude des Evangeliums“.
Das Spannende daran ist gar nicht der Inhalt dieses Schreibens. In diesem Schreiben werden bekannte römisch-katholische Positionen vertreten. Zum Beispiel schreibt der Papst dort: Jesus hinterließ uns seine Mutter als unsere Mutter. Erst nachdem er das getan hatte, konnte Jesus spüren, dass alles vollbracht war. Zu Füßen des Kreuzes in der höchsten Stunde der neuen Schöpfung führt uns Christus zu Maria. Er führt uns zu ihr, da er nicht will, dass wir ohne eine Mutter gehen.
Über den Islam schreibt der Papst in diesem Text, dass auch die Moslems sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.
Also der Papst behauptet – das ist klassisch katholisch – Allah sei Gott. Und er schreibt dort weiter: Die heiligen Schriften des Islam bewahren Teile der christlichen Lehre. Jesus und Maria sind Gegenstand tiefer Verehrung.
Der Koran spricht aber nicht von Jesus, er spricht von Isa, und Isa ist eine Karikatur von Jesus. Isa ist nicht auferstanden, Isa starb nicht am Kreuz, Isa ist nicht Gottes Sohn. Und der Papst schreibt dies so, als sei der Isa der Jesus der Bibel.
Über die Nichtchristen schreibt der Papst: Auch sie können dank der ungeschuldeten göttlichen Initiative, wenn sie treu zu ihrem Gewissen stehen, durch Gottes Gnade gerechtfertigt werden. Das heißt, auch Menschen, die nicht an Jesus glauben, können, wenn sie treu ihrem Gewissen folgen, unter bestimmten Umständen gerettet werden. Mit anderen Worten: Sie können auch ohne Jesus in den Himmel kommen.
Das alles ist nicht so sehr spannend. Wie will man von einem Papst auch erwarten, dass er anderes schreibt als Katholisches?
Spannend ist die Bewertung dieses päpstlichen Schreibens durch den Cheftheologen der Internationalen Evangelischen Allianz, durch den Vorsitzenden der Theologischen Kommission der weltweiten Evangelischen Allianz, Professor Thomas Schirrmacher.
Schirrmacher sieht in diesem Schreiben, so wörtlich, bis auf das Schlusskapitel über Maria eine schon fast evangelikal zu nennende Bibelarbeit über Evangelium und Evangelisation. Schirrmacher sieht in diesem Schreiben eine schon fast evangelikal zu nennende Bibelarbeit und propagiert das auch.
Das ist ein doppelter Irrtum: Erstens kann man das Kapitel über Maria nicht vom Gesamtschreiben trennen, weil es aufs Innerste mit diesem verbunden ist. Zweitens ist auch das gesamte übrige Schreiben eine strotzende Gegenposition zu dem, was die Bibel lehrt. Daran ändern auch nichts Formulierungen wie diese: „Ziel der Evangelisierung sei die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu.“
Das besagt inhaltlich noch überhaupt nichts darüber, wie der Papst meint, dass diese Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu zu erfolgen habe, wenn gleichzeitig all das andere gilt, was er in diesem Schreiben ebenfalls sagt.
Schirrmacher war es auch, der im Namen der weltweiten Evangelischen Allianz zusammen mit Vertretern des Vatikans und des Ökumenischen Rates der Kirchen – das ist also diese große liberale Ökumeneorganisation – im Namen der Allianz gemeinsam mit ihnen den sogenannten Verhaltenskodex für Missionen auf den Weg gebracht hat.
Das heißt, man hat mit Weltallianz, ÖRK und Vatikan gemeinsam ein Grundlagenpapier zur Mission beschlossen. Also man hat mit jenen Organisationen ein gemeinsames Grundlagenpapier zur Evangelisation beschlossen, die ein anderes Evangelium vertreten.
Wisst ihr, es ist so ähnlich, mit ÖRK und Vatikan über das Evangelium zu beraten, das ist so, als würde man gemeinsam mit Vegetariern darüber beraten, wie die Qualität des Rumpsteaks in Deutschland verbessert werden könnte.
Und es hat Folgen. Unsere Handlungen haben Folgen. Hier werden die Grenzen immer mehr durchlässig gemacht zwischen wahrem Evangelium und falschem Evangelium. Es wird das Kreuz verbogen. Es wird jenen, die bestreiten, dass Jesus allein genügt – und das ist die Position des Papstes, sonst müsste er aufhören, Papst zu sein – es wird jenen zugestanden, sie würden ja auch das Evangelium verkünden, obwohl sie bestreiten, dass Jesus allein genügt.
Schirrmacher gehörte übrigens auch zu jenen Evangelikalen, die stolz davon berichtet haben, dass sie anlässlich der Amtseinführung des neuen Papstes von diesem empfangen worden seien und ihm quasi zu seiner Amtseinführung gratuliert hätten.
Was ist da geschehen? Da haben evangelikale Vertreter ihre grundsätzliche Anerkennung einem Amt gegenüber dokumentiert – einem Amt, das durch eine dreifache Anmaßung gegenüber dem Gott der Bibel konstruiert ist.
„Heiliger Vater“ heißt der Papst, „Heiliger Vater“. Aber allein der heilige Gott ist heilig. „Pontifex Maximus“ – als das gilt der Papst – oberster Brückenbauer zwischen Gott und Mensch. Oberster Brückenbauer zwischen Himmel und Erde ist dabei allein unser Herr Jesus Christus. „Stellvertreter Jesu Christi auf Erden“ nennt sich der Papst. Stellvertreter Jesu Christi auf Erden ist dabei allein der Heilige Geist, den Christus uns gegeben hat.
Hier haben wir es mit einer dreifachen Anmaßung göttlicher Würde zu tun.
Ihr Lieben, die Gräben, die sich hier auftun, werden offensichtlich von manchen, die sich für evangelikale Führer halten, gar nicht mehr wahrgenommen. Aber das sind keine Nebenfragen. Es geht hier um den Kern des Evangeliums, es geht hier um das Evangelium selbst, ihr Lieben.
Helmut Frey, der ja hier in Bielefeld lange gelebt und gelehrt hat, hat dies sehr deutlich gesehen. Helmut Frey hat in einem Aufsatz über den Katholizismus Folgendes gesagt:
„Im Katholizismus nimmt Jesus eine andere Stellung ein als in der Bibel. Zwar steht er offiziell in der Mitte, aber weil die Bedeutung seines Kreuztodes nicht in der Tiefe erkannt wird und der Schluss aus der Einmaligkeit seines Erlösungswerkes nicht gezogen wird, wird Jesus selbst durch Zwischeninstanzen in den Herzen der Menschen auf der Mitte gedrängt: durch die Kirche, die sein Werk auf Erden fortführt, durch den Papst, der seine Person auf Erden vertritt, durch Maria, die ihn im Himmel umstimmt, durch Heilige, die als kleine Schutzgötter geduldet werden. Jesu Hoheit und Jesu Liebe werden verdunkelt. Man versteht im Katholizismus nicht, dass alle Zwischen- und Nebeninstanzen hinweggefegt sind am Kreuz und dass dort das Gericht über die Welt und ihr Wesen vollstreckt ist und wir im Glauben wiedergeboren sind.“
Helmut Frey macht deutlich: An diesem Punkt geht es um das Solus Christus, um das Christus allein und um das Solafide, der dich rettet durch das Vertrauen auf ihn allein. Es geht um den Kern des Evangeliums.
Und, ihr Lieben, die nächsten Schritte auf diesem verhängnisvollen Weg sind auch schon geplant – das müssen wir wissen.
Ende August, am 29. August, veröffentlichte idea folgende Meldung:
„Zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017 könnte es ein gemeinsames Papier zwischen Evangelikalen und dem Vatikan geben.“ Das bestätigte der Vorsitzende der theologischen Kommission, Professor Schirrmacher, auf Anfrage von idea. Man habe Papst Franziskus dabei bereits einen ersten Entwurf übergeben. Und nun hört genau hier, wie der Titel dieses ersten Entwurfs lautet, den Schirrmacher und andere abgegeben haben: „Glaubenserklärung zur Einheit in der Mission.“
„Glaubenserklärung zur Einheit in der Mission.“
Dieser Entwurf enthält im Kern den Text der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die 1999 zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Vatikan beschlossen wurde.
