Ehescheidung – eine theologische Erwägung
Vortrag Nr. 2
Einführung und grundlegende Vorbemerkungen zum Neuen Testament
Kommen wir zum Neuen Testament. Drei Vorbemerkungen erscheinen mir am Anfang besonders wichtig.
Jesus und der Bund
Vorbemerkung Nr. 1
Jesus gehört als Person zum Alten Bund. Wir teilen als Christen die Bibel in das Alte und das Neue Testament ein, und diese Einteilung ist leider etwas irreführend, weil sie den Eindruck vermittelt, dass inhaltlich mit Jesus etwas völlig Neues beginnt. Das ist aber nur fast richtig. Jesus als Person gehört zum Alten Bund. Der Alte Bund wurde zwischen Gott und dem Volk Israel am Berg Sinai geschlossen und endet nicht mit der Geburt Jesu.
Jesus selbst predigt auf den Neuen Bund hin. Er spricht davon, dass das Reich Gottes nahe gekommen ist, aber es ist noch nicht voll da. Der Neue Bund bricht erst an, wenn Jesus stirbt, wenn am Pfingsten die Verheißung des Neuen Bundes durch die Ausgießung des Heiligen Geistes erfüllt wird und wenn etwa siebzig Jahre nach Christus der Alte Bund auch äußerlich durch die Zerstörung des Tempels endet.
Jesus gehört als Jude zum Judentum seiner Zeit. Er aß kein Schweinefleisch, hatte die Gewohnheit, samstags in die Synagoge zu gehen, und man findet ihn an den Feiertagen im Tempel in Jerusalem. Es ist wahr, dass er mit seinem Dienst die Grundlage für den Neuen Bund legt. Deshalb ist es auch richtig, in ihm mehr zu sehen als einen alttestamentarischen Propheten. Wenn Gott Mensch wird und einen Schritt aus dem Alten Bund heraus in den Neuen Bund macht, dann ist das gewaltig.
Gleichzeitig ist die Person Jesus von Nazareth bis zu ihrem Tod als Jude unter dem Gesetz. Bei Paulus hört sich das so an: Galater 4,4 „Als aber die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter dem Gesetz.“
Vorbemerkung Nr. 2
Jesus wollte das Gesetz nicht ändern. Im Alten Bund war es verboten, das Gesetz zu ändern. Das mosaische Gesetz ist da sehr klar. Was steht hier? 5. Mose 13,1: „Das ganze Wort, das ich euch gebiete, das sollt ihr bewahren, um es zu tun. Du sollst ihm nichts hinzufügen und nichts von ihm wegnehmen.“
Als Rabbi seiner Zeit war es Jesus verboten, das Gesetz zu ändern. Man macht ihm zwar oft den Vorwurf, dass er das tue, aber wir müssen verstehen, dass Jesus an keiner Stelle das Gesetz ändern will. Er selbst drückt es so aus: Matthäus 5,17 „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“
Man kann diese Stelle auf drei Weisen interpretieren:
Erstens betont Jesus, dass er die Gebote halten will.
Zweitens wird an den Stellen, wo im Gesetz typologisch auf den Messias hingewiesen wird – zum Beispiel beim Hohepriester, beim Passalam, beim Sabbat – sein Leben die tiefere Bedeutung, also die Erfüllung dieser Gebote, herausarbeiten.
Drittens können die Begriffe „auflösen“ und „erfüllen“ auch eine technische Bedeutung haben. Sie können in der Auseinandersetzung zwischen Rabbinern dafür stehen, dass man ein Gebot falsch oder richtig auslegt – also „auflösen“ im Sinne von falsch auslegen und „erfüllen“ im Sinne von richtig auslegen.
Und genau das tut Jesus. Er nimmt die gängige Auslegung seiner Zeit und widerspricht der rabbinischen Auslegung, ohne das Gesetz aufzulösen. Er wendet die Gebote richtig an.
Matthäus 5,18: „Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, soll nicht ein Jota oder ein Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschieht.“
Bis alles geschieht – das Ziel des Gesetzes ist es, das Kreuz und die Auferstehung vorzubereiten. Wenn alles geschehen ist, dann kommt das Gesetz zu seinem Ende. Dann wird nicht nur ein Jota oder ein Strichlein, sondern das Herzstück des Gesetzes – das Priestertum mit seinem aronitischen Hohenpriester, seinem irdischen Heiligtum und seinen Tieropfern – ersetzt und ein neuer und besserer Bund eingeführt.
Bis dahin dürfen auch die Jünger am Gesetz nichts ändern.
Matthäus 5,19: „Wer nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Himmelreich; wer sie aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.“
Und was die Jünger nicht dürfen, das tut eben auch Jesus nicht.
Vorbemerkung Nr. 3
Das Gesetz ist heilig und gerecht. Christen neigen leider dazu, auf das Alte Testament manchmal herabzublicken. Das Alte Testament kommt uns dann blutrünstig, archaisch und fremd vor.
Genau dieser Blick ist sehr schade, weil wir es auf diese Weise verpassen, das Alte Testament als das zu sehen, was es für uns sein will: eine schier unerschöpfliche Quelle der Weisheit.
Paulus schreibt einmal: „Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht.“ Und an anderer Stelle heißt es: Römer 7,12 „So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot heilig und gerecht und gut.“
Das Gesetz als solches ist nicht defizitär. Klar, wir müssen unterscheiden zwischen den Geboten, die sich in Jesus erfüllt haben, dem sogenannten Zeremonialgesetz, den Geboten, die gegeben wurden, um Israel als Volk vor Durchmischung zu bewahren – das sind zum Beispiel Speisegebote, Heiratsverbote, Vernichtung der Kanaaniter –, solchen Geboten, den Geboten, die ganz praktisch für eine bestimmte Zeit zu verstehen sind, wenn zum Beispiel die Not nur außerhalb des Lagers verrichtet werden durfte, und den moralischen Geboten, die ihre Grundlage im Charakter Gottes finden.
Wir müssen Unterschiede beachten. Aber wenn wir diese Unterscheidung einmal verstanden haben, ist es nicht schwer, hinter den Geboten die Prinzipien und ihre Weisheit zu erkennen und dann zu überlegen, wie man sie auf unsere Zeit übertragen kann.
Ich sage das deshalb, weil es beim Thema Scheidung eine Argumentation gibt, die ungefähr so geht: Am Anfang war Scheidung verboten. Dann kam das mosaische Gesetz, da war Scheidung zwar erlaubt, aber Gott hat es eigentlich nicht so gewollt. Und dann kam Jesus, der alles wieder mit einem strikten Nein zur Scheidung richtigstellt.
Vorsicht bei dieser gut gemeinten Beweisführung! Wer das behauptet, der behauptet, dass das Gesetz nicht heilig ist, dass es nicht den Gedanken Gottes entspricht, und er behauptet, dass Jesus das Gesetz geändert hat.
Genau genommen hat Jesus etwas vom Gesetz weggenommen, nämlich die Erlaubnis, sich scheiden zu lassen. Ich halte diese Behauptungen für höchst problematisch – oder um es noch genauer zu sagen: Es ist die Argumentationslinie der modernen Liberalen.
Immer dann, wenn mir ein Gebot nicht passt, behaupte ich einfach, dass man es im Licht dessen betrachten muss, was Jesus gesagt hat. Und auch wenn das nicht völlig falsch ist, weil Jesus tatsächlich falsche Auslegung korrigiert, so müssen wir darauf bestehen, dass Jesus das Gesetz nicht ändert und nicht außer Kraft setzt, weil er es als heilig und unantastbar betrachtet.
So viel zu den Vorbemerkungen.
Also noch einmal zusammengefasst:
Vorbemerkung Nr. 1: Jesus als Person gehört zum Alten Bund.
Vorbemerkung Nr. 2: Jesus wollte das Gesetz nicht ändern.
Vorbemerkung Nr. 3: Das Gesetz ist heilig und gerecht.
Mini-Exkurs zur Hermeneutik der Bergpredigt
Bevor wir weitermachen, ein kurzer Exkurs, der mir wichtig ist, weil wir gleich Texte aus der Bergpredigt betrachten. Es ist in der Auslegung von Texten unglaublich wichtig, sich der Hermeneutik – also der Regeln, die wir in der Auslegung anwenden – bewusst zu sein.
Wie ist die Bergpredigt grundsätzlich zu verstehen? Darum soll es kurz gehen. Ich wähle ein Beispiel, das noch nichts mit Scheidung zu tun hat, um zu zeigen, wie situativ Jesus in der Bergpredigt redet und argumentiert.
