Heute wollen wir uns gemeinsam Psalm 22 ansehen. Ihr könnt diesen Psalm schon einmal aufschlagen. In dieser Woche beschäftigen wir uns mit einigen Psalmen.
Ich habe gestern bereits erwähnt, dass wir natürlich nicht alle 150 Psalmen durchgehen können. Sonst wären wir ein halbes Jahr hier in Zabelstein beschäftigt. Aber vielleicht machen euch die Psalmen, die wir in dieser Woche betrachten, Lust darauf, euch intensiver mit den Psalmen zu beschäftigen.
Ich lese Psalm 22 zunächst dem Chorleiter nach. Wahrscheinlich ist dies die Melodie eines Liedes: „Hirschkuh der Morgenröte“, ein Psalm von David.
Die Klage und das Vertrauen Davids in seiner Not
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Fern von meiner Rettung sind die Worte meines Gestöhns.
Mein Gott, ich rufe bei Tage, doch du antwortest nicht; auch bei Nacht finde ich keine Ruhe.
Doch du bist heilig, du, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels.
Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du hast sie gerettet.
Zu dir schrien sie um Hilfe und wurden gerettet. Sie vertrauten auf dich und wurden nicht zu Schanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.
Alle, die mich sehen, spotten über mich. Sie verziehen die Lippen und schütteln den Kopf:
„Er hat es auf den Herrn gewälzt, der rette ihn, befreie ihn, denn er hat ja Gefallen an ihm!“
Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib gezogen hat, der mir Vertrauen einflößte an meiner Mutterbrust.
Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß her; von meinem Mutterleib an bist du mein Gott.
Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nah, und kein Helfer ist da.
Viele Stiere haben mich umgeben, starke Stiere von Barschern haben mich umringt.
Sie haben ihr Maul gegen mich aufgesperrt wie ein Löwe, reißend und brüllend.
Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und alle meine Gebeine haben sich zertrennt.
Wie Wachs ist mein Herz geworden, zerschmolzen in meinem Innern.
Meine Kraft ist vertrocknet wie gebrannter Ton, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen.
In den Staub des Todes legst du mich, denn Hunde haben mich umgeben,
eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt.
Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben, alle meine Gebeine könnte ich zählen.
Sie schauen und sehen auf mich herab, sie teilen meine Kleider unter sich,
und über mein Gewand werfen sie das Los.
Du aber, Herr, sei nicht ferne, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!
Errette meine Seele vom Schwert, meine Einzige aus der Gewalt des Hundes!
Rette mich aus dem Rachen des Löwen und von den Hörnern der Büffel!
Du hast mich erhört!
Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern,
inmitten der Versammlung will ich dich loben.
Ihr, die ihr den Herrn fürchtet, lobt ihn!
Alle Nachkommen Jakobs, verherrlicht ihn,
und scheut euch vor ihm, alle Nachkommen Israels!
Denn er hat nicht verachtet noch verabscheut das Elend des Elenden,
noch sein Angesicht vor ihm verborgen.
Als er zu ihm schrie, hörte er.
Die prophetische Bedeutung und der Zusammenhang der Psalmen
Von dir kommt mein Lobgesang in großer Versammlung. Ich will meine Gelübde erfüllen vor denen, die dich fürchten. Die Sanftmütigen werden essen und satt werden. Sie werden den Herrn loben, die ihn suchen. Leben wird euer Herz für immer.
Alle Enden der Erde werden daran gedenken und zum Herrn umkehren. Vor dir werden niederfallen alle Geschlechter der Nationen, denn dem Herrn gehört das Königtum. Er herrscht über die Nationen.
Es aßen und fielen nieder alle Fetten der Erde. Vor ihm werden sich beugen alle, die in den Staub hinabfuhren, und der, der seine Seele nicht am Leben erhalten konnte. Nachkommen werden ihm dienen.
Man wird vom Herrn erzählen einer Generation, die kommen wird. Sie werden seine Gerechtigkeit verkünden einem Volk, das noch geboren wird, denn er hat es getan.
Soweit Gottes Wort.