Wisst ihr, dieser Text zur Rechtfertigungslehre aus dem Jahr 1999 ist ein evangelisches Unterwerfungsdokument. In diesem Text werden zwar etliche evangelisch vertraute Begriffe gebraucht, aber sie werden inhaltlich letztlich katholisch erklärt.
Wenn man jetzt frank und frei sagt: Ja, das ist die Grundlage, 1999 die gemeinsame Erklärung, dann ist das der evangelische Offenbarungseid.
Weiter heißt es: In diesem Text soll eine Erklärung enthalten sein, dass Katholiken und Evangelikale in der Mission miteinander verbunden sind, weil sie das Evangelium von Jesus Christus verkündigen. Das ist noch einmal festgeklopft: Wir haben ein gemeinsames Evangelium.
Schirrmacher hat angekündigt, das Papier 2017 anlässlich des Reformationsjubiläums und der dann 50 Jahre alten Bewegung der katholischen charismatischen Erneuerung zu unterzeichnen.
Was für ein Zusammentreffen! Reformationsjubiläum 2017 fällt zusammen mit dem 50-jährigen Jubiläum der römisch-katholischen charismatischen Bewegung. Und dann gehen wir hin und machen eine gemeinsame Erklärung zwischen Vatikan und Evangelikalen auf der Basis des Textes von 1999.
Das wird hier einfach so gesagt. Kaum einer hat es gemerkt. Hier wird das Kreuz Christi verbogen und verdunkelt.
Ich denke, ihr Lieben, es ist höchste Zeit, wirklich die Alarmglocken zu läuten und zu erinnern an ein Zitat von Charles Haddon Spurgeon, der die Lage ähnlich beurteilt hat wie Helmut Frey.
Schon vor mehr als hundert Jahren hat Spurgeon seinen prophetischen Ruf erhoben mit folgenden Worten:
„Ihr Protestanten, die ihr heute eure Freiheiten wie Billigware verschleudert, ihr werdet einmal den Tag verfluchen, an dem ihr euch die alten Ketten wieder an die Knöchel fesseln ließet. Das Papsttum fesselte und tötete unsere Väter, und wir machen es zu unserer Nationalreligion.“
Nun, ganz so weit ist es bei uns noch nicht. Aber, ihr Lieben, wir müssen nüchtern sehen: Die römisch-katholische Kirche, die Charles Haddon Spurgeon vor Augen hatte, hat damals in ihren Grundlagen nichts anderes gelehrt als Papst Franziskus und seine Mitstreiter heute.
Spurgeon war der Fürst der Prediger, ein leidenschaftlicher Evangelist. Ging es nicht um überflüssige theologische Streitereien, sondern um die Seelen von Menschen.
Darum hat er an diesem Punkt, über den wir heute Nachmittag gesprochen haben, so leidenschaftlich gekämpft. Er wusste: Wenn das Evangelium verbogen wird, dann wird unsere Predigt hohl, dann wird das Schwert des Geistes stumpf, dann werden Glauben und Werke vermischt, dann wird die Heilsgewissheit zerstört, dann wird das einmalige Opfer unseres Herrn Jesus Christus für ergänzungsbedürftig erklärt, und dann wird Gott dem Vater die Ehre streitig gemacht, der doch die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden.
Darum, ihr Lieben, lasst uns die geistliche Waffenrüstung Gottes anziehen, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels.
Denn wir haben, so schreibt Paulus in Epheser 6, nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.
Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt.
So steht nun fest: Umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit, eben jener Gerechtigkeit, die Christus schenkt, und an den Beinen gestiefelt, bereit einzutreten für das Evangelium des Friedens.
Vor allen Dingen aber ergreift den Schild des Glaubens, mit dem ihr alle feurigen Pfeile des Bösen auslöschen könnt, und nehmt den Helm des Heils – er meint hier den Helm der Heilsgewissheit, der Hoffnung auf das Heil – und das Schwert des Geistes, welches das Wort Gottes ist.
Das ist unser Auftrag in dieser Stunde.
Und, ihr Lieben, wir dürfen den Kampf für die Wahrheit des Evangeliums fröhlich und getrost führen. Wir müssen ihn nicht verbissen führen, wir müssen ihn nicht verzweifelt führen, weil unser Herr versprochen hat, dass er selbst sein Evangelium und seine Gemeinde erhalten wird bis ans Ende der Tage.
Darum sollen diese beiden Verse hier am Schluss stehen:
Unser Herr hat versprochen: „Es wird gepredigt werden dieses Evangelium vom Reich Gottes in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann, dann erst wird das Ende kommen.“
Und in Matthäus 16,18 hat unser Herr uns zugesagt: „Ich will meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“
Unser Herr selbst wird dafür sorgen, dass sein Kreuz immer wieder hell aufleuchtet, auch dann, wenn Menschen – absichtlich oder unabsichtlich – dieses Kreuz verbiegen, es verdecken, es verachten oder es verbannen.
Es wird ihnen nicht gelingen, es kann ihnen nicht gelingen – so wie in Ost-Berlin.
Dort ließ der langjährige Machthaber Walter Ulbricht eine Kirche nach der anderen abreißen als Relikte einer überholten Zeit. Dafür schuf man andere Prachtbauten, wie etwa den 400 Meter hohen Fernsehturm direkt am Alexanderplatz, viele von Ihnen werden ihn kennen.
Das galt als Wahrzeichen dieser Fernsehtürme für den Sieg der Technik und für den Stolz des sozialistischen Menschen.
Aber dann passierte etwas, womit Ulbricht nicht gerechnet hatte. Es passierte etwas, was seine stolzen Architekten nicht bedacht hatten, was aber jeder Berlinbesucher bis heute sehen kann.
Als die metallfarbene Kuppel fertig war, da staunten die Leute nicht schlecht. Im Sonnenlicht zeichnete sich auf allen Seiten der Metallkuppel – je nachdem, von welcher Seite man den Turm betrachtete – ein riesiges leuchtendes Kreuz ab.
Wegen der Krümmung der Kugel spiegelte sich die Sonne nicht wie auf einer Fläche, sondern durch die Brechung des Lichtes eben in der Gestalt eines Kreuzes auf allen Seiten dieser Kuppel.
Und das war und ist wie eine Botschaft aus der Ewigkeit:
Das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus ist unbesiegbar, und es wird leuchten bis ans Ende dieser Zeit über unserer Welt als Zuflucht für Sünder und als Lobpreis zur Ehre unseres Gottes.
Das Kreuz als unbesiegbares Zeichen und die Strategien der Abwehr
Aber das Kreuz steht da, es steht mitten in der Welt. So wie es Horatius Bonar, der schottische Prediger des neunzehnten Jahrhunderts, besungen hat und wie es die Generation unserer Großeltern in der deutschen Übersetzung nachgesungen hat:
Das Kreuz, es steht fest, Halleluja, Halleluja,
wie wild der Sturm auch bläst, Halleluja, Halleluja,
die Hölle erhebt ihr Haupt, es droht die Welt und schnaubt,
das Kreuz uns keiner raubt, Halleluja, rühmt das Kreuz.
Es steht da und fordert jeden Menschen heraus, der über diese Erde geht.
So haben die Sünder aller Länder ihre Strategien entwickelt, um sich gegen das Kreuz zu schützen, um sich gegen das Kreuz zu immunisieren und um sich gegenüber dem Kreuz abzuschotten. Die Bekämpfung des Kreuzes zieht sich wie eine endlose Spur durch die Geschichte.