In Matthäus 5,34 heißt es: „Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron...“ und dann geht es weiter mit „schwört überhaupt nicht.“
Man kann das lesen und denken: Alles klar, schwören ist als Christ nicht erlaubt.
Nun zum Problem: Das Gesetz erlaubt nicht nur das Schwören, sondern regelt auch, wie es zu geschehen hat. Nämlich, dass man nicht falsch schwören darf (3. Mose 19,12) und dass man beim Herrn schwören soll (5. Mose 6,13 und 10,20). Es gebietet sogar das Schwören (2. Mose 22,19):
„Wenn jemand seinem Nächsten einen Esel oder ein Rind oder ein Schaf oder irgendein Tier in Verwahrung gibt und es stirbt oder bricht sich einen Knochen oder wird weggeführt und niemand sieht es, dann soll ein Schwur beim Herrn zwischen ihnen beiden sein, ob er nicht seine Hand nach der Habe seines Nächsten ausgestreckt hat. Dann soll sein Besitzer es annehmen und jener braucht nichts zu erstatten.“
Dafür ist ein Schwur da: Ich bekräftige als Selbstverfluchung, dass ich die Wahrheit sage.
Wie kann jetzt Jesus etwas scheinbar verbieten, was das Gesetz fordert? Antwort: Er kann es nicht. Und wie wir schon wissen, will er es auch nicht.
Noch interessanter ist die Tatsache, dass sich hinter der Formulierung „Amen, Amen“, übersetzt mit „Wahrlich, wahrlich“, eine Schwurformel versteckt. Also schwört Jesus, obwohl er sagt: „Schwört überhaupt nicht.“
Gott schwört, viele der Heiligen schwören, und was macht Paulus in 2. Korinther 1,23, wenn er sagt oder schreibt: „Ich aber rufe Gott zum Zeugen an“? Noch ein Schwur.
Wie passt das allgegenwärtige Schwören zu „schwört überhaupt nicht“?
Die Antwort ist vereinfacht diese: Ein und dasselbe Verbot kann allgemein oder situativ gemeint sein. Es kann also so gut wie „immer“ gelten, zum Beispiel „Du sollst nicht lügen“, oder auch nur für eine bestimmte Situation, eben situativ gelten.
Das beste Beispiel für mich ist Sprüche 26,4-5:
„Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich wirst.“
„Antworte dem Toren nach seiner Narrheit, damit er nicht weise bleibt in seinen Augen.“
Was denn nun? Antworte ich dem Toren oder antworte ich ihm nicht? Kommt auf die Situation an.
Wenn Jesus also formuliert „schwört überhaupt nicht“, was meint er dann? Hat er eine bestimmte Situation vor Augen, in der Schwören falsch ist, oder verbietet er grundsätzlich das Schwören?
Ich glaube, die Antwort liegt auf der Hand: Er hat eine bestimmte Situation vor Augen, und zwar eine Unsitte der jüdischen Gesellschaft, in der ein Schwur nicht nur für bestimmte Ausnahmegelegenheiten, zum Beispiel vor Gericht, verwendet wurde, um einer Aussage besonderes Gewicht zu verleihen.
Sondern es wurde in der Gesellschaft normal, bei allem und jedem zu schwören, bis dahin, dass man anfing zu überlegen, bei welchen Schwüren man nun wirklich die Wahrheit sagen musste und wann es noch okay war, trotz eines Schwures zu lügen.
Ihr könnt das nachlesen in Matthäus 23,16-22.
Es geht Jesus also nicht darum, das Schwören zu verbieten, sondern dafür zu sorgen, dass Menschen wieder die Wahrheit sagen und damit aufhören, den Schwur zu missbrauchen.
Und trotzdem, obwohl er es situativ meint, formuliert er „schwört überhaupt nicht“.
Warum ist es wichtig zu verstehen, dass in der Bergpredigt situativer formuliert wird, als man auf den ersten Blick vielleicht meint?
Weil Jesus in der Bergpredigt auch ein paar sehr wichtige Dinge zum Thema Scheidung sagt, die, wenn sie allgemein verstanden werden, nicht zum Rest des Alten Testaments passen.
Kommen wir nun zum großen Thema Scheidung im Neuen Testament.
Die erste Stelle, die wir betrachten müssen, ist Matthäus 5,31-32a:
„Es ist aber gesagt: Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird.“
Worum geht es hier?
Mit „Es ist aber gesagt“ wird die rabbinische Lehre zusammengefasst. Wir merken, dass zur Zeit Jesu im ersten Jahrhundert die Scheidung zu einem Recht geworden ist – im Wesentlichen ein Recht für Männer –, wo 5. Mose 24, nach dem, was wir schon gesehen haben, die Frau davor schützen sollte, einen Mann erneut zu heiraten, der sie schon einmal unrein gemacht hatte.
So wird der Text jetzt als Beweis dafür genommen, dass man sich scheiden lassen darf.
Im Raum stand dann bestenfalls noch die Frage, ob es für die Scheidung eines echten Grundes bedurfte oder ob man sich wegen jeder beliebigen Kleinigkeit von seiner Frau trennen konnte.
Wenn Jesus jetzt mit einem „Aber“ antwortet: „Es ist aber gesagt, wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief. Ich aber sage euch...“, will er nicht eine laxe Rechtsprechung verschärfen, sondern eine unrichtige Auslegung aufdecken.
Bleibt die Frage: Welche falsche Vorstellung der Pharisäer will er korrigieren?
Da Jesus sich kaum in die spitzfindigen Diskussionen zwischen verschiedenen Schulen der Pharisäer eingeschaltet haben dürfte, hat er wahrscheinlich den Punkt im Blick, den alle Pharisäer als gegeben ansehen.
Alle denken, dass das mosaische Gesetz dem Mann das Recht gibt, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Sie gehen von 5. Mose 24 aus und diskutieren über die Frage, welches Vergehen eine Frau begangen haben muss, damit man sie wegschicken kann.
Für sie ist es völlig klar: Wenn ein Mann sich an das Prozedere hält und einen Scheidebrief ausstellt, dann ist er ohne Schuld.
Mit dem „Ich aber sage euch“ leitet Jesus eine Korrektur ein. Nach dem „Aber“ stimmt Jesus mit der rabbinischen Position seiner Zeit nicht mehr überein.
Was folgt, sind zwei Aussagen, die durch das griechische „kai“ miteinander verbunden sind.
Ich lese es noch einmal vor:
„Es ist aber gesagt: Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird, und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.“
Jetzt etwas ganz Wichtiges: Das „und“ verbindet zwei Aussagen, die inhaltlich nicht miteinander in Beziehung stehen.
Hier steht nicht: „Macht das mit ihr Ehebruch begangen wird, weil wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.“ Das steht nicht da.
Die beiden Aussagen sind unabhängig. Man darf nicht einfach, weil es einem passt, ein „und“ in ein „weil“ oder „deshalb“ hineinlesen.
Zurück zur Position Jesu: Für einen Pharisäer wurde eine Scheidung moralisch vertretbar durch das Ausstellen eines Scheidebriefs.
Genau das sieht Jesus anders. Er streicht nicht die Idee der Scheidung als solche. Ein Scheidebrief darf ausgestellt werden, eine Ehe kann beendet werden.
Aber es darf nicht aus betrügerischer Absicht heraus geschehen. Es muss ein wirklicher Grund vorliegen – außer auf Grund von Hurerei.
Wenn der nicht vorliegt, dann macht der, der sich scheiden lässt, dass mit ihr – das ist seine Frau – Ehebruch begangen wird.
Was meint Jesus mit Hurerei? Ich denke, er meint jede Form von schwerster Verfehlung gegen den Ehebund.
Aber Vorsicht! Jesus diskutiert das Thema Scheidung aus der männlichen Perspektive heraus, und er hat vielleicht sogar einen ganz aktuellen Fall im Blick.
Es wäre meines Erachtens falsch, wenn man die Formulierung „außer aufgrund von Hurerei“ lesen würde, als stünde hier „einzig und allein aufgrund von Hurerei“. Das ist nicht gemeint.
Unser Herr will zeigen, dass eine Scheidung ohne wirklichen Grund, auch dann, wenn formal mit dem Scheidebrief alles richtig gemacht wird, ganz falsch sein kann.
Ein böses Herz kann sich hinter gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten verstecken.
Nur weil an einer Scheidung rechtlich nichts zu beanstanden ist, heißt das nicht, dass sie auch in Gottes Augen nicht völlig falsch sein kann.
Was bedeutet dann „macht das mit ihr Ehebruch begangen wird“?