Wir merken wahrscheinlich, wer gestern Abend dabei war, als wir uns Psalm 19 angesehen haben: Das ist eine ganz andere Kategorie von Psalmen. Gestern hatten wir das Lob Gottes und die Erkenntnis, dass wir anhand der Schöpfung und des Wortes Gottes die Herrlichkeit Gottes erkennen können.
Heute ist das Thema ein anderes. Ein Mensch, hier David, lässt uns in sein Herz schauen. Aber jeder von uns, der aufmerksam zugehört hat, wird merken, dass noch viel mehr darin steckt.
Man nennt diesen Psalm auch einen der messianischen Psalmen, einen prophetischen Psalm, der auf den Herrn Jesus hinweist. Bekannt ist der Anfang: „Mein Gott, mein Gott“. Man könnte auch sagen: „Wohin mit meinem Schmerz?“
Die messianische Triologie Davids
Vielleicht als Vorbemerkung: Drei Psalmen, die hier hintereinander stehen – Psalm 22, Psalm 23 und Psalm 24 – haben einen ganz bestimmten Zusammenhang. Man nennt sie die messianische Trilogie Davids.
Psalm 22 schildert den leidenden Hirten, der sein Leben für seine Schafe opfert. Psalm 23 beschreibt den großen Hirten, der sein Schaf sicher ans Ziel führt. Psalm 24 zeigt den Oberhirten, der wiederkommt, um seine Schafe zu holen.
Wir werden uns in den nächsten Tagen – also heute Abend Psalm 23 und morgen Vormittag Psalm 24 – ansehen. Ich denke, dass diese Psalmen zusammengehören. Sie schildern jeweils nicht nur eine Situation Davids, sondern geben auch deutliche Hinweise auf den Herrn Jesus.
Heute schauen wir uns also Psalm 22 an: den leidenden Hirten, der sein Leben für seine Schafe opfert.
Hintergrund zum Autor David und seine Lebenssituation
Ich möchte zunächst etwas zurückblicken auf den Autor, also auf den Psalmdichter David. David war der jüngste Sohn Isais. Wenn wir die Geschichte im ersten Buch Samuel lesen, stellen wir fest, dass David eigentlich immer so das „kleine Schaf am Rande“ war.
Ich weiß nicht, wer in seiner Familie das kennt, dass er sechs größere Brüder hatte. Man kann sich vorstellen, wie jemand aufwächst, der immer belächelt wird. Etwas anders wäre es gewesen, wenn er sechs größere Schwestern gehabt hätte. Dann wäre er vielleicht bemuttert worden. Aber bei sechs größeren Brüdern, glaube ich, ist das nicht einfach.
Ich kann mich noch gut daran erinnern: Wir haben vier Kinder, drei Söhne. Eines Tages gab es zwei Tischgespräche, in denen das Thema Unterdrückung zur Sprache kam. Als wir darüber sprachen, sagte mein Jüngster, der damals fünf Jahre alt war: „Ich bin unterdrückt.“ Das kann man sich natürlich sehr gut vorstellen.
Es gibt ja diese Begebenheit, in der David hinausgeschickt wird, weil seine drei großen Brüder im Krieg sind. Er soll ihnen etwas zu essen bringen. Den großen Brüdern ist es peinlich, dass der kleine Bruder kommt. Sie sagen: „Was willst du? Du bist nur neugierig, hau ab!“ Hier wird deutlich, welche Stellung David in seiner Familie hatte.
In seiner Jugend war David Hirte gewesen. Daher lesen wir in seinen Psalmen, besonders in den drei Psalmen, die so hintereinander geschrieben sind, vieles von diesem Hirtendienst. Man kann sich sehr gut hineinversetzen.
Wir haben in unserem Stadtteil Kaffee ein Seniorenfrühstück. Dort haben wir einen inzwischen 90-jährigen Senior dabei, der in seiner Jugend Wanderhirte war. Je älter er wird, desto mehr scheint er in seinem Hirtendasein zu leben. Er erzählt immer wieder von damals. Das ist heute fast ein ausgestorbener Beruf.
