Er bleibt

Was, wenn Weihnachten vorbei ist?
Konrad Eißler
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Hinter uns liegt die Heilige Nacht und die Feiertage, vor uns liegt manche dunkle Nacht und die Werktage. Was bleibt vom Weihnachtsfest? Was wirklich bleibt, findet Konrad Eißler im 1. Johannesbrief. - Predigt zum 1. Sonntag nach dem Weihnachtsfest aus der Stiftskirche Stuttgart


Was bleibt, liebe Gemeinde?

Die Hirten kehrten wieder um, heißt es am Schluß der Weihnachtsgeschichte. Ihre Hände, eben noch ehrfürchtig gefaltet, griffen wieder nach den derben Stöcken. Hinter ihnen der Stall und das Kind, vor ihnen das Feld und die Pferche. Weihnachten brachte ihnen keinen 15. Monatsgehalt, keine Arbeitszeitverkürzung und keine Mitbestimmung. Es blieb bei demselben Hungerlohn, derselben Nachtschicht, derselben Schinderei. Auf dem Feld von Bethlehem ist nichts anders geworden. Was bleibt? Auch die Schreiber kehrten wieder um, die unbekannten Schreiber aus der Schule des Johannes. Hinter ihnen lag das Geheimnis der Weihnacht, das sie gehört, gesehen, beschaut und betastet haben, aber vor ihnen lag die Wirklichkeit christlicher Gemeinden, die alles andere als beglückend war. Weihnachten brachte ihnen keinen Mitgliederzuwachs, keine Einigkeit und keinen neuen Geist. Es blieb bei denselben Kirchenaustritten, denselben Streitereien und denselben Schwarmgeistern. In den Gemeinden der römischen Provinz Asia ist nichts anders geworden. Was bleibt?

Auch wir müssen wieder umkehren. Hinter uns liegt die Heilige Nacht und die Feiertage, vor uns liegt manche dunkle Nacht und die Werktage. Es bleibt bei demselben Geschäft, demselben Büro und demselben Laden. In Stuttgart ist nichts anders geworden. Was bleibt? Nichts bleibt, das ist die Wahrheit.

Aber stimmt das? Liegen wir mit diesem Denkschluss richtig? Ist das die Wahrheit, von der der Text sagt, daß wir sie wissen? Wir müssen die Bibel schon genauer lesen. Hinter dem Satz “die Hirten kehrten wieder um” steht kein Schlusspunkt, sondern ein Komma. Dahinter geht es also weiter: “priesen und lobten Gottes um alles, was sie gehört und gesehen hatten”. Ihre Zelte und Pferche und Schafe, ihr ganzer Krempel war derselbe geblieben, aber sie selbst waren wie umgekrempelt, weil Gott bei ihnen blieb. Plötzlich war Lob und Preis auf den Lippen, über die sonst nur Flüche und Zoten kamen. Weihnachten wandelte Menschen. Auch die Schreiber kehrten wieder um, griffen nach Papier und Feder und schrieben, daß ihre Freude vollkommen sei. Ihre Gemeinden waren im selben desolaten Zustand geblieben, aber sie selbst hatten einen andern Stand, weil Gott bei ihnen blieb. Kraft und Mut und Zuversicht floß aus ihrer Feder. Weihnachten wandelte Menschen.

Und wenn wir umkehren, liebe Freunde, müssen wir auf dieses Ziel des Christfestes achten: Es will Menschen wandeln. Mögen die Verhältnisse zunächst bleiben wie sie sind. Mag unsere Welt die alte bleiben. Wir sollen nach Gottes Absicht nicht die Alten bleiben. Deshalb bleibt Gott. Offenkundig geht Gott den umgekehrten Weg, wie wir ihn üblicherweise gehen. Wir meinen doch, wenn sich die Verhältnisse gebessert haben, dann wird alles besser. Wenn wir im Lotto gewonnen haben, wenn erst die Kinder groß sind, wenn wir das Haus abbezahlt haben, wenn wir in eine bessere Stellung eingerückt sind, wenn einmal der unangenehme Abteilungsleiter vom Fenster ist, wenn wir die Operation überstanden haben, dann, dann wird alles gut werden. Im Großen klingt es ähnlich: wenn die Abrüstungsgespräche gelungen sind, wenn die Freiheitsbewegungen nicht mehr zusammengeknüppelt werden, wenn die Schere zwischen reich und arm nicht mehr so weit auseinanderklafft, dann, dann sind wir dem Frieden nahe. Gottes Rangordnung ist anders. Er setzt den Hebel bei den Menschen an. Die Umgestaltung der Welt zu einer Friedensgesellschaft steht am Ziel des göttlichen Unternehmens. Den Anfang macht er bei den einzelnen, bei den Hirten, bei den Briefschreibern, bei Ihnen und bei mir, und zwar so, daß er bei uns bleiben will. Es ist nicht richtig, daß nichts bleibt. Er bleibt. Das ist die Wahrheit. Wie er das tut, zeigt dieser textlich dichte und theologisch gewichtige Abschnitt aus einem Hirtenbrief des 1. Jahrhunderts. Gott bleibt in Jesus, Jesus bleibt im Wort, Wort bleibt in Ewigkeit.