Wörtlich steht hier „macht sie Ehebruch begangen werden“, also für die, die es interessiert, ein Aorist-Infinitiv Passiv. Man kann das natürlich nicht so übersetzen.
Also die Übersetzung „macht das mit ihr Ehebruch begangen wird“ versucht das irgendwie aufzugreifen.
In der Standardauslegung geht man meist davon aus, dass sie trotz der Scheidung noch mit ihrem Mann verheiratet ist, weil kein wirklicher Grund für eine Scheidung vorlag.
Wenn sie später wieder heiratet, dann heiratet der neue Ehemann eine quasi immer noch verheiratete Frau und begeht damit Ehebruch mit ihr.
Warum halte ich diesen Ansatz für falsch?
Um das glauben zu können, muss ich aus dem „und“ zwischen den Sätzen ein „weil“ machen, und genau das steht nicht da.
Die beiden Sätze „Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht das mit ihr Ehebruch begangen wird“ (Satz eins) und „Wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch“ (Satz zwei) sind durch ein „und“ miteinander verbunden, diese beiden Sätze sind unabhängig.
Es geht hier nur um die grammatikalische Betrachtung.
Ich glaube es auch nicht, zweitens weil in diesem Fall der zweite Ehemann zum Subjekt des Passivverbs im ersten Satz wird.
Also wenn hier steht „er macht sie Ehebruch zu begangen werden“ oder schöner übersetzt „macht das mit ihr Ehebruch begangen wird“, dann ist an dieser Stelle Subjekt der erste Ehemann und nicht der zweite.
Der zweite kann es nicht sein, das geht grammatikalisch nicht.
Und noch etwas: Im ersten Satz „Ich aber sage euch, jeder, der seine Frau entlassen wird, außer aufgrund von Hurerei, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“ findet sich ein Partizip, also dieses „entlassen wird“ ist ein Präsens-Partizip aktiv.
Dazu gibt es jetzt ein Hauptverb. Dieses Hauptverb ist „macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“.
Jetzt muss man eines verstehen: Die Handlung des Partizips findet parallel zur Handlung des Hauptverbs statt.
Das mag für den einen oder anderen zu grammatikalisch kompliziert sein, aber es bleibt trotzdem wahr.
Ich sage es noch einmal: Die Handlung des Partizips, die Entlassung, findet zeitlich parallel zur Handlung des Hauptverbs statt.
Das heißt, die Scheidung findet in dem Moment statt, in dem die Frau den Ehebruch erlebt.
Es geht also nicht darum, dass der Ehebruch irgendwann später stattfindet.
Wer jetzt nicht mehr mitkommt, schaut sich das Skript an – manchmal ist Lesen leichter als Hören.
Mir erscheint zu Matthäus 5,31-32a folgende Auslegung die sinnvollste:
Der Aorist-Infinitiv kann als Verb oder Substantiv übersetzt werden.
Jemand macht, dass mit der Geschiedenen etwas gemacht wird oder dass sie als eine angesehen wird, mit der etwas gemacht wurde.
Als Aorist liegt der Schwerpunkt auf einer punktuellen, einmaligen Aktion, die für den Infinitiv zusammen mit dem Hauptverb „entlassen wird“ stattfindet.
Eine schöne und mit den vorausgehenden Ideen zum Thema Scheidung gut vereinbare Übersetzung wäre also:
„Wer seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht seine Frau zu einer, mit der die Ehe gebrochen wurde.“
Sprich: Wer sich grundlos scheidet, lässt seine Frau Ehebruch erleiden.
Ich glaube, die nicht ganz einfache Formulierung „macht sie Ehebruch begangen werden“ will gar nicht auf die Frau bezogen werden, sondern auf den Mann.
Er ist der Ehebrecher, sie erleidet den Ehebruch und wird wie eine Ehebrecherin weggestoßen, wobei der Mann vor Gott schuldig wird.
Genau das aber war der Punkt, den die Pharisäer nicht sehen wollten. In ihrem Konzept war der Mann immer ohne Schuld – Scheidebrief vorausgesetzt.
Stimmt diese Auslegung, bewegen wir uns auf der Basis von 5. Mose 24 und Maleachi 2.
Eine Scheidung ohne wirklichen Grund macht den Mann zu einem Ehebrecher.
Schauen wir uns den zweiten Teil an.
Matthäus 5,32b: „Und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.“
Hier wird schnell behauptet, dass dieser Teilvers beschreibt, wie es dazu kommt, dass die Frau aus Matthäus 5,32a Ehebruch begeht.
Meist wird Matthäus 5,32a interpretierend übersetzt mit „macht, dass sie Ehebruch begeht“.
Aber grammatikalisch ist Vers 32b unabhängig.
Das verbindende „und“ (griechisch „kai“) darf nicht mit „weil“ übersetzt werden.
Der Satz muss für sich allein interpretiert werden.
Lässt man den Satz für sich stehen, ergibt sich ein Problem, das wir schon von der Auslegung „schwört überhaupt nicht“ kennen.
Das, was Jesus dann sagt, passt nämlich überhaupt nicht zum Rest der Bibel.
Wenn Jesus meint, was mit der Übersetzung zum Ausdruck gebracht wird, dann wäre uneingeschränkt jede „Heirat einer Geschiedenen“ ein Akt von Ehebruch.
Aber wenn dem so wäre, wie passt das dann zum Rest des Gesetzes?
Warum verbietet 5. Mose 24 nur die erneute Heirat des ersten Ehemanns, schweigt aber zum zweiten Ehemann und hat kein Problem mit einem dritten und vierten, solange es nur nicht der erste ist?
Warum darf, wenn die Heirat einer Entlassenen grundsätzlich Ehebruch ist, David seine erste Frau Michal zurücknehmen?
Warum darf Gomer zu Hosea zurückkehren? Hosea 2,9 und 21-22:
„Dann wird sie sagen: Ich will mich aufmachen und zu meinem ersten Mann zurückkehren, denn damals ging es mir besser als jetzt.
Und ich will dich mir verloben, das ist nichts anderes als erneut heiraten in Ewigkeit,
und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Recht und in Gnade und in Erbarmen, ja in Treue will ich dich mir verloben, und du wirst den Herrn erkennen.“
Gomer kehrt zu ihrem ersten Mann zurück, und Gott selbst benutzt hier das Bild Hosea-Gomer, um seinen Umgang mit Israel zu erklären. Er wird Israel, nachdem er es verstossen hat, wieder zurücknehmen.
Wenn ich den biblischen Befund ernst nehme, müsste ich also zumindest formulieren:
Die Wiederheirat einer Ehefrau, die mit dem Ziel entlassen wurde, Böses zu tun, oder die Wiederheirat einer Ehefrau, die ohne ihr Zutun Frau eines anderen wurde, ist keine Sünde und natürlich auch kein Ehebruch.
Wenn das so ist, darf ich nicht formulieren, dass immer und in jedem Fall die Heirat einer Geschiedenen Ehebruch ist.
Aber was, wenn Jesus hier eine ganz aktuelle Geschichte vor Augen hätte, so wie beim Schwören?
Im ersten Teil des Vers macht er klar, dass jeder, der seine Frau aus nichtigen Gründen verstößt, zum Ehebrecher wird.
Jetzt führt Jesus den Gedanken weiter:
Was ist, wenn jemand eine Frau heiratet, die sich selbst entlassen hat?
Es kann sich doch nicht nur der Mann scheiden lassen, sondern auch – wenn es nicht so üblich ist – eine Frau.
Und für alle Nicht-Sprachenfreaks: Es ist hier wirklich leider wichtig, ein klein wenig Altgriechisch zu kennen.
Die Form, in der das Wort „Entlassene“ steht, kann entweder ein Perfektpartizip Passiv oder ein Perfektpartizip Medium sein.
Beide Zeitformen unterscheiden sich der Form nach nicht. Sie werden also gleich geschrieben, aber es sind unterschiedliche Zeitformen, und die müssen dann auch unterschiedlich oder sie können unterschiedlich übersetzt werden.
Deswegen könnte man einmal übersetzen mit „die, die geschieden wurde“, und dann substantiviert „die Geschiedene“.
Oder zweite Möglichkeit: Perfektpartizip Medium, „die, die sich hat scheiden lassen“.
Beide Übersetzungen sind möglich.
Für die zweite Übersetzungsvariante gibt es zur Zeit Jesu einen topaktuellen Fall:
Der König Herodes Antipas verliebt sich in seine Nichte Herodias, die Frau seines Halbbruders Herodes Boethos.