Als er Psalm 23 und auch Johannes 10 gelesen hat, sagte er: „Da merkt man, dass das wirklich ein Hirte gewesen ist. Das stimmt, was da steht.“ Durch diese beiden Stellen, Psalm 23 und Johannes 10, ist er in seinem hohen Alter zum Glauben gekommen.
Ja, David war in seiner Jugend Hirte. Später wurde er der Hirte seines Volkes Israel – oder wir können auch sagen: des Volkes Gottes. Aber er wusste, dass er nicht nur der Hirte dieses Volkes war, sondern dass Gott sein persönlicher Hirte ist.
Das ist immer gut für jemanden, der in Führung ist, zu wissen: Gott steht über mir, und ich bin von ihm abhängig. Man wünscht sich diese Einsicht bei vielen unserer Politiker heute, dass sie sich abhängig wissen von Gott, dass er ihr Hirte ist.
Die prophetische Ahnung Davids vom leidenden Hirten
Dieser Psalm, den er hier schreibt, macht deutlich, dass er offensichtlich etwas geahnt hat. Er spürte, dass dieser Hirte, Gott, sein Hirte, in der fernen Zukunft noch etwas tun würde, von dem er noch keine Ahnung hatte.
Gerade in diesem Psalm wird deutlich, dass er geahnt haben muss, dass dieser Hirte, dieser göttliche Hirte, leiden musste. Wahrscheinlich kennt jeder von uns Psalm 22 aus Gottesdiensten, wo er zitiert wird und ein Vergleich zur Kreuzigungsgeschichte des Herrn Jesus gezogen wird.
Es wird besonders deutlich dadurch, dass der Herr Jesus den ersten Vers aus diesem Psalm beim Sterben schreit. Mich bewegt das immer wieder neu. Wir werden uns gleich noch damit beschäftigen. Mich bewegt das immer wieder neu.
Die Bibel berichtet über den Herrn Jesus, dass er sonst nie geschrien hat. Er hat zwar laut gerufen, „Kommt her zu mir“, aber geschrien hat er nur dort am Kreuz. Ich muss sagen, das bewegt mich ungeheuerlich.
Manchmal, je nachdem, wen man vor sich hat und worüber man predigt, versuche ich, das deutlich zu machen.
Persönliche Erfahrungen mit Psalm 22 und dem Kreuzesruf Jesu
Wir waren vor einigen Jahren mit unserer gefährdeten Hilfe in Ungarn. Dort besuchten wir das Gefängnis in Esztergom. In Ungarn nennt man es noch Zuchthaus. So etwas gibt es bei uns hier nicht mehr. Dort waren langjährig Inhaftierte und solche, die lebenslänglich haben – alles harte Burschen, denen man nachts nicht begegnen möchte.
Der Gottesdienst fand im Innenhof dieses Gefängnisses statt, und ich sollte predigen. Ich sprach über das Sterben des Herrn Jesus, basierend auf Matthäus 27. Für den Anfang des Psalms ließ ich mir vom Übersetzer den Text auf Ungarisch geben. Heute kann ich das nicht mehr, denn Ungarisch ist eine sehr schwierige Sprache. Man muss das Gebiss andersherum einsetzen, so heißt es. Die Ungarn sind überzeugt, dass wir im Himmel Ungarisch sprechen, weil es eine Ewigkeit dauert, diese Sprache zu lernen.
Ich wollte bei der Predigt den Schrei des Herrn Jesus so deutlich machen, dass er nicht übersetzt werden musste. Deshalb hatte ich mir den Text schriftlich angefertigt. Leider finde ich ihn heute nicht mehr. Die Inhaftierten saßen vor mir, und ich schilderte, wie der Herr Jesus am Kreuz hängt, wie es mitten am Tag dunkel wird und wie beklemmend das gewesen sein muss. Es wurde mucksmäuschenstill. In diese Stille hinein schrie der Herr Jesus – ich werde es jetzt nicht nachahmen, damit niemand vom Stuhl fällt. Er schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Ich habe es so noch nie erlebt, dass wirklich 150 Inhaftierte mucksmäuschenstill sind. Ich konnte das Evangelium verkünden. Nach der Predigt kam einer der Bediensteten zu mir und sagte, er möchte gerne mitkommen zum Kommandanten. Ich folgte ihm zum Büro des Kommandanten. Als ich das Büro betrat, stellte ich fest, dass das Fenster geöffnet war und der Kommandant auf den Hof schaute. Da wurde mir bewusst, dass er die Predigt gehört haben musste.