Wir haben festgestellt, dass es eine weitreichende Verachtung des Kreuzes gibt. Ich erinnere noch einmal an Wolfgang Bühnes Zitate von heute Vormittag: Heinrich Heine, Goethe, Nietzsche, Uta Ranke-Heinemann – es ist fast eine zu große Ehre für die Dame, in dieser Zitatreihe genannt zu werden.
Ich füge noch ein paar weitere verachtende Zitate zum Kreuz hinzu:
Der Koran sagt über Isa (Jesus), der eine Karikatur von Jesus ist, in Sure 4: „Doch ermordeten sie ihn nicht und kreuzigten ihn nicht, sondern nur einen ihm ähnlichen.“
Der katholische Theologe und Psychologe Eugen Drewermann spricht mit seinem Einwand, denke ich, vielen aus dem Herzen, wenn er sagt: „Der Gedanke, dass Gott einen Menschen töten muss, um sich mit der Welt zu versöhnen, macht mir Gott nicht vertrauenswürdig, sondern lässt ihn blutrünstig, barbarisch und roh erscheinen.“
Ein typisches Beispiel für die evangelische Schultheologie ist Rudolf Bultmann. Er wollte die Sündebedeutung des Todes Jesu am liebsten ganz aus der Verkündigung verbannen. Er sagt: „Die Aussage, dass ein menschgewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünden der Menschheit sühnt, das ist primitive Mythologie.“ Diese Mythologie könne man nicht mehr sinnvoll existenzial interpretieren, sondern nur noch aus den Texten eliminieren, also entfernen.
An seinem Grünen Donnerstag schreibt er in ganz ähnlichem Duktus: „Gott, der den Tod seines Sohnes braucht, um uns vergeben zu können, wäre ein sadistischer Gott. Das Kreuz ist nicht die Bedingung, dass Gott uns vergibt.“
Bultmann war ja häufiger Gastautor der evangelikalen Zeitschrift Aufatmen an Semmergrün, und in Aufatmen hat er einmal zum Tod Jesu Folgendes geschrieben: „Der Kern der biblischen Botschaft ist: Gott vergibt uns die Schuld, weil er Gott ist, weil er barmherzig ist und weil er gnädig ist – und nicht, weil Jesus am Kreuz gestorben ist.“
Eine weitere Stimme in dieser Ablehnungsfront ist die feministische Theologie. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, so sagt man dort, sei typisch männliche Theologie, bedingt durch den Ödipuskomplex. Man solle nicht mehr vom Tod Jesu reden. Dem Tod sei überhaupt nichts Positives zu entnehmen; nur Jesu Leben sei heilbringend, nicht aber sein Tod.
Und schließlich ein letztes Zitat in dieser Reihe von Nikolaus Schneider. Er ist immer noch der amtierende Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, also der höchste Repräsentant der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Nikolaus Schneider hat sich bereits 2009 in einem öffentlichen Statement von der Lehre distanziert, dass Jesus am Kreuz stellvertretend die Strafe für unsere Schuld auf sich genommen habe. Gott brauche kein Sühnopfer, so Nikolaus Schneider, denn es müsse ja nicht sein Zorn durch unschuldiges Leiden besänftigt werden.
Die Verharmlosung des Kreuzes in der EKD und die Folgen
Und ganz in diesem Sinne hat erst vor wenigen Monaten die EKD, also die Dachorganisation der Landeskirchen, eine Studie veröffentlicht. Diese trägt den Titel „Rechtfertigung und Freiheit – 500 Jahre Reformation“ und wurde auch im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017 herausgegeben.
Die Studie umschifft das Thema Rechtfertigung wie die Katze den heißen Brei. Es heißt dort, Luther habe in einer Welt gelebt, in der Gott als Gerichtsherr über das Leben der Menschen urteilt und Sünde straft. Luthers Frage lautete: Mit welchen Gaben kann der Mensch seine Schuld vor Gott bezahlen? Wie kann er so leben, dass er der Strafe für nicht bezahlte Sünde entgeht?
Damals, so schreibt die Studie, habe die Vorstellung gegolten, dass Gott alle Menschen zur Rechenschaft zieht. Doch auf der nächsten Seite wird der Leser beruhigt: Die heutige Mehrheitsfrömmigkeit habe diese Frage nicht mehr. Nach dem Motto: Wenn die heutige Mehrheitsfrömmigkeit diese Frage nicht mehr stellt, dann sei sie auch nicht mehr wichtig.
Damit wird nahegelegt, die verzweifelte Suche nach dem gnädigen Gott könne getrost abgebrochen werden. Diese verzweifelte Suche sei nur damals für die Menschen wichtig gewesen – mehr oder weniger eine Zeiterscheinung. Inzwischen habe der Mensch ganz andere Fragen. Es gehe heute nicht mehr um die Angst vor der Hölle, sondern um die Hölle auf Erden.
Der Rest des Buchs ist dann ein einziger krampfhafter Versuch, unter Berufung auf die Reformation und mit teilweise frommen Worten, etwas völlig anderes zu behaupten als das, was die Reformatoren verkündet haben.
Das sind ganz unterschiedliche Beispiele für die Verachtung, Verharmlosung und Verneinung des Kreuzes Jesu Christi.
Das Hauptproblem: Das verbogene Kreuz
Aber damit, liebe Geschwister, haben wir die größte Not unserer Tage noch gar nicht benannt. Das Hauptproblem ist nicht das verachtete Kreuz, sondern das verbogene Kreuz – das ist unser Thema. Verbogen heißt verändert, umgedreht, verfälscht in seiner Bedeutung, verzerrt.
Wissen Sie, wo das Kreuz verachtet wird, da lässt sich das noch verhältnismäßig leicht durchschauen. Obwohl sogar diese Denkschrift einigen Zuspruch von evangelikaler Seite bekam: Der Direktor der Evangelistenschule Johanneum sagte zu dieser Denkschrift, man könne sich über diesen Text nur freuen. Dazu würde ich sagen: Man kann sich über diesen Kommentar nur wundern. Aber normalerweise kann man die Verachtung des Kreuzes durchschauen.
Wenn jedoch das Kreuz verbogen wird, ist das oft auf den ersten Blick nicht erkennbar. Denn die Verbiegung präsentiert sich nicht als Kritik am Kreuz, sondern preist sich als Neuentdeckung, als Neuinterpretation des Kreuzes an.
Und, ihr Lieben, die Dramatik unserer Tage besteht darin, dass diese Entwicklungen im engeren oder weiteren Zusammenhang mit der evangelikalen Welt stehen. Das Donnergrollen kommt immer näher. Ja, das Kreuz ist irgendwie noch da. Es wird nicht ausdrücklich geleugnet, es wird nicht explizit abgelehnt; man spricht noch davon, manchmal. Aber es ist nicht mehr dasselbe Kreuz, das Jesus und die Apostel verkündigt haben. Es ist nicht mehr das Kreuz aus dem Neuen Testament, es ist nicht mehr das Kreuz, an dem Jesus sein Leben für uns dahingegeben hat, um stellvertretend für uns die Strafe auf sich zu nehmen, die uns in die Hölle gebracht hätte.
Und das Problem dieses verbogenen Kreuzes ist nicht neu. Paulus hat uns dringend aufgefordert, wie ein Luchs darauf zu achten, dass das Kreuz nicht zunichtegemacht wird. Es geht um die Ehre des Gekreuzigten, und es geht um die Rettung der Verlorenen.
Deshalb, liebe Geschwister, müssen wir diese Verbiegungen erkennen, wir müssen sie durchschauen, wir müssen sie enttarnen, wir müssen sie durchblicken. Wir müssen das um unserer Kinder willen tun, um unserer Hauskreise willen, um unserer Gemeinden willen – auch um unserer ungläubigen Nachbarn willen, denen wir das Evangelium schulden.
Wer das Wasser in der Wüste kennt und es verschweigt, der ist schuld, wenn Sterbende es übersehen. Wer im Moor die festen Wege kennt und sie nicht zeigt, der ist schuld daran, wenn andere untergehen. Falsche Lehre ist das Moor, und auf den festen Wegen kann ich nur bleiben, wenn ich weiß, wo das Moor anfängt.