Die Geschichte passt wie die Faust aufs Auge zu dem, was Jesus hier sagt:
„Wer eine Frau – jetzt übersetze ich medial – die sich hat scheiden lassen heiratet, begeht Ehebruch.“
Wieder ist übrigens der Mann im Blick. Natürlich begeht auch die Frau Ehebruch, aber Jesus hat im ersten Teil einen Mann vor Augen, der seine Frau aus nichtigen Gründen entlässt, und jetzt hat er einen im Blick, der, wie im Fall des Herodes und der Herodias, eine Frau kennenlernt, sich verliebt und sie dazu überredet, ihre Ehe aufzugeben und seine Frau zu werden.
Damals hätte sich keine Frau scheiden lassen, ohne zu wissen, wer sie später versorgt.
Die Frau, die sich scheiden lässt – im Gegensatz zu der, die verstossen wird – braucht erst so etwas wie einen sicheren Hafen.
Der Ehebruch beginnt auch hier im Herzen, aber er wird vollendet in der zweiten Ehe.
Und zwar nicht, weil der Moment der Eheschließung eine mystisch noch bestehende erste Ehe zerbrechen würde, sondern weil der Ehebruch darin seinen Abschluss findet.
Hier heiraten sich zwei Ehebrecher, die beide am Zerbrechen derselben Ehe schuldig wurden. Herodes und Herodias lassen grüßen.
Die Pharisäer hatten übrigens mit dem aktuellen Fall keine Probleme, ihr ahnt schon warum:
Beide, Herodes und Herodias, verlassen ihre Ehepartner und vertrauen darauf, dass ihr Verhalten moralisch in Ordnung ist, weil sie einen Scheidebrief ausgestellt haben beziehungsweise Herodias sich auch noch das offizielle Okay aus Rom geholt hatte.
Aber natürlich ist ihr Verhalten nicht in Ordnung, es ist Ehebruch.
Während also die Pharisäer argumentieren, dass kein Ehebruch vorliegt, solange ein Scheidebrief ausgestellt wird, schaut Jesus auf die Motivation.
Für ihn wird ein Mann dann zum Ehebrecher, wenn er sich ohne Grund scheiden lässt beziehungsweise wenn er zum Grund dafür wird, dass eine Frau sich ohne Grund scheiden lässt.
Darum geht es meines Erachtens in Matthäus 5,32.
So wie der Schwur nicht als Deckmantel für die Lüge missbraucht werden darf, so darf der Scheidebrief nicht als Deckmantel für einen Verrat am Ehepartner herhalten.
Das ist, was Jesus zum Ausdruck bringen will.
Also auch wenn der Verwaltungsakt, der Scheidebrief beziehungsweise die Scheidung, eine Ehe beendet, so besteht für den schuldigen Teil, für den, der sich aus nichtigen Gründen hat scheiden lassen, über die zerbrochene Ehe hinaus die moralische Pflicht zur Buße und gegebenenfalls zur Wiederherstellung der Ehe.
Solange das nicht geschieht, ist der schuldige Teil ein Ehebrecher beziehungsweise eine Ehebrecherin, und wer Komplize eines Ehebruchs wird, der wird selbst zum Ehebrecher.
Ähnlich formuliert Jesus in Lukas 16,18:
„Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe; und wer die von ihrem Mann Geschiedene heiratet, der bricht auch die Ehe.“
Auch hier ist, denke ich, der Zusammenhang super wichtig. Angesprochen sind die Pharisäer.
Von ihnen sagt Jesus vorher, dass sie geldliebend waren, sie dachten, man kann Gott dienen und dem Mammon.
Als sie Jesu Lehre hören, verhöhnen sie ihn.
Jesus macht ihnen klar, dass es ihm bei dem, was er sagt, um sie geht.
Da heißt es in Lukas 16,15: „Ihr seid es, die sich selbst rechtfertigen vor den Menschen; Gott aber kennt eure Herzen.“
Sie sind es, die mit Gewalt in die Verkündigung vom Evangelium hineindringen wollen.
Sie wollen die Botschaft Gottes zu ihrem Vorteil verändern.
Aber das geht nicht, kein Strichlein des Gesetzes fällt weg.
Er macht ihnen ihr Problem an einem Beispiel deutlich:
Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe.
Und wer die von ihrem Mann Geschiedene heiratet, der bricht auch die Ehe.
Richtig, wir reden zu Leuten, deren Problem darin besteht, dass sie sich selbst rechtfertigen.
Jesus betont, dass er das Gesetz gerade nicht verändert.
Es wäre also falsch zu argumentieren: Mose hat euch einen Ausweg aus der Ehe gegeben, den Scheidebrief, ich aber kehre jetzt wieder zu der klaren Lehre von 1. Mose 2,24 zurück und verbiete Ehescheidung komplett.
Jesus will nicht über eine Veränderung des Gesetzes reden, sondern den Pharisäern zeigen, wo sie das Gesetz auf unzulässige Weise verändert haben, um es ihren eigensüchtigen Interessen anzupassen.
Hier kann man jetzt in zwei Richtungen denken:
Einmal waren sie es, die 5. Mose 24 als Deckmantel für ihre eigene laxe Scheidungspraxis benutzten.
Zum anderen waren sie deshalb auch nicht bereit, Herodes Antipas für die Heirat mit der Herodias zu kritisieren.
Lukas 16,18 bringt also ein Beispiel für den falschen Umgang der Pharisäer mit dem Gesetz Gottes.
Lukas 16,18a: „Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe.“
Derselbe Mann scheidet sich und heiratet eine andere.
Man kann hier das kleine Wörtchen „und“ narrativ verstehen. Es beschreibt dann ein Ergebnis, das aus dem Vorangehenden folgt.
Jesus hat einen Mann im Blick, der sich scheiden lässt, um eine andere zu heiraten.
Es geht also nicht darum, dass ein Mann sich von einer ehebrecherischen Frau scheiden lässt, um ihr Raum zur Buße zu geben, sondern ganz im Gegenteil.
Die Erzählweise des Verses ist so angelegt, dass man einen engen Zusammenhang zwischen Scheidung und Neuheirat vermuten darf.
Nicht vergessen: Jesus beschreibt das typische Verhalten der Pharisäer.
Wer sich also einfach scheiden lässt, um neu zu heiraten, einfach nur, weil er eine vermeintlich bessere gefunden hat, der bricht die Ehe.
Schauen wir uns den zweiten Teil des Verses an:
Lukas 16,18b: „Und wer die von ihrem Mann Geschiedene oder die sich von ihrem Mann hat scheiden lassen heiratet, der bricht auch die Ehe.“
Ich denke, dass Jesus hier genau denselben Fall beschreibt, der uns schon in Matthäus 5,32b begegnet ist.
Da Jesus sich gegen die Scheidungspraxis beziehungsweise die falsche Auslegung von 5. Mose 24 durch die Pharisäer wendet, glaube ich, dass es auch hier um einen Mann geht, der eine Frau darin unterstützt, ihre Ehe durch eine Scheidung zu beenden und auf diese Weise dann auch zum Mittäter wird.
Nach so viel Grammatik ein Einwand, der einfach auf der Hand liegt:
Jürgen, du legst viel Wert auf den Zusammenhang und auf Altgriechisch. Ist es nicht ganz schön gefährlich, wenn du das, was so offensichtlich dazustehen scheint, nicht gelten lässt?
Gute Frage!
Lass mich Folgendes antworten:
Zum einen muss ich als Ausleger die ganze Bibel im Blick behalten.
Es hilft mir nicht weiter, wenn ich eine Stelle so auslege, wie es im Deutschen scheinbar dasteht, wenn die Grundsprache, also Altgriechisch oder Hebräisch, mehr Möglichkeiten für die Auslegung gibt.
Wenn ich sehe, dass Jesus situativ formuliert und genau das habe ich für das hoffentlich unverfängliche Beispiel „schwört überhaupt nicht“ gezeigt, dann darf ich davon ausgehen, dass er das an anderer Stelle auch tut.
Wenn Jesus dann noch klarstellt, dass er keine Gebote ändern will, dann darf ich ihm nicht unterstellen, dass er es tut.
Und wenn ich dann noch sehe, dass Wiederheirat im mosaischen Gesetz – wozu Jesus als Person noch zählt – kein Problem darstellt, dann will ich ihm einfach nicht eine Haltung in den Mund legen, von der ich denke, dass er sie nicht hatte.
Aber so spitzfindig, wie du argumentierst, darauf kommt doch niemand.