1. Gott bleibt in Jesus. Im vergangenen Jahr fuhren Freunde von mir in die DDR. Vielleicht kennen Sie das auch. Über die Festtage machten sie einen Verwandtenbesuch. Heilig Abend im Erzgebirge. Eigentlich wollten sie erst nach Neujahr zurück sein, aber schon am 27. meldeten sie sich wieder zur Stelle. Es sei schön gewesen in der alten Heimat, es sei auch wichtig gewesen, mit ihnen manche Armut und Sorge zu teilen, es sei sogar notwendig gewesen, wieder einmal dafür dankbar zu werden, wie unverdient gut wir es in unserem Land hätten, aber die fünf Tage seien arg lang geworden: die halbkalten Räume, weil die Braunkohle knapp wurde; die heruntergekommenen Häuser, weil die Handwerker nicht zu bekommen sind; die leeren Kirchen, weil sich die Leute auch vom Glauben nichts mehr versprechen. Sie seien froh gewesen, als dies alles hinter ihnen lag. Erleichternd stellten sie fest: Nur gut, daß wir nicht dort bleiben müssen. Liebe Freunde, Gott ist bei uns geblieben. Weihnachten ist keine Stippvisite. Die halbkalten Räume und die ganz kalten Herzen halten ihn von seinem Vornehmen nicht ab. Gott hat bei uns Wohnung genommen. Weihnachten ist kein Kurzbesuch. Die heruntergekommenen Häuser und die abgerissenen Gestalten machen ihm überhaupt nichts aus. Gott teilt unser Schicksal ganz. Weihnachten ist kein flüchtiges Rendez-vous. Die leeren Kirchen und die ganze Ungastlichkeit ändern nicht seinen Plan. Gott bleibt in Jesus. Und deshalb bleibt er in Rufweite. Seine Tröstungen und Mahnungen sind unüberhörbar. Ohne dieses “Fürchte dich nicht”, das in immer neuen Wiederholungen und Bekräftigungen auf uns zukommt, müssen wir nicht mehr leben. Gott bleibt in Jesus. Deshalb bleibt er in Hörweite. Mein Rufen und Schreien ist ihm nicht verborgen. Für alles, was mich bedrückt und belastet, hat er ein offenes Ohr. Gott bleibt in Jesus. Deshalb bleibt er in Sichtweite. Wir erahnen ihn nicht in der Tiefe des Seins oder in der Ferne des Raums. “Wer mich sieht, der sieht den Vater”, hat Jesus gesagt. Gott ist ohne Jesus nicht mehr zu denken. Im Wunder der Menschwerdung wird faßbar. Ein Gott zum Anfassen, das ist der Christengott. Ich weiß, daß das für viele unfaßlich ist. Sie reden über das Unbedingte. Sie diskutieren über das Absolute. Sie philosophieren über das être suprême. Sie suchen einen Gott, aber finden nur einen Götzen. Und wenn Sie auch zu diesen Gottsuchern gehören, weil er Ihnen im Leid oder Dunkel oder Schrecken abhanden gekommen ist, dann suchen Sie doch nicht irgendwo, nicht in der Höhe noch in der Tiefe, nicht in der Ferne noch in der Nähe. Suchen Sie in Jesus. Dort finden Sie einen lebendigen Gott, der sich seine Schöpfung nicht entreißen läßt. Dort finden Sie einen gerechten Gott, der der Ungerechtigkeit nicht ewig zusehen wird. Und dort finden Sie einen gnädigen Gott, der uns trotz Versagen und Schuld annehmen und aufnehmen will. Paul Gerhard hat ihn dort gefunden, deshalb betete er so an: ”Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen, und weil ich nun nicht weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O daß mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, daß ich dich möchte fassen.” Gott bleibt in Jesus.