Die biblische Lehre vom Kreuz als Maßstab
Und darum müssen wir uns jetzt fragen: Woran kann ich diese Verbiegungen des Kreuzes erkennen?
Dazu müssen wir uns noch einmal klar machen, was die Bibel über das Kreuz lehrt. Ich will es nur noch einmal zusammenfassen.
Die entscheidende Frage am Kreuz lautet: Wie kann Gott Sünder begnadigen und trotzdem heilig und gerecht bleiben? Das ist die Frage von Paulus. Wie kann Gott an Sündern nicht ahnden und trotzdem gerecht bleiben?
Die einzige Antwort darauf ist, dass ein anderer stellvertretend die Strafe für uns erträgt – für uns, die wir diese Strafe verdient hätten. Dann kann Gott beides: Er kann uns begnadigen und trotzdem heilig und gerecht bleiben, weil Christus durch seinen Sühnetod die gerechte Strafe bezahlt hat.
So sagt Paulus in Römer 3,26: Gott erweist in dieser Zeit, also jetzt, wo Christus am Kreuz stirbt, seine Gerechtigkeit, und zwar, dass er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der da ist aus dem Glauben an Christus.
Das ist die Botschaft vom Kreuz.
Diese Begnadigung hat eine juristische Seite und eine persönliche Seite. Die juristische Seite beschreibt die Bibel mit dem Begriff der Rechtfertigung: Gott spricht uns direkt an. Die persönliche Seite beschreibt die Bibel mit dem Begriff der Versöhnung: Gott nimmt uns an als seine Kinder und versöhnt uns mit sich.
Es ist beides: juristisch und persönlich.
Erste Verbiegung: Das Kreuz als Demonstration der Liebe Gottes
Jetzt wollen wir fragen, worin die Verbiegungen des Kreuzes bestehen.
Das Erste, was wir hier sehen, ist folgende Verbiegung: Das Kreuz wird verbogen zur Demonstration der Liebe Gottes. Das klingt zunächst gut. Das Kreuz wird als Demonstration der Liebe Gottes dargestellt. Kennen wir nicht alle Predigtpassagen wie die folgende?
Am Kreuz beweist Jesus, wie sehr Gott uns liebt, wie wichtig wir ihm sind. Er nimmt sogar diese Qualen auf sich. Für ihn ist kein Preis zu hoch. Vom Kreuz her ruft Jesus dir zu: „Ich bin für dich da, ich erwarte dich mit offenen Armen, ich bete auch noch für meine Feinde.“ Jetzt muss keiner mehr zweifeln, dass seine Liebe allen Hass besiegt.
Das klingt gut, und hier wird das Kreuz vor allem als Demonstration der göttlichen Liebe gepredigt. Das ist nicht falsch, aber es ist zu wenig. Hier wird werbend und warmherzig vom Kreuz gesprochen, ohne die Sache der Sühne und Versöhnung zur Sprache zu bringen. Es wird nicht einmal gesagt, warum Jesus sterben musste, nämlich zur Sühne für unsere Sünden. Das ist in Gottes Augen auch ein juristischer Akt.
Wenn das Kreuz nur zur Demonstration der Liebe Gottes dient, dann würde dem Sünder das Wichtigste vorenthalten. Am Kreuz zeigt Gott uns nicht nur etwas von sich, sondern am Kreuz tut Gott etwas für uns.
Diese Verkürzung und Verwirrung gab es bereits im Mittelalter. Petrus Abaelardus hat es dort ganz berühmt gelehrt. Er propagierte die These, dass das Kreuz Jesu in erster Linie als Demonstration der göttlichen Liebe dient. Gottes vollkommene Liebe weckt im Menschen die Gegenliebe. Wenn er diese vollkommene Liebe Gottes sieht, dann weckt sie die Gegenliebe bei uns. Diese Gegenliebe bewirkt, dass wir uns von der Sünde abkehren.
In diesem Fall hat das Kreuz bei Abaelardus keine direkte Wirkung, sondern nur eine indirekte. Christus musste nicht leiden, damit Gott Sünden vergeben kann. Das Leiden soll seine Liebe beweisen, und diese Liebe soll meine Gegenliebe reizen und bewirken, dass ich mich von der Sünde abkehre.
Darin steckt natürlich eine Teilwahrheit. Ja, Jesus hat uns in seinem Leiden auch ein Vorbild hinterlassen (1. Petrus 2,21). Paulus kann sagen: „Gott zeigt seine Liebe zu uns, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Römer 5,8). Aber die Hauptbedeutung dieses Erweises am Kreuz liegt eben nicht in der Demonstration von Gottes Liebe, sondern in der Aktion von Gottes Liebe.
Die Aktion von Gottes Liebe ist die Tilgung unserer Schuld. Am Kreuz zeigt Gott uns nicht nur etwas über sich, vielmehr tut er konkret etwas für uns.
Das ist der erste Fall von verbogenem Kreuz: verbogen zur Demonstration der Liebe Gottes.
Zweite Verbiegung: Das Kreuz als religiöse Begründung für ethische Forderungen
Damit kommen wir zu einem zweiten Fall: Das Kreuz wird verbogen, und zwar zur religiösen Begründung für ethische Forderungen. Damit bewegen wir uns auf dem Feld der Emerging Church, auch der sogenannten missionalen Theologie.
Sie wissen, die Emerging Church ist keine geschlossene Schule, sondern umfasst verschiedene Ausprägungen. Dennoch gibt es zentrale Gemeinsamkeiten. Wichtige Namen in Deutschland sind unter anderem Tobias Feix, Johannes Reimer, Fabian Vogt und viele andere.
Ich möchte hier nur eine dramatische Auswirkung dieser Denkweise benennen: Die Emerging Church verändert den Sinn des Evangeliums und damit auch die Bedeutung des Kreuzes. Das Kreuz ist dort nicht in erster Linie der Ort, an dem Jesus für meine Schuld stirbt.
Ich habe hier ein Thesenpapier von Johannes Reimer vorliegen, das er anlässlich einer Diskussionstagung im Januar 2013 unter dem Thema „Evangelisation – Grund, Motiv, Ziel“ entworfen hat. Auf vier Seiten wird entfaltet, dass weder das Kreuz Christi noch der Sühnetod, den er am Kreuz für uns gestorben ist, vorkommt. Der Sühnetod wird nur an einer einzigen Bibelstelle erwähnt, die aber in einem ganz anderen Sinne gedeutet wird.
Das Kreuz ist nicht der Ort, an dem Jesus für unsere Schuld stirbt. Reimers Schüler Tobias Feix zeigt dann in einem Aufsatz, was im Denkrahmen der Emerging Church mit dem Kreuz geschieht. Er sagt, das Kreuz dient der Transformation. Der Aufsatz heißt „Aspekte der Transformation durch das Kreuz“.
Was soll das Kreuz dort bewirken? Das Kreuz wird zum Anstoß, zur Motivation, zur religiösen Verstärkung – wofür? Für ethische Forderungen. Diese ethischen Forderungen, die er entfaltet, sind größtenteils innerweltlich und politisch ausgerichtet. Es geht um Forderungen für die Bereiche Politik, Ökonomie, Kultur, Ökologie und Soziologie. Dort soll das Evangelium Veränderung bewirken und uns zu politischem Einsatz bewegen.
Ich denke, hier sehen wir den Unterschied: In der Bibel handelt das Evangelium davon, was Gott tut. Hier bei Falks und Reimer wird das Evangelium zu etwas, das wir tun müssen. Das Evangelium wird zum Gesetz.