Ich weiß, dass meine Auslegung nicht einfach ist, aber sie ist eigentlich nicht spitzfindig, sondern sie bleibt dem Text treu.
Als Ausleger beschäftigen mich Fragen zur Hermeneutik, also zu den Regeln der Auslegung. Und diese Fragen beschäftigen mich wirklich sehr viel.
Ich erwarte in der Bibel entweder logische Brüche oder ich erwarte sie halt nicht.
Und ich versuche tatsächlich – ich hatte das auch ganz am Anfang gesagt –, dass wir als Älteste versuchen, zu einem Thema möglichst spannungsfrei alle Stellen zusammenzuziehen.
Ich versuche wirklich, das gesamte Zeugnis der Schrift zu einem Thema als Ganzes zu verstehen.
Natürlich kann man mir vorwerfen, dass meine Auslegung zu kompliziert sei, sich irgendwie am Zeitgeist orientiert, dass es eben nicht ein schlüssiges Bild zu allen Stellen gibt oder ich mich als Bibellehrer aus der dritten Reihe mit dieser Auslegung völlig überhebe.
Kann man alles sagen, ändert aber erst einmal nichts an meiner Auslegung.
Von Walter Kaiser stammt der Satz: „Leute wollen immer die Exegese überspringen und gleich zum Segen weitergehen.“
Ich finde ihn gut.
Leute wollen immer die Exegese überspringen und gleich zum Segen weitergehen.
Da ist leider etwas dran.
Je länger ich die Bibel studiere, desto klarer wird mir, dass man sie wirklich nachdenklich lesen muss und auch mit Know-how.
Es gibt einen Grund, warum Gott der Gemeinde Lehrer gegeben hat.
Über manche Themen muss man wirklich Tag und Nacht sinnen, bevor sie sich einem erschließen.
Und glaubt mir, ich sehe die Verantwortung eines Bibellehrers nach Jakobus 3,1 nur zu gut, und ich weiß, dass ich mich irren kann.
Das Gesetz als heilig und gerecht
Vorbemerkung Nr. 3
Das Gesetz ist heilig und gerecht. Christen neigen leider dazu, das Alte Testament manchmal herabzusetzen. Es erscheint uns dann blutrünstig, archaisch und fremd. Dieser Blick ist sehr schade, denn so verpassen wir, das Alte Testament als das zu sehen, was es für uns sein will: eine schier unerschöpfliche Quelle der Weisheit.
Paulus schreibt einmal: „Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht.“ An anderer Stelle heißt es in Römer 7,12: „So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut.“ Das Gesetz an sich ist nicht defizitär.
Natürlich müssen wir unterscheiden zwischen den Geboten, die sich in Jesus erfüllt haben – dem sogenannten Zeremonialgesetz – und den Geboten, die gegeben wurden, um Israel als Volk vor Durchmischung zu bewahren. Dazu gehören zum Beispiel die Speisegebote, Heiratsverbote oder die Vernichtung der Kanaaniter.
Außerdem gibt es Gebote, die ganz praktisch für eine bestimmte Zeit zu verstehen sind, etwa wenn die Not nur außerhalb des Lagers verrichtet werden durfte. Und schließlich gibt es die moralischen Gebote, die ihre Grundlage im Charakter Gottes finden.
Wir müssen diese Unterschiede beachten. Wenn wir diese Unterscheidung jedoch einmal verstanden haben, ist es nicht schwer, hinter den Geboten die Prinzipien und ihre Weisheit zu erkennen und zu überlegen, wie man sie auf unsere Zeit übertragen kann.
Ich sage das deshalb, weil es beim Thema Scheidung eine Argumentation gibt, die ungefähr so lautet: Am Anfang war Scheidung verboten. Dann kam das mosaische Gesetz, da war Scheidung zwar erlaubt, aber Gott hat es eigentlich nicht so gewollt. Und dann kam Jesus, der alles wieder mit einem strikten Nein zur Scheidung richtigstellt.
Vorsicht bei dieser gut gemeinten Beweisführung! Wer das behauptet, sagt damit, dass das Gesetz nicht heilig sei, es nicht den Gedanken Gottes entspreche, und dass Jesus das Gesetz geändert habe. Genau genommen hat Jesus etwas vom Gesetz weggenommen, nämlich die Erlaubnis, sich scheiden zu lassen.
Ich halte diese Behauptungen für höchst problematisch – oder um es noch genauer zu sagen: Es ist die Argumentationslinie der modernen Liberalen. Immer dann, wenn mir ein Gebot nicht passt, behaupte ich einfach, dass man es im Licht dessen betrachten müsse, was Jesus gesagt hat.
Auch wenn das nicht völlig falsch ist, weil Jesus tatsächlich falsche Auslegungen korrigiert hat, müssen wir darauf bestehen, dass Jesus das Gesetz nicht ändert und nicht außer Kraft setzt. Er betrachtet es als heilig und unantastbar.
So viel zu den Vorbemerkungen. Also noch einmal zusammengefasst:
Vorbemerkung Nr. 1: Jesus als Person gehört zum Alten Bund.
Vorbemerkung Nr. 2: Jesus wollte das Gesetz nicht ändern.
Vorbemerkung Nr. 3: Das Gesetz ist heilig und gerecht.
Hermeneutik der Bergpredigt – ein Exkurs
Kurz bevor wir weitermachen, ein Mini-Exkurs, der mir wichtig ist. Wir werden gleich Texte aus der Bergpredigt betrachten, und es ist in der Auslegung von Texten unglaublich wichtig, dass wir uns der Hermeneutik, also der Regeln, die wir in der Auslegung anwenden, bewusst werden.
Wie ist die Bergpredigt grundsätzlich zu verstehen? Darum soll es kurz gehen. Ich wähle ein Beispiel, das noch nichts mit Scheidung zu tun hat, um zu zeigen, wie situativ Jesus in der Bergpredigt redet und argumentiert. Also ein kleiner Exkurs zur Hermeneutik der Bergpredigt – ein komplett anderes Thema.
Da heißt es in Matthäus 5,34: „Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron.“ Und dann geht es weiter: „Schwört überhaupt nicht.“ Man kann das lesen und sich denken: Alles klar, schwören ist als Christ nicht erlaubt.
Nun zum Problem: Das Gesetz erlaubt nicht nur das Schwören, sondern regelt auch, wie es zu geschehen hat. Nämlich, dass man nicht falsch schwören darf (3. Mose 19,12) und dass man beim Herrn schwören soll (5. Mose 6,13 und 20). Es gebietet sogar das Schwören (2. Mose 22,19): Wenn jemand seinem Nächsten einen Esel, ein Rind, ein Schaf oder irgendein Tier in Verwahrung gibt und es stirbt, sich einen Knochen bricht oder weggeführt wird, ohne dass jemand es sieht, dann soll ein Schwur beim Herrn zwischen ihnen beiden sein, ob derjenige nicht seine Hand nach der Habe seines Nächsten ausgestreckt hat. Dann soll sein Besitzer es annehmen, und jener braucht nichts zu erstatten.
Dafür ist ein Schwur da: Ich bekräftige als Selbstverfluchung, dass ich die Wahrheit sage. Wie kann jetzt Jesus etwas scheinbar verbieten, was das Gesetz fordert? Die Antwort: Er kann es nicht. Und wie wir schon wissen, will er es auch nicht.
Noch interessanter ist die Tatsache, dass sich hinter der Formulierung „Amen, Amen“, übersetzt mit „Wahrlich, wahrlich“, eine Schwurformel verbirgt. Also schwört Jesus, obwohl er sagt: „Schwört überhaupt nicht.“ Und Gott schwört. Viele der Heiligen schwören. Was macht Paulus in 2. Korinther 1,23, wenn er sagt oder schreibt: „Ich aber rufe Gott zum Zeugen an“? Noch ein Schwur.
Wie passt das allgegenwärtige Schwören zu „Schwört überhaupt nicht“? Das ist die Frage. Die Antwort ist vereinfacht: Dieses eine und dasselbe Verbot kann allgemein oder situativ gemeint sein. Es kann also so gut wie „immer“ gelten, zum Beispiel „Du sollst nicht lügen“, oder auch nur für eine bestimmte Situation, also situativ gelten.
Das beste Beispiel für mich ist Sprüche 26,4: „Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich wirst.“ Warum ist das das beste Beispiel? Hier ist doch scheinbar alles klar: Es ist verboten, einem Toren, der mich dumm anquatscht, dumm zu antworten. Richtig.