2. Jesus bleibt im Wort. In diesem Jahr erreichte mich eine Weihnachtskarte. Zuerst fiel sie mir zwischen den Winterlandschaften, Krippenfiguren und Festgrüßen nicht sonderlich auf. Dann aber las ich fast zufällig den Text. Neben dem ”Frohe Weihnachten” stand dies: ”Jesus ist der Protest Gottes gegen die Mächtigen dieser Welt, die sich alles unter den Nagel gerissen. Jesus ist die Frage Gottes an alle scheinheiligen Ordnungen und Systeme, die sich selbständig gemacht haben. Jesus ist der Hilfeschrei aus dem Munde aller Versklavten, aller Ausgebeuteten. Jesus ist der Mensch, abgeschoben auf das Heu und Stroh dieser Welt.” Nach Meinung dieser Leute , und so müssen wir im Klartext lesen, bleibt also Jesus im Protest, in der Systemveränderung, in der Revolution im Aufruhr. Wenn wir uns an dieser Front engagieren, bleiben wir an seiner Seite. Mehr als den Klassenkampf und Befreiungskampf brauchen wir also nicht. Liebe Freunde, das ist die Lüge, die nicht aus der Wahrheit kommt. Das ist die Lüge aller Lügen, die die Gemeinde in ihrem Innersten zerstört. Das ist die Meisterlüge schlechthin, die mit absoluter Sicherheit tödlich wirkt. Wenn Jesus nicht mehr der Sohn Gottes ist, dann ist er das Freiwild für unsere Ideen. Wenn Jesus nicht mehr der Christus ist, dann ist er der Vorspann für unsere Ideologien. Wenn Jesus nicht mehr in der Trinität steht, wird er zur Galionsfigur unserer Pläne. Jeder von Gott abgetrennte Christus ist eine tragische Figur, die uns nichts bringt. Jesus Christus aber, der sich an Weihnachten in die Krippe einer elendigen Karawanserei hineinlegen ließ, der sich am Palmsonntag auf den Rücken eines elenden Esels hinaufsetzen ließ, der sich am Karfreitag an den Querbalken eines elenden Kreuzes festschlagen ließ, dieser Jesus Christus ließ sich an Pfingsten ins Wort hineinbinden, in dieses Wort, das von seiner Geburt unter Kaiser Augustus bis zu seiner Hinrichtung unter Kaiser Tiberius berichtet. Sicher ist dieses Bibelwort auch immer wieder schwaches und fehlerhaftes Menschenwort, aber darin und darunter bleibendes Gotteswort. Der Geist hat sich ans Wort gebunden, sagt Martin Luther, deshalb müssen wir uns daran festmachen. Wenn uns die Angst überkommt, wo denn diese Welt mit ihrem finsteren Himmel und ihrer blutigen Erde noch hinläuft, dann müssen wir die Offenbarung aufschlagen. Dort heißt es: “Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.” Wenn uns die Sorge befällt, was denn aus uns und unseren Kindern noch werde, dann müssen wir die Bergpredigt aufschlagen: “Sorget nicht für den andern Morgen.” Wenn uns die Gedanken quälen, wie wir unsere Aufgaben bewältigen können, dann müssen wir den Korintherbrief aufschlagen. “Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.” Wenn uns die Schuld anhängt, die gerade in stillen Feiertagen so hoch kam, dann müssen wir eben diesen ersten Johannesbrief weiter vorne aufschlagen: Er ist treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergibt. Kein Wunder bekannte der im Osten lebende Christ Mareschkowski: “Täglich habe ich die Bibel gelesen, und ich werde sie lesen, solange meine Augen sehen können und wo immer es Licht ist: sei es im Schein der Sonne oder im Schein des Herdes, sei es am hellen Tag oder in dunkler Nacht, im Glück oder Unglück, in gesunden oder kranken Tagen. Was habe ich auf Erden vollbracht? Ich las die Bibel.” Ob das nicht unser Programm für 1982 werden sollte: Täglich lese ich das Wort, denn Jesus bleibt im Wort.

3. Wort bleibt in Ewigkeit. Im nächsten Jahr sind unsere Worte von diesem Jahr wieder vergessen. Vielleicht bewahren wir uns einen Gruß, der so unerwartet kam und uns besonders gefreut hat, eine Weile in der Schublade auf. Vielleicht schneiden wir uns auch eine Weihnachtsgeschichte aus, weil sie unsere Stimmungslage genau getroffen hat. Vielleicht bleibt sogar ein Sätzchen im Gedächtnis, das uns ein guter Freund am Telefon gesagt hat. Aber alle Festgrüße, Grußbotschaften und Friedensappelle reichen nicht weit ins Leben hinein. Spätestens dann, wenn unser Gedächtnis lückenhaft wird und wir unsere Wohnung aufgeben müssen, haben uns alle gutgemeinten Worte verlassen. Nur dies eine Gotteswort bleibt: Es bleibt im Dunkel des Zweifels, wenn jede Wahrheit angefochten wird. Es bleibt im Dunkel der Schmerzen, wenn kein klarer Gedanke mehr zu fassen ist. Es bleibt im Dunkel der Krankheit, wenn die Schatten länger werden. Ja, es bleibt im Dunkel des Sterbens, wenn alle Menschen zurückbleiben müssen. Gottes Wort bleibt in Ewigkeit. Mit diesem Wort sind wir der schrecklichen Notwendigkeit des Vergehenmüssens entnommen. Durch dieses Wort haben wir die Gewißheit eines ewigen Lebens. In diesem Wort wächst dieses Verlangen: Ich will dich mit Fleiß bewahren, ich will dir, leben hier, dir will ich hinfahren. Mit dir will ich endlich schweben, voller Freud, ohne Leid, dort im andern Leben!

Es ist einfach nicht wahr, daß nichts bleibt. Er bleibt bei Ihnen, deshalb bleiben Sie bei ihm.

Amen