Johannes Reimer hat einmal gesagt: „Nichts wäre heute wichtiger als die Entscheidung der Christen, das Reich Gottes in der Welt mit den Menschen zusammenzubauen. Nicht für sie und erst recht nicht gegen sie, also die Nichtchristen, sondern mit ihnen. Christen und Nichtchristen bauen gemeinsam das Reich Gottes in der Welt. Das wäre die anstehende Entscheidung.“
Das Evangelium wird zum Gesetz. Aus dem Kreuz, an dem Jesus für mich stirbt, wird eine Motivation zu politischem Handeln. Aus dem Geschenk der Sündenvergebung wird eine Forderung zum Gutes tun. Aus dem „Es ist vollbracht“ wird ein „Nun vollbringe mal“.
Deshalb kann Tobias Falks in einem Interview in diesem Sinne auch behaupten: „Das Evangelium zeigt sich auch im sozialen Miteinander.“ Damit ist klar, dass er mit dem Evangelium hier nicht meinen kann, was Christus für uns am Kreuz getan hat. Denn das zeigt sich nicht im sozialen Miteinander.
Falks verwechselt die ethischen Folgen des Evangeliums mit dem Evangelium selbst und verliert dadurch das Evangelium.
Als William Wilberforce Christ wurde, trieb es ihn dazu, zur Abschaffung der Sklaverei beizutragen. Aber ihm war immer klar, dass dies die Folge seines Christseins ist – dass er als Politiker Verantwortung übernimmt. Die Abschaffung der Sklaverei kann jedoch niemals ersetzen, dass er durch Jesus Christus vom Tod und der Hölle errettet wurde.
Wer das Kreuz verbiegt, wer das Kreuz zum Gesetz macht, verliert seinen Trost und seine Rettung.
Andere Vertreter der Emerging Church sind an dieser Stelle noch weitergegangen. Sie haben sich offen gegen den Sühnetod Jesu ausgesprochen. Brian McLaren zum Beispiel gilt als einer der Vordenker der Emerging Church-Bewegung in Amerika. Nach ihm ist die Lehre vom stellvertretenden Sühneleiden Jesu keine verbindliche Lehre, sondern nur eine mögliche Erklärung für Jesu Tod – unter anderem.
McLaren fragt einmal, warum die Bestrafung eines Unschuldigen der Versöhnung mit Gott dienen könne. In einem seiner Bücher lässt er einem Protagonisten namens Kelly folgende gotteslästerliche Aussage in den Mund legen: „Das hört sich lediglich wie eine weitere Ungerechtigkeit in der kosmischen Gleichung an.“ Die Rede vom Kreuz klingt für ihn wie göttlicher Kindesmissbrauch.
Das Kreuz wird zur religiösen Begründung für ethische Forderungen verbogen. Es bleibt nur noch die moralische Abzweckung im Rahmen der Emerging Church.
Dritte Verbiegung: Das Kreuz als Symbol des Sieges Christi
Und dann gibt es einen dritten Fall von verbogenem Kreuz: Das Kreuz wird zum Symbol des Sieges Christi gemacht. Auch das klingt doch wieder gut. Wissen Sie, das ist so verführerisch, weil es so gut klingt.
Man sagt dort, das Kreuz sei ein Symbol dafür, dass Jesus durch Kreuz und Auferstehung die Herrschaft als König im Universum angetreten habe. Doch was fehlt hier? Es fehlt die entscheidende Tat, die Jesus am Kreuz selbst vollbracht hat: Er starb für meine Schuld. Das fehlt.
Das wirkliche Kreuz, liebe Zuhörer, ist viel, viel mehr als nur allgemein ein Symbol des Sieges. Das wirkliche Kreuz ist zuallererst der konkrete Ort, an dem Jesus das Sühnopfer für die Sünden der Welt gebracht hat. Ein Symbol ist nur ein Zeichen, aber am Kreuz ist wirklich etwas passiert.
Diese Verkürzung des Kreuzes zum Symbol des Sieges Christi ist ein Baustein in einem großen Gebäude, das sich die neue Paulusperspektive nennt. Da habt ihr bestimmt schon davon gehört: neue Paulusperspektive.
Die neue Paulusperspektive gehört wohl zu den Irrlehren, die zurzeit in evangelikalen Kreisen besonders viel Einfluss gewinnen. Ihr bekanntester Vertreter ist N. T. Wright, auch Tom Wright genannt. Er ist Professor für Neues Testament in Schottland und war von 2003 bis 2010 Bischof in der anglikanischen Kirche in Durham.
Die neue Paulusperspektive und ihre Sicht auf das Kreuz
Was lehrt die neue Paulusperspektive nun über das Kreuz Jesu? Wir konzentrieren uns hier nur auf diesen einen Punkt.
Die neue Paulusperspektive betont, dass das Kreuz Jesu nicht nur als ein Opfer zur Sühne der Sünden verstanden werden sollte. Vielmehr sieht sie das Kreuz als ein zentrales Ereignis, das die Beziehung zwischen Gott und den Menschen grundlegend verändert.
Im Mittelpunkt steht die Idee, dass durch das Kreuz eine neue Gemeinschaft entsteht, die nicht mehr an die Einhaltung des Gesetzes gebunden ist. Stattdessen wird das Heil durch den Glauben an Jesus Christus vermittelt. Das Kreuz zeigt somit Gottes Gerechtigkeit und seine Treue zu seinem Bund mit den Menschen.
Diese Sichtweise hebt hervor, dass das Kreuz Jesu auch eine soziale Dimension hat. Es stellt die bestehende Ordnung in Frage und lädt Menschen aller Herkunft ein, Teil der neuen Gemeinschaft zu werden. So wird das Kreuz zu einem Symbol für Versöhnung und Einheit.
Zusammenfassend lehrt die neue Paulusperspektive, dass das Kreuz Jesu die Grundlage für eine neue Beziehung zwischen Gott und den Menschen bildet. Diese Beziehung ist geprägt von Glaube, Gemeinschaft und Versöhnung, unabhängig von der Einhaltung des Gesetzes.
Die neue Paulusperspektive und die Rechtfertigung
Was sagt die neue Paulusperspektive über das Kreuz? Nach N. T. Wright haben die Reformatoren den Apostel Paulus völlig falsch verstanden – insbesondere in Bezug auf ihr Kernstück, nämlich die Rechtfertigungslehre. Es ist gut, dass Wright und einige andere jetzt kommen und uns endlich darüber aufklären, dass die Reformatoren und wir alle Paulus jahrhundertelang falsch verstanden haben.
Beim Kreuz, so Wright, geht es im Kern nicht darum, wie ein Sünder mit Gott versöhnt wird. Die Rechtfertigungslehre, wie sie vom echten Apostel Paulus gelehrt wurde, habe kaum etwas mit persönlicher Errettung von Sünde und Schuld zu tun.
Das Problem der Juden nach der neuen Paulusperspektive war nicht ihre vermeintliche Werkgerechtigkeit, sondern ihr elitäres Denken und ihre selbstgerechte Abschottung gegenüber den Heiden. Das war ihr Problem. Wright behauptet, Paulus werfe den Juden seiner Zeit nicht Gesetzlichkeit oder Werkgerechtigkeit vor. Ihr Hauptfehler bestand nicht darin, dass sie sich auf ihre Taten gegenüber Gott verließen, die nicht ausreichten, sondern darin, dass sie die Heiden nicht an den Tisch im Hause Gottes lassen wollten.
Das Judentum seiner Zeit, so Wright, habe gar keine Werkgerechtigkeit vertreten. Er hat die neue Paulusperspektive nicht erfunden – vor zwanzig Jahren gab es ähnliche Ansätze –, aber er hat sie popularisiert. Diese Behauptung lässt sich jedoch leicht widerlegen. Denken Sie nur an Jesu Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner in Lukas 18. Dort geißelt Jesus die Werkgerechtigkeit der Pharisäer. Ich denke, Jesus und Paulus verstanden das Judentum des ersten Jahrhunderts besser als Wright und sein Kollege Sanders, die zweitausend Jahre später lebten.