Aber lesen wir weiter. Der nächste Vers, Sprüche 26,5: „Antworte dem Toren nach seiner Narrheit, damit er nicht weise bleibt in seinen Augen.“ Ups, was denn nun? Antworte ich dem Toren oder antworte ich ihm nicht? Es kommt auf die Situation an.
Wenn Jesus also formuliert „Schwört überhaupt nicht“, was meint er dann? Hat er eine bestimmte Situation vor Augen, in der Schwören falsch ist, oder verbietet er grundsätzlich das Schwören? Ich glaube, die Antwort liegt auf der Hand: Er hat eine bestimmte Situation vor Augen. Und zwar eine Unsitte der jüdischen Gesellschaft, in der ein Schwur nicht nur für bestimmte Ausnahmegelegenheiten, zum Beispiel vor Gericht, verwendet wurde, um einer Aussage besonderes Gewicht zu verleihen, sondern wo es in der Gesellschaft normal wurde, bei allem und jedem zu schwören.
Bis dahin überlegte man, bei welchen Schwüren man nun wirklich die Wahrheit sagen musste und wann es noch okay war, trotz eines Schwures zu lügen. Ihr könnt das nachlesen in Matthäus 23,16-22.
Es geht Jesus also nicht darum, das Schwören zu verbieten, sondern dafür zu sorgen, dass Menschen wieder die Wahrheit sagen und damit aufhören, den Schwur zu missbrauchen. Trotzdem, obwohl er es situativ meint, formuliert er: „Schwört überhaupt nicht.“
Warum ist es wichtig zu verstehen, dass in der Bergpredigt situativ formuliert wird, als man auf den ersten Blick vielleicht meint? Weil Jesus in der Bergpredigt auch ein paar sehr wichtige Dinge zum Thema Scheidung sagt, die, wenn allgemein verstanden, eben nicht zum Rest des Alten Testaments passen. Also...
Scheidung im Neuen Testament – Matthäus 5,31-32
Kommen wir jetzt zum großen Thema Scheidung im Neuen Testament. Die erste Stelle, die wir betrachten müssen, ist Matthäus Kapitel 5, die Verse 31 und 32a.
In Matthäus 5,31-32a heißt es: „Es ist aber gesagt: Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt – außer aufgrund von Hurerei –, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird.“
Worum geht es hier? Mit „Es ist aber gesagt“ wird die rabbinische Lehre zusammengefasst. Wir merken, dass zur Zeit Jesu im ersten Jahrhundert die Scheidung zu einem Recht geworden ist, im Wesentlichen ein Recht für Männer. Dabei sollte das fünfte Buch Mose, Kapitel 24, die Frau davor schützen, einen Mann erneut zu heiraten, der sie schon einmal unrein gemacht hatte.
So wurde der Text damals als Beweis dafür genommen, dass man sich scheiden lassen darf. Im Raum stand dann bestenfalls noch die Frage, ob es für die Scheidung eines echten Grundes bedurfte oder ob man sich wegen jeder beliebigen Kleinigkeit von seiner Frau trennen konnte.
Wenn Jesus jetzt mit einem „Aber“ antwortet – „Es ist aber gesagt: Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief. Ich aber sage euch...“ – dann will er nicht eine laxe Rechtsprechung verschärfen, sondern eine unrichtige Auslegung aufdecken.
Bleibt die Frage, welche falsche Vorstellung der Pharisäer er korrigieren will. Da Jesus sich kaum in die spitzfindigen Diskussionen zwischen verschiedenen Schulen der Pharisäer eingeschaltet haben dürfte, hat er wahrscheinlich den Punkt im Blick, den alle Pharisäer als gegeben ansehen.
Alle denken, dass das mosaische Gesetz dem Mann das Recht gibt, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Sie gehen von 5. Mose 24 aus und diskutieren darüber, welches Vergehen eine Frau begangen haben muss, damit man sie wegschicken kann. Für sie ist es völlig klar, dass ein Mann ohne Schuld bleibt, wenn er sich an das Prozedere hält und einen Scheidebrief ausstellt.
Mit dem „Ich aber sage euch“ leitet Jesus eine Korrektur ein. Nach dem „Aber“ stimmt Jesus nicht mehr mit der rabbinischen Position seiner Zeit überein.
Was folgt, sind zwei Aussagen, die durch das griechische „kai“ (und) miteinander verbunden sind. Ich lese es noch einmal vor: „Es ist aber gesagt: Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt – außer aufgrund von Hurerei –, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird. Und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.“
Jetzt etwas ganz Wichtiges: Das „und“ verbindet hier zwei Aussagen, die inhaltlich nicht miteinander in Beziehung stehen. Es steht nicht da, dass „Macht das mit ihr Ehebruch begangen wird, weil wer eine Entlassene heiratet, Ehebruch begeht.“ Die beiden Aussagen sind unabhängig voneinander.
Man darf nicht einfach, weil es einem passt, ein „und“, „denn“, „weil“ oder „deshalb“ hineinlesen.
Zurück zur Position Jesu: Für einen Pharisäer wurde eine Scheidung moralisch vertretbar durch das Ausstellen eines Scheidebriefs. Genau das sieht Jesus anders.
Er streicht nicht die Idee der Scheidung als solche. Ein Scheidebrief darf ausgestellt werden, eine Ehe kann beendet werden. Aber es darf nicht aus betrügerischer Absicht heraus geschehen. Es muss ein wirklicher Grund vorliegen – außer aufgrund von Hurerei.
Wenn dieser nicht vorliegt, dann macht derjenige, der sich scheiden lässt, dass mit ihr – das ist seine Frau – Ehebruch begangen wird.
Was meint Jesus mit „Hurerei“? Ich denke, er meint jede Form von schwerster Verfehlung gegen den Ehebund.
Aber Vorsicht! Jesus diskutiert das Thema Scheidung aus der männlichen Perspektive heraus und hat vielleicht sogar einen ganz aktuellen Fall im Blick.
Es wäre meines Erachtens falsch, wenn man die Formulierung „außer aufgrund von Hurerei“ so lesen würde, als stünde hier „einzig und allein aufgrund von Hurerei“. Das ist nicht gemeint.
Unser Herr will zeigen, dass eine Scheidung ohne wirklichen Grund – auch dann, wenn formal mit dem Scheidebrief alles richtig gemacht wird – ganz falsch sein kann.
Ein böses Herz kann sich hinter gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten verstecken. Nur weil an einer Scheidung rechtlich nichts zu beanstanden ist, heißt das nicht, dass sie auch in Gottes Augen nicht völlig falsch sein kann.
Bedeutung der Formulierung „macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“
Was bedeutet dann „macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“? Wörtlich steht hier „macht sie Ehebruch zu begangen werden“, also – für die, die es interessiert – ein Aorist-Infinitiv Passiv. „Er macht sie Ehebruch zu begangen werden“ kann man natürlich nicht so übersetzen.
Die Übersetzung „macht das mit ihr Ehebruch begangen, wird“ versucht das irgendwie aufzugreifen. In der Standardauslegung geht man meist davon aus, dass sie trotz der Scheidung noch mit ihrem Mann verheiratet ist, weil kein wirklicher Grund für eine Scheidung vorlag. Wenn sie später wieder heiratet, dann heiratet der neue Ehemann eine quasi immer noch verheiratete Frau und begeht damit Ehebruch mit ihr.
Warum halte ich diesen Ansatz für falsch? Um das glauben zu können, muss ich zwischen den Sätzen ein „weil“ machen – und genau das steht nicht da. Die beiden Sätze „Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“ (Satz eins) und „Wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch“ (Satz zwei) sind durch ein „und“ miteinander verbunden, aber die beiden Sätze sind unabhängig.
Es geht hier nur um die grammatikalische Betrachtung. Ich glaube es auch nicht, zweitens weil in diesem Fall der zweite Ehemann zum Subjekt des Passivverbs im ersten Satz wird. Also wenn hier steht „er macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“ oder schöner übersetzt „macht das mit ihr Ehebruch begangen wird“, dann ist an dieser Stelle das Subjekt der erste Ehemann und nicht der zweite. Der zweite kann es nicht sein, das geht grammatikalisch nicht.
Und noch etwas: Im ersten Satz „Ich aber sage euch, jeder, der seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“ findet sich ein Partizip, nämlich „entlässt“, das ist ein Präsens-Partizip Aktiv. Das muss man einfach wissen. Und dazu gibt es jetzt ein Hauptverb. Dieses Hauptverb ist „macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“.