Was sagt die neue Paulusperspektive zur Rechtfertigung? Das Neue Testament lehrt, dass es in der Rechtfertigung darum geht, wie man mit Gott versöhnt wird, wie man in den Himmel kommt und wie man ein Kind Gottes wird. Die neue Paulusperspektive hingegen lehrt, dass es bei der Rechtfertigung darum geht, wie wir zu einer neuen Gemeinschaft werden – Juden und Heiden, und später dann auch evangelische und katholische Christen.
Demnach ist die Botschaft des Galaterbriefes nach der neuen Paulusperspektive nicht das Problem der Werkgerechtigkeit. Wir haben es aus dem Wort Gottes so verstanden, dass Paulus dort die Leute vor Werkgerechtigkeit warnt. Er sagt, sobald ihr die Beschneidung zusätzlich zum Glauben an Jesus fordert, zerstört ihr das Evangelium; es ist ein anderes Evangelium. Aber nein, sagt die neue Paulusperspektive, das Problem im Galaterbrief ist nicht die Werkgerechtigkeit, sondern dass die Juden sich zu sehr gegenüber den Heiden abschotteten und sich endlich öffnen sollten.
Hier muss man aufpassen: Während die bibeltreue Auslegung im Galaterbrief zu Recht eine Warnung vor der Ökumene enthält, dreht Wright den Spieß um. Er verbiegt den Galaterbrief gewissermaßen und macht aus ihm eine Verpflichtung zur Ökumene. Er sagt, der Galaterbrief sei die eigentliche ökumenische Epistel. Der Galaterbrief besage, so Wright, dass alle, die an Jesus glauben, an denselben Tisch gehören.
Doch was bedeutet „an Jesus glauben“? Das bleibt bei Wright sehr unklar, völlig unbestimmt und schwammig. Denn das Evangelium ist für ihn nicht die gute Nachricht, dass Christus am Kreuz für unsere Schuld gestorben und auferstanden ist und dass, wer dies im Glauben ergreift, Gottes Kind wird. Stattdessen sagt er: „Das Evangelium ist die Bekanntgabe, dass Jesus durch Tod und Auferstehung zum Herrn der Welt intronisiert wurde.“ Das Evangelium ist die Ausrufung eines königlichen Sieges, aber nicht die Botschaft, dass Jesus Sünde rettet.
Über das Kreuz Christi lehrt das Neue Testament, dass es der Ort ist, wo Jesus meine Strafe trug. Die neue Paulusperspektive macht daraus jedoch ein Symbol des Sieges über den Tod. Das ist zu wenig.
Hören wir noch einmal Wright im Originalton: Er sagt, das Evangelium sei kein System, das erklärt, wie Menschen gerettet werden. Das Evangelium sei kein System, das erklärt, wie Menschen errettet werden, sondern das Kreuz sei nur ein Symbol des Sieges – und eben nicht der Ort, an dem am Karfreitag das Gericht über meine Schuld folgte.
Das ist gravierend. Wenn persönliche Rettung nicht mehr so wichtig ist, wundert es nicht, dass N. T. Wright die Hölle total verharmlost. Er behauptet, die klassische Verkündigung sei hier von mittelalterlichen Vorstellungen völlig überfrachtet. Die Hölle sei kein wirklicher Ort.
Phil Johnson, einer der engeren theologischen Mitarbeiter von John MacArthur, fasste die Neue Paulusperspektive so zusammen: „Wrights Verständnis von der Rechtfertigung ist der Versuch, die Reformation umzukehren. Wir müssen uns solchen Bemühungen widersetzen. Es geht um Leben und Tod, um ewiges Leben und ewigen Tod.“
Liebe Geschwister, diese neue Paulusperspektive ist – man kann es nicht anders sagen – eine krasse Irrlehre. Umso mehr erstaunt es, dass Wright auch in evangelikalen Kreisen zunehmend Gehör findet. Immer mehr seiner Schriften werden ins Deutsche übersetzt, viele davon unter anderem im Franke Verlag.
Im Januar fand eine größere Studientagung mit ihm auf Sankt Chrischona bei Basel statt. Im Juni folgte dann eine Seminarwoche am Ökumenischen Institut der Universität Fribourg in der Schweiz. Dieses Institut ist katholisch und gründet sein Selbstverständnis auf das Zweite Vatikanische Konzil. Das Ökumenische Institut führte die Veranstaltung mit Wright nicht alleine durch, sondern hatte Mitveranstalter und Partnerorganisationen.
Zu diesen Mitveranstaltern und Partnerorganisationen gehörten diverse evangelikale Werke, unter anderem der Schweizer Zweig des Buzer Seminars. Der Direktor des gesamten Buzer Seminars ist bekanntlich Thomas Schirrmacher. Der Schweizer Zweig des Buzer Seminars gab einen Newsletter heraus, in dem eine ausgesprochen positive Würdigung des Wright-Seminars veröffentlicht wurde.
Vierte Verbiegung: Das Kreuz als Basis für ökumenische Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche
Kommen wir zu einer letzten Verbiegung des Kreuzes für heute. Diese vierte Verbiegung wird von der neuen Paulusperspektive massiv unterstützt.
Das Kreuz wird verbogen – ich fasse noch einmal zusammen: Erstens zur Demonstration der Liebe Gottes, zweitens zur religiösen Begründung für ethische Forderungen, was das Konzept der Emerging Church ist, drittens zum Symbol des Sieges Christi, was die neue Paulusperspektive darstellt, und viertens – und das ist das Letzte, was wir uns heute anschauen – wird das Kreuz verbogen zur Basis für ökumenische Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche.
Das Stichwort lautet Ökumene unter dem Kreuz. Die Argumentation lautet folgendermaßen: Ja, es gibt noch bestimmte Dogmen, die uns trennen, aber bei Jesus und seinem Evangelium sind wir uns doch wohl einig. Deshalb können wir auch in der Evangelisation zusammenarbeiten.
Diese Denkweise wurde unter den Evangelikalen vor allem durch die Evangelisation von ProChrist verbreitet. Erst jüngst hat der Geschäftsführer von ProChrist wieder diese Argumentation herangezogen: Man wäre doch stärker, wenn man eine größere Koalition bilden könnte.
Als Papst Benedikt im September 2011 seinen Deutschlandbesuch machte, wurde er von bekannten Evangelikalen mit einer Briefsammlung begrüßt. Gegen eine Briefbegrüßung ist zunächst nichts einzuwenden, aber schwieriger ist, dass diese Briefe unter dem Titel „Lieber Bruder in Rom – ein evangelischer Brief an den Papst“ veröffentlicht wurden.
Zu den Briefschreibern gehörten der Generalsekretär des CVJM Roland Werner, die damalige Leiterin des Instituts für Islamfragen der Evangelischen Allianz Christine Schirmacher, der Journalist Markus Spiker und der Evangelist Ulrich Parzany. Sie alle sprachen den höchsten Vertreter der römischen Lehre als „Bruder in Rom“ an und setzten damit voraus, dass man gemeinsam Jesus nachfolge.
Ulrich Parzany hat in seinem Brief immerhin zugestanden, dass die Unterschiede in Lehre und kirchlicher Ordnung beträchtlich seien. Gleichwohl fügte er hinzu, dies stelle kein Hindernis für gemeinsame evangelistische Anstrengungen dar. Damit unterstellt Parzany eine grundsätzliche Einigkeit im Hinblick auf das Evangelium.
Er schreibt weiter: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich als evangelischer Christ einmal den Papst bitten würde, die Evangelisation in Europa stärker voranzutreiben.“ Ehrlich gesagt hätte ich das auch nicht gedacht, dass jemand den Papst darum bitten würde.
Hier wird das Kreuz verbogen zu einer Basis für ökumenische Zusammenarbeit. Aber was lehrt die römische Kirche bis heute? Sie lehrt bis heute genau das, was der Galaterbrief als ein anderes Evangelium bezeichnet.
Die römische Kirche verneint und bestreitet bis heute, dass Jesus allein zur Rettung genügt. Bis heute gelten die klassischen Verurteilungen des Konzils von Trient, wo gerade der Glaube an das Evangelium abgelehnt wird.