Jetzt muss man eines verstehen: Die Handlung des Partizips findet parallel zur Handlung des Hauptverbs statt. Das mag für den einen oder anderen zu grammatikalisch kompliziert sein, aber es bleibt trotzdem wahr. Ich sage es nochmal: Die Handlung des Partizips, also die Entlassung, findet zeitlich parallel zur Handlung des Hauptverbs statt. Das heißt, die Scheidung findet in dem Moment statt, in dem die Frau den Ehebruch erlebt.
Es geht also nicht darum, dass der Ehebruch irgendwann später stattfindet. Wer jetzt nicht mehr mitkommt, kann sich das Skript anschauen – manchmal ist Lesen leichter als Hören.
Mir erscheint zu diesem Vers, Matthäus 5,31-32, folgende Auslegung die sinnvollste: Der Aorist-Infinitiv kann als Verb oder Substantiv übersetzt werden. Jemand macht, dass mit der Geschiedenen etwas gemacht wird oder dass sie als eine angesehen wird, mit der etwas gemacht wurde. Als Aorist liegt der Schwerpunkt auf einer punktuellen, einmaligen Aktion, die zusammen mit dem Hauptverb „entlässt“ stattfindet.
Eine schöne und mit den vorausgehenden Ideen zum Thema Scheidung gut vereinbare Übersetzung wäre also: Wer seine Frau entlässt, außer aufgrund von Hurerei, macht seine Frau zu einer, mit der die Ehe gebrochen wurde. Sprich: Wer sich grundlos scheidet, lässt seine Frau Ehebruch erleiden.
Ich glaube, die nicht ganz einfache Formulierung „macht, dass mit ihr Ehebruch begangen wird“ will gar nicht auf die Frau bezogen werden, sondern auf den Mann. Er ist der Ehebrecher, sie erleidet den Ehebruch und wird wie eine Ehebrecherin weggestoßen, wobei der Mann vor Gott schuldig wird.
Genau das aber war der Punkt, den die Pharisäer nicht sehen wollten. In ihrem Konzept war der Mann immer ohne Schuld – Scheidebrief vorausgesetzt.
Stimmt diese Auslegung, bewegen wir uns auf der Basis von 5. Mose 24 und Maleachi 2. Eine Scheidung ohne wirklichen Grund macht den Mann zu einem Ehebrecher.
Die Wiederheirat einer Geschiedenen – Matthäus 5,32b
Schauen wir uns den zweiten Teil an. Ich möchte noch einmal sagen: Entschuldigung, wenn das jetzt ein bisschen zu spitzfindig klang, aber es war mir einfach wichtig.
Matthäus 5,32b: „Und wer eine Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.“ Hier wird oft behauptet, dass dieser Teilvers beschreibt, wie es dazu kommt, dass die Frau aus Matthäus 5,32a Ehebruch begeht. Meist wird Matthäus 5,32a interpretierend übersetzt mit „macht, dass sie Ehebruch begeht“.
Grammatikalisch ist Vers 1 jedoch unabhängig. Das verbindende griechische „kai“ darf nicht mit „weil“ übersetzt werden. Der Satz muss für sich allein interpretiert werden. Lässt man den Satz für sich stehen, ergibt sich ein Problem, das wir schon von der Auslegung her überhaupt nicht kennen. Das, was Jesus dann sagt, passt nämlich überhaupt nicht zum Rest der Bibel.
Wenn Jesus meint, was mit der üblichen Übersetzung zum Ausdruck gebracht wird, dann wäre uneingeschränkt jede Heirat einer Geschiedenen ein Akt von Ehebruch. Aber wenn dem so wäre, wie passt das dann zum Rest des Gesetzes?
Warum verbietet 5. Mose 24 nur die erneute Heirat des ersten Ehemanns, schweigt aber zum zweiten Ehemann und hat kein Problem mit einem dritten und vierten, solange es nur nicht der erste ist? Warum darf David, wenn die Heirat einer Entlassenen grundsätzlich Ehebruch ist, seine erste Frau Michal zurücknehmen?
Warum darf Gomer zu Hosea zurückkehren? Hosea 2,9.21-22: „Dann wird sie sagen: ‚Ich will mich aufmachen und zu meinem ersten Mann zurückkehren, denn damals ging es mir besser als jetzt.‘ Und ich will dich mir verloben – das ist nichts anderes als erneut heiraten – in Ewigkeit. Ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Erbarmen, ja in Treue will ich dich mir verloben, und du wirst den Herrn erkennen.“
Also kehrt Gomer zu ihrem ersten Mann zurück. Gott selbst benutzt hier das Bild von Hosea und Gomer, um seinen Umgang mit Israel zu erklären. Er wird Israel, nachdem er es verstoßen hat, wieder zurücknehmen.
Wenn ich den biblischen Befund ernst nehme, dann müsste ich zumindest formulieren: Die Wiederheirat einer Ehefrau, die mit dem Ziel entlassen wurde, Böses zu tun, oder die Wiederheirat einer Ehefrau, die ohne ihr Zutun Frau eines anderen wurde, ist keine Sünde und natürlich auch kein Ehebruch.
Aber wenn das so ist, dann darf ich nicht formulieren, dass immer und in jedem Fall die Heirat einer Geschiedenen Ehebruch ist.
Eine aktuelle Geschichte als Hintergrund?
Aber was, wenn Jesus hier eine ganz aktuelle Geschichte vor Augen hätte, so wie beim Schwören? Im ersten Teil des Verses macht er klar, dass jeder, der seine Frau aus nichtigen Gründen verstößt, zum Ehebrecher wird. Jetzt führt Jesus den Gedanken weiter.
Was ist, wenn jemand eine Frau heiratet, die sich selbst entlassen hat? Es kann sich doch nicht nur der Mann scheiden lassen, sondern auch – wenn es auch nicht so üblich ist – eine Frau. Für alle Nicht-Sprachenfreaks ist es hier wirklich leider wichtig, ein klein wenig Altgriechisch zu kennen.
Die Form, in der das Wort „Geschiedene“ steht, kann entweder ein Perfektpartizip Passiv oder ein Perfektpartizip Medium sein. Beide Zeitformen unterscheiden sich der Form nach nicht. Sie werden also gleich geschrieben, aber es sind unterschiedliche Zeitformen, die unterschiedlich übersetzt werden müssen oder können. Deswegen könnte man einmal übersetzen mit „die, die geschieden wurde“ – und dann substantiviert „die Geschiedene“ – oder als zweite Möglichkeit das Perfektpartizip Medium: „die, die sich hat scheiden lassen“. Beide Übersetzungen sind möglich.
Für die zweite Übersetzungsvariante gibt es zur Zeit Jesu einen topaktuellen Fall: Der König Herodes Antipas verliebt sich in seine Nichte Herodias, die Frau seines Halbbruders Herodes Boethos. Die Geschichte passt wie die Faust aufs Auge zu dem, was Jesus hier sagt: Wer eine Frau – jetzt medial übersetzt – heiratet, die sich hat scheiden lassen, begeht Ehebruch.
Wieder ist übrigens der Mann im Blick. Natürlich begeht auch die Frau Ehebruch, aber Jesus hat im ersten Teil einen Mann vor Augen, der seine Frau aus nichtigen Gründen entlässt. Jetzt hat er einen Mann im Blick, der, wie im Fall von Herodes und Herodias, eine Frau kennenlernt, sich verliebt und sie dazu überredet, ihre Ehe aufzugeben und seine Frau zu werden.
Damals hätte sich keine Frau scheiden lassen, ohne zu wissen, wer sie später versorgt. Die Frau, die sich scheiden lässt, braucht – im Gegensatz zu der, die verstossen wird – erst so etwas wie einen sicheren Hafen. Der Ehebruch beginnt auch hier im Herzen, aber er wird vollendet in der zweiten Ehe. Und zwar nicht, weil der Moment der Eheschließung eine mystisch noch bestehende erste Ehe zerbrechen würde, sondern weil der Ehebruch darin seinen Abschluss findet.
Hier heiraten zwei Ehebrecher, die beide am Zerbrechen derselben Ehe schuldig wurden. Herodes und Herodias lassen grüßen.
Die Pharisäer hatten übrigens mit dem aktuellen Fall keine Probleme. Ihr ahnt schon warum: Sowohl Herodes als auch Herodias verlassen ihre Ehepartner und vertrauen darauf, dass ihr Verhalten moralisch in Ordnung ist, weil sie einen Scheidebrief ausgestellt haben beziehungsweise Herodias sich auch noch das offizielle Okay aus Rom geholt hatte.
Aber natürlich ist ihr Verhalten nicht in Ordnung. Es ist Ehebruch.