Dort heißt es in den offiziellen katholischen Dokumenten: „Wer behauptet, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die um Christi willen die Sünden nachlässt, und dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerechtfertigt werden – wer das behauptet, und das ist in der Tat die Lehre, die Römer 3 offenbart, wer das behauptet, der sei ausgeschlossen.“
Mit anderen Worten: Wer behauptet, dass wir allein durch das Vertrauen auf Christus gerettet werden, der sei ausgeschlossen. Das ist aktuelle, gültige römisch-katholische Lehre.
Und wie können wir dann unter dieser Voraussetzung gemeinsam evangelisieren?
Erst im November 2013 hat Papst Franziskus in einem Lehrschreiben sein Verhältnis zu und sein Verständnis von Evangelisation dargelegt. Das Lehrschreiben trägt den Titel Evangelii Gaudium, also „Freude des Evangeliums“.
Das Spannende daran ist gar nicht der Inhalt dieses Schreibens. In diesem Schreiben werden bekannte römisch-katholische Positionen vertreten. Zum Beispiel schreibt der Papst dort: Jesus hinterließ uns seine Mutter als unsere Mutter. Erst nachdem er das getan hatte, konnte Jesus spüren, dass alles vollbracht war.
Zu Füßen des Kreuzes, in der höchsten Stunde der neuen Schöpfung, führt uns Christus zu Maria. Er führt uns zu ihr, weil er nicht will, dass wir ohne eine Mutter gehen.
Über den Islam schreibt der Papst in diesem Text, dass auch die Moslems sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den Barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird. Der Papst behauptet also klassisch katholisch, Allah sei Gott.
Er schreibt weiter: Die heiligen Schriften des Islam bewahren Teile der christlichen Lehre, Jesus und Maria sind Gegenstand tiefer Verehrung.
Der Koran spricht aber nicht von Jesus, sondern von Isa. Isa ist eine Karikatur von Jesus. Isa ist nicht auferstanden, Isa starb nicht am Kreuz, Isa ist nicht Gottes Sohn. Der Papst schreibt dies so, als sei der Isa der Jesus der Bibel.
Über die Nichtchristen schreibt Papst Franziskus: Auch sie können dank der ungeschuldeten göttlichen Initiative, wenn sie treu zu ihrem Gewissen stehen, durch Gottes Gnade gerechtfertigt werden.
Das heißt, auch Menschen, die nicht an Jesus glauben, können, wenn sie treu ihrem Gewissen folgen, unter bestimmten Umständen gerettet werden. Mit anderen Worten: Sie können auch ohne Jesus in den Himmel kommen.
Das alles ist nicht so sehr spannend. Wie will man von einem Papst auch erwarten, dass er anderes schreibt als Katholisches?
Spannend ist die Bewertung dieses päpstlichen Schreibens durch den Cheftheologen der Internationalen Evangelischen Allianz, Professor Thomas Schirrmacher, der zugleich Vorsitzender der Theologischen Kommission der weltweiten Evangelischen Allianz ist.
Schirrmacher sieht in diesem Schreiben wörtlich „bis auf das Schlusskapitel über Maria“ eine schon fast evangelikal zu nennende Bibelarbeit über Evangelium und Evangelisation. Er propagiert das auch.
Das ist ein doppelter Irrtum: Erstens kann man das Kapitel über Maria nicht vom Gesamtschreiben trennen, weil es aufs Innerste mit diesem verbunden ist. Zweitens ist auch das gesamte übrige Schreiben eine strotzende Gegenposition zu dem, was die Bibel lehrt.
Daran ändern auch Formulierungen wie diese nichts: „Ziel der Evangelisierung sei die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu.“ Inhaltlich besagt das noch überhaupt nichts darüber, wie diese Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu zu erfolgen habe, wenn gleichzeitig all das andere gilt, was der Papst in diesem Schreiben ebenfalls sagt.
Schirrmacher war es auch, der im Namen der weltweiten Evangelischen Allianz zusammen mit Vertretern des Vatikans und des Ökumenischen Rates der Kirchen – das ist also diese große liberale Ökumeneorganisation – den sogenannten Verhaltenskodex für Missionen auf den Weg gebracht hat.
Das heißt, man hat mit der Weltallianz, dem ÖRK und dem Vatikan gemeinsam ein Grundlagenpapier zur Mission beschlossen. Man hat also mit jenen Organisationen ein gemeinsames Grundlagenpapier zur Evangelisation beschlossen, die ein anderes Evangelium vertreten.
Das ist so ähnlich, als würde man gemeinsam mit Vegetariern darüber beraten, wie die Qualität des Rumpsteaks in Deutschland verbessert werden könnte.
Und es hat Folgen. Unsere Handlungen haben Folgen.
Hier werden die Grenzen immer mehr durchlässig gemacht zwischen wahrem Evangelium und falschem Evangelium. Das Kreuz wird verbogen.
Es wird jenen, die bestreiten, dass Jesus allein genügt – und das ist die Position des Papstes, sonst müsste er aufhören, Papst zu sein – zugestanden, sie würden ja auch das Evangelium verkünden, obwohl sie bestreiten, dass Jesus allein genügt.
Schirrmacher gehörte übrigens auch zu jenen Evangelikalen, die stolz davon berichtet haben, dass sie anlässlich der Amtseinführung des neuen Papstes von diesem empfangen wurden und ihm quasi zu seiner Amtseinführung gratulierten.
Die Anmaßungen des Papsttums und die Gefahr für das Evangelium
Was ist da geschehen? Evangelikale Vertreter haben ihre grundsätzliche Anerkennung einem Amt gegenüber dokumentiert. Dieses Amt ist jedoch durch eine dreifache Anmaßung gegenüber dem Gott der Bibel konstruiert.
Der Papst nennt sich Heiliger Vater. Heiliger Vater – doch heilig ist allein Gott. Er trägt den Titel Pontifex maximus, was bedeutet, dass er als oberster Brückenbauer zwischen Gott und Mensch gilt. Aber der oberste Brückenbauer zwischen Himmel und Erde ist allein unser Herr Jesus Christus.
Der Papst nennt sich auch Stellvertreter Jesu Christi auf Erden. Doch der wahre Stellvertreter Jesu Christi auf Erden ist allein der Heilige Geist, den Christus uns gegeben hat. Hier haben wir es mit einer dreifachen Anmaßung göttlicher Würde zu tun.
Die Gräben, die sich hier auftun, werden von manchen, die sich für evangelikale Führer halten, offenbar gar nicht mehr wahrgenommen. Doch das sind keine Nebenfragen. Es geht hier um den Kern des Evangeliums, um das Evangelium selbst.
Helmut Frey, der lange in Bielefeld gelebt und gelehrt hat, hat dies sehr deutlich gesehen. In einem Aufsatz über den Katholizismus schreibt er:
„Im Katholizismus nimmt Jesus eine andere Stellung ein als in der Bibel. Zwar steht er offiziell in der Mitte, aber weil die Bedeutung seines Kreuzestodes nicht in der Tiefe erkannt wird und der Schluss aus der Einmaligkeit seines Erlösungswerkes nicht gezogen wird, wird Jesus selbst durch Zwischeninstanzen in den Herzen der Menschen an die Seite gedrängt. Das geschieht durch die Kirche, die sein Werk auf Erden fortführt, durch den Papst, der seine Person auf Erden vertritt, durch Maria, die ihn im Himmel umstimmt, durch Heilige, die als kleine Schutzgötter geduldet werden. Jesu Hoheit und Jesu Liebe werden dadurch verdunkelt. Man versteht im Katholizismus nicht, dass alle Zwischen- und Nebeninstanzen am Kreuz hinweggefegt sind, dass dort das Gericht über die Welt und ihr Wesen vollstreckt ist und dass wir im Glauben wiedergeboren sind.“ (Zitat Ende)
Helmut Frey macht deutlich: An diesem Punkt geht es um das Solus Christus – um Christus allein – und um das Solafide, das heißt, um die Rettung allein durch das Vertrauen auf ihn. Es geht um den Kern des Evangeliums.
Und, ihr Lieben, die nächsten Schritte auf diesem verhängnisvollen Weg sind auch schon geplant. Das müssen wir wissen.
Ausblick: Gemeinsames Papier von Evangelikalen und Vatikan zum Reformationsjubiläum
Ende August, am 29. August, veröffentlichte idea folgende Meldung: Nach einem Gespräch mit Thomas Schirmacher sagte er: „Zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017 könnte es ein gemeinsames Papier zwischen Evangelikalen und dem Vatikan geben.“
Das bestätigte der Vorsitzende der theologischen Kommission, Professor Schirmacher, auf Anfrage von idea. Man habe Papst Franziskus bereits einen ersten Entwurf übergeben. Nun hört genau hier, wie der Titel dieses ersten Entwurfs lautet, den Schirmacher und andere abgegeben haben: Glaubenserklärung zur Einheit in der Mission.
Dieser Entwurf enthält im Kern den Text der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die 1999 zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Vatikan beschlossen wurde. Und wisst ihr, dieser Text zur Rechtfertigungslehre aus dem Jahr 1999 ist ein evangelisches Unterwerfungsdokument.
In diesem Text werden zwar etliche evangelisch vertraute Begriffe gebraucht, aber sie werden inhaltlich letztlich katholisch erklärt. Wenn man jetzt frank und frei sagt: „Ja, das ist die Grundlage, 1999 die gemeinsame Erklärung“, dann ist das der evangelische Offenbarungseid.
Weiter heißt es, in diesem Text soll eine Erklärung enthalten sein, dass Katholiken und Evangelikale in der Mission miteinander verbunden sind, weil sie das Evangelium von Jesus Christus verkündigen. Das ist noch einmal festgeklopft: Wir haben das eine gemeinsame Evangelium.
Schirmacher zufolge ist angedacht, das Papier 2017 anlässlich des Reformationsjubiläums und der dann 50 Jahre alten Bewegung der katholischen charismatischen Erneuerung zu unterzeichnen. Was für ein Zusammentreffen! Das Reformationsjubiläum 2017 fällt zusammen mit dem 50-jährigen Jubiläum der römisch-katholischen charismatischen Bewegung.
Und dann gehen wir hin und machen eine gemeinsame Erklärung zwischen Vatikan und Evangelikalen auf der Basis des Texts von 1999. Und das wird hier einfach so gesagt. Kaum einer hat es gemerkt. Hier wird das Kreuz Christi verbogen und verdunkelt.
Appell zur Wachsamkeit und geistlichen Bewaffnung
Ich denke, ihr Lieben, es ist höchste Zeit, wirklich die Alarmglocken zu läuten und an ein Zitat von Charles Haddon Spurgeon zu erinnern, der die Lage ähnlich beurteilt hat wie Helmut Frey. Schon vor mehr als hundert Jahren hat Spurgeon seinen prophetischen Ruf erhoben mit folgenden Worten:
Ihr Protestanten, die ihr heute eure Freiheiten wie Billigware verschleudert, ihr werdet einmal den Tag verfluchen, an dem ihr euch die alten Ketten wieder an die Knöchel legen ließet. Das Papsttum fesselte und tötete unsere Väter, und wir machen es zu unserer Nationalreligion.
Ganz so weit ist es bei uns noch nicht. Aber, ihr Lieben, wir müssen nüchtern sehen: Die römisch-katholische Kirche, die Charles Haddon Spurgeon vor Augen hatte, hat damals in ihren Grundlagen nichts anderes gelehrt als Papst Franziskus und seine Mitstreiter heute.
Spurgeon war der Fürst der Prediger, ein leidenschaftlicher Evangelist. Es ging ihm nicht um überflüssige theologische Streitereien, sondern um die Seelen von Menschen. Darum hat er an diesem Punkt, über den wir heute Nachmittag gesprochen haben, so leidenschaftlich gekämpft. Er wusste: Wenn das Evangelium verbogen wird, dann wird unsere Predigt hohl, dann wird das Schwert des Geistes stumpf. Dann werden Glauben und Werke vermischt, die Heilsgewissheit wird zerstört, das einmalige Opfer unseres Herrn Jesus Christus wird für ergänzungsbedürftig erklärt. Und dann wird Gott, dem Vater, die Ehre streitig gemacht, der doch die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden.
Darum, ihr Lieben, lasst uns die geistliche Waffenrüstung Gottes anziehen, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. Denn wir haben, so schreibt Paulus in Epheser 6, nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.
Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten, alles überwinden und das Feld behalten könnt. So steht nun fest: Umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angetan mit dem Panzer der Gerechtigkeit – eben jener Gerechtigkeit, die Christus schenkt – und an den Füßen gestiefelt, bereit einzutreten für das Evangelium des Friedens.
Vor allen Dingen aber ergreift den Schild des Glaubens, mit dem ihr alle feurigen Pfeile des Bösen auslöschen könnt. Nehmt den Helm des Heils, er meint hier den Helm der Heilsgewissheit, der Hoffnung auf das Heil, und das Schwert des Geistes, welches das Wort Gottes ist.
Das ist unser Auftrag in dieser Stunde. Und, ihr Lieben, wir dürfen den Kampf für die Wahrheit des Evangeliums fröhlich und getrost führen. Wir müssen ihn nicht verbissen führen, wir müssen ihn nicht verzweifelt führen, weil unser Herr versprochen hat, dass er selbst sein Evangelium und seine Gemeinde erhalten wird bis ans Ende der Tage.
Darum sollen diese beiden Verse hier am Schluss stehen: Unser Herr hat versprochen, es wird gepredigt werden, das Evangelium vom Reich Gottes in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann, erst dann, wird das Ende kommen (Matthäus 24,14).
Und in Matthäus 16,18 hat unser Herr uns zugesagt: Ich will meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.
Unser Herr selbst wird dafür sorgen, dass sein Kreuz immer wieder hell aufleuchtet, auch dann, wenn Menschen – absichtlich oder unabsichtlich – dieses Kreuz verbiegen, verdecken, verachten oder verbannen. Es wird ihnen nicht gelingen, es kann ihnen nicht gelingen.
Schlussbild: Das unbesiegbare Kreuz am Berliner Fernsehturm
So wie in Ostberlin, und damit schließe ich.
Der langjährige Machthaber Walter Ulbricht ließ eine Kirche nach der anderen abreißen, da sie als Relikte einer überholten Zeit galten. Stattdessen entstanden andere Prachtbauten, wie etwa der 400 Meter hohe Fernsehturm direkt am Alexanderplatz. Viele von Ihnen werden ihn kennen.
Der Fernsehturm galt als Wahrzeichen des Sieges der Technik und symbolisierte den Stolz des sozialistischen Menschen. Doch dann geschah etwas, womit Ulbricht nicht gerechnet hatte. Etwas, das seine stolzen Architekten nicht bedacht hatten und das jeder Berlinbesucher bis heute sehen kann.
Als die metallfarbene Kuppel fertiggestellt war, staunten die Leute nicht schlecht. Im Sonnenlicht zeichnete sich auf allen Seiten der Metallkuppel – je nachdem, von welcher Seite man den Turm betrachtete – ein riesiges, leuchtendes Kreuz ab.
Durch die Krümmung der Kugel spiegelte sich die Sonne nicht wie auf einer Fläche, sondern das Licht wurde so gebrochen, dass sich auf allen Seiten der Kuppel die Gestalt eines Kreuzes zeigte.
Das war und ist wie eine Botschaft aus der Ewigkeit: Das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus ist unbesiegbar. Es wird bis ans Ende dieser Zeit über unserer Welt leuchten – als Zuflucht für Sünder und als Lobpreis zur Ehre unseres Gottes.