Während also die Pharisäer argumentieren, dass kein Ehebruch vorliegt, solange ein Scheidebrief ausgestellt wird, schaut Jesus auf die Motivation. Für ihn wird ein Mann dann zum Ehebrecher, wenn er sich ohne Grund scheiden lässt beziehungsweise wenn er zum Grund dafür wird, dass eine Frau sich ohne Grund scheiden lässt.
Darum geht es meines Erachtens in Matthäus 5,32: Wie der Schwur nicht als ein Deckmantel für die Lüge missbraucht werden darf, so darf der Scheidebrief nicht als Deckmantel für einen Verrat am Ehepartner herhalten. Das ist, was Jesus zum Ausdruck bringen will.
Auch wenn der Verwaltungsakt – der Scheidebrief beziehungsweise die Scheidung – eine Ehe beendet, so besteht für den schuldigen Teil, für den, der sich aus nichtigen Gründen hat scheiden lassen, über die zerbrochene Ehe hinaus die moralische Pflicht zur Buße und gegebenenfalls zur Wiederherstellung der Ehe.
Solange das nicht geschieht, ist der schuldige Teil ein Ehebrecher beziehungsweise eine Ehebrecherin. Und wer Komplize eines Ehebruchs wird, der wird selbst zum Ehebrecher.
Lukas 16,18 – Ergänzende Sicht auf Scheidung und Wiederheirat
Ähnlich formuliert Jesus in Lukas 16,18. Auch hier ist, denke ich, der Zusammenhang sehr wichtig. Angesprochen sind die Pharisäer. Von ihnen sagt Jesus zuvor, dass sie geldliebend waren. Sie dachten, man könne Gott und dem Mammon dienen.
Als die Pharisäer Jesu Lehre hören, verhöhnen sie ihn. Jesus macht ihnen klar, dass es ihm bei dem, was er sagt, um sie geht. In Lukas 16,15 heißt es: „Ihr seid es, die sich selbst rechtfertigen vor den Menschen; Gott aber kennt eure Herzen.“
Die Pharisäer sind es, die mit Gewalt in die Verkündigung des Evangeliums hineindringen wollen. Sie wollen die Botschaft Gottes zu ihrem Vorteil verändern. Aber das geht nicht. Kein Strichlein des Gesetzes fällt weg. Jesus macht ihnen ihr Problem an einem Beispiel deutlich: Wer sich von seiner Frau scheidet und eine andere heiratet, der bricht die Ehe. Und wer die von ihrem Mann Geschiedene heiratet, der bricht auch die Ehe.
Wir sprechen hier also zu Leuten, deren Problem darin besteht, dass sie sich selbst rechtfertigen. Jesus betont, dass er das Gesetz gerade nicht verändert. Es wäre falsch zu argumentieren, Mose habe einen Ausweg aus der Ehe gegeben, den Scheidebrief, und Jesus kehre jetzt wieder zur klaren Lehre von 1. Mose 2,24 zurück und verbiete die Ehescheidung komplett.
Jesus will nicht über eine Veränderung des Gesetzes reden, sondern den Pharisäern zeigen, wo sie das Gesetz auf unzulässige Weise verändert haben, um es ihren eigennützigen Interessen anzupassen. Hier kann man in zwei Richtungen denken: Zum einen waren sie es, die 5. Mose 24 als Deckmantel für ihre eigene laxe Scheidungspraxis benutzten. Zum anderen waren sie deshalb auch nicht bereit, Herodes Antipas für die Heirat mit Herodias zu kritisieren.
Lukas 16,18 bringt also ein Beispiel für den falschen Umgang der Pharisäer mit dem Gesetz Gottes.
Lukas 16,18a: „Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe.“ Derselbe Mann scheidet sich und heiratet eine andere. Man kann hier das kleine Wörtchen „und“ narrativ verstehen. Es beschreibt dann ein Ergebnis, das aus dem Vorangehenden folgt. Jesus hat einen Mann im Blick, der sich scheiden lässt, um eine andere zu heiraten.
Es geht also nicht darum, dass ein Mann sich von einer ehebrecherischen Frau scheiden lässt, um ihr Raum zur Buße zu geben, sondern ganz im Gegenteil. Die Erzählweise des Verses ist so angelegt, dass man einen engen Zusammenhang zwischen Scheidung und Neuheirat vermuten darf.
Nicht vergessen: Jesus beschreibt das typische Verhalten der Pharisäer. Wer sich also einfach scheiden lässt, um neu zu heiraten – einfach nur, weil er eine vermeintlich bessere gefunden hat – der bricht die Ehe.
Schauen wir uns den zweiten Teil des Verses an, Lukas 16,18b: „Und wer die von ihrem Mann Geschiedene oder die sich von ihrem Mann hat scheiden lassen wieder heiratet, der bricht auch die Ehe.“
Ich denke, dass Jesus hier genau denselben Fall beschreibt, der uns schon in Matthäus 5,32 begegnet ist. Da Jesus sich gegen die Scheidungspraxis beziehungsweise die falsche Auslegung von 5. Mose 24 durch die Pharisäer wendet, glaube ich, dass es auch hier um einen Mann geht, der eine Frau darin unterstützt, ihre Ehe durch eine Scheidung zu beenden, und auf diese Weise zum Mittäter wird.
Reflexion zur Auslegung und Verantwortung des Lehrers
Nach so viel Grammatik ein Einwand, der einfach auf der Hand liegt. Jürgen, du legst viel Wert auf den Zusammenhang und auf Altgriechisch. Ist es nicht ganz schön gefährlich, wenn du das, was so offensichtlich dazustehen scheint, nicht gelten lässt? Gute Frage! Lass mich Folgendes antworten.
Zum einen muss ich als Ausleger die ganze Bibel im Blick behalten. Es hilft mir nicht weiter, wenn ich eine Stelle so auslege, wie es im Deutschen scheinbar dasteht, wenn die Grundsprache, also Altgriechisch oder Hebräisch, mehr Möglichkeiten für die Auslegung gibt. Wenn ich sehe, dass Jesus situativ formuliert – und genau das habe ich für das hoffentlich unverfängliche Beispiel Schwört überhaupt gezeigt –, dann darf ich davon ausgehen, dass er das an anderer Stelle auch tut.
Wenn Jesus dann noch klarstellt, dass er keine Gebote ändern will, darf ich ihm nicht unterstellen, dass er es tut. Und wenn ich dann noch sehe, dass Wiederheirat im mosaischen Gesetz, wozu Jesus als Person noch zählt, kein Problem darzustellen scheint, will ich ihm einfach nicht eine Haltung in den Mund legen, von der ich denke, dass er sie nicht hatte.
Aber so spitzfindig, wie du argumentierst, darauf kommt doch niemand. Ich weiß, dass meine Auslegung nicht einfach ist, aber sie ist eigentlich nicht spitzfindig, sondern sie bleibt dem Text treu.
Als Ausleger beschäftigen mich Fragen zur Hermeneutik, also zu den Regeln der Auslegung. Und diese Fragen beschäftigen mich wirklich sehr viel. Ich erwarte in der Bibel entweder logische Brüche oder ich erwarte sie halt nicht. Und ich versuche tatsächlich – ich hatte das auch ganz am Anfang gesagt –, dass wir als Älteste versuchen, zu einem Thema möglichst spannungsfrei alle Stellen zusammenzuziehen.
Ich versuche wirklich, das gesamte Zeugnis der Schrift zu einem Thema als Ganzes zu verstehen. Natürlich kann man mir vorwerfen, dass meine Auslegung zu kompliziert sei, sich irgendwie am Zeitgeist orientiere, dass es eben nicht ein schlüssiges Bild zu allen Stellen gibt oder ich mich als Bibellehrer aus der dritten Reihe mit dieser Auslegung völlig überhebe.
Kann man alles sagen, ändert aber erst einmal nichts an meiner Auslegung.
Von Walter Kaiser stammt der Satz: „Leute wollen immer die Exegese überspringen und gleich zum Segen weitergehen.“ Ich finde ihn gut. Leute wollen immer die Exegese überspringen und gleich zum Segen weitergehen. Da ist leider etwas dran.
Je länger ich die Bibel studiere, desto klarer wird mir, dass man sie wirklich nachdenklich lesen muss und auch mit Know-how. Es gibt einen Grund, warum Gott der Gemeinde Lehrer gegeben hat. Über manche Themen muss man wirklich Tag und Nacht sinnen, bevor sie sich einem erschließen.
Und glaubt mir, ich sehe die Verantwortung eines Bibellehrers nach Jakobus 3,1 nur zu gut, und ich weiß, dass ich mich irren kann.