Der Kommandant stand auf, kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte: „Herr Platte, ich habe verstanden. Diese Predigt war für mich.“ Ich glaube, diese Predigt ist für jeden.
Etwas Ähnliches geschah bei uns im Café vor drei Jahren, während der Passionszeit. Normalerweise lese ich immer eine Geschichte von Pastor Wilhelm Busch vor. Doch diesmal fiel mir keine Geschichte ein. Stattdessen las ich die Passionsgeschichte nach Matthäus 27 vor.
Danach kam einer der Senioren zu mir und sagte: „Eberhard, heute habe ich zum ersten Mal verstanden, warum Jesus sterben musste.“ Ich fragte ihn: „Und warum?“ Er antwortete: „Wegen meiner Sünde.“ Ich glaube, das macht Psalm 22 und auch Matthäus 27 deutlich. Warum schreit der Herr Jesus? Wegen deiner Sünde.
Wir werden uns das gleich noch einmal näher ansehen.
Psalm 22 als Trost für leidende Christen und Davids persönliche Not
Psalm 22 ist zunächst einmal ein Psalm, der vielen leidenden Christen in all den Jahrhunderten Trost gegeben hat. Wie viele leidende und verfolgte Christen haben diesen Psalm gebetet, um ihre Not und ihre Bedrängnis vor Gott auszudrücken.
Doch ursprünglich ist dieser Psalm ein Psalm von David. Wir wollen uns zunächst damit beschäftigen, warum David ihn geschrieben hat. Was war damals bei David, dass er so etwas schreibt?
Man merkt bei diesem Psalm, dass David sich nicht einfach an seinen Schreibtisch setzt, um ein Lied zu dichten. Die meisten Psalmen, die David schreibt, entstehen aus einer Notsituation. Jeder, der die Lebensgeschichte von David ein wenig kennt, weiß, dass David zehn Jahre auf der Flucht vor Saul gewesen ist. Er konnte kein normales Leben führen. Er war ständig auf der Flucht, zusammen mit ungefähr 400 Leuten, die ebenfalls vor Saul flohen. Saul versuchte oft, ihn zu fangen. Aus manchen Psalmen geht hervor, dass David echte Not hatte. Er war nirgendwo sicher und musste sich in den Höhlen der Wüste Juda verstecken.
Obwohl er etwa 400 Leute um sich hatte, die ihn verteidigen konnten, vertraute er darauf nicht. Dieser Psalm macht deutlich, dass David ängstlich fragt. Wir können den Psalm in Abschnitte einteilen. Die meisten Psalmen haben, wie wir gestern schon gesehen haben, so etwas wie Strophen.
Ich würde sagen, die erste Strophe umfasst hier die Verse 2 bis 9. Dort geht es um die Frage des „Warum“. Diese Frage hat viele Christen in allen Jahrhunderten beschäftigt: „Gott, warum? Warum lässt du Leid zu? Warum muss der Gerechte leiden?“ Diese Frage zieht sich durch die ganze Bibel.
Wenn wir uns das vorstellen: David ist auf der Flucht, er weiß, dass Saul seine Truppen hinter ihm her schickt, und er sieht keine Lösung. Dann schreit es aus ihm heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wir lesen diesen Vers einmal nicht aus der Perspektive Jesu, der das sagt, sondern so, dass David es erlebt. Er hat diesen Schrei auf seinem Herzen. Wir haben das gelesen und versuchen, es jetzt unabhängig von Jesus zu sehen, sondern in Bezug auf David.
Wie mag es in seinem Herzen ausgesehen haben? Er sagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Fern von meiner Rettung sind die Worte meines Gestöhns. Mein Gott, ich rufe bei Tag, und du antwortest nicht, bei Nacht aber finde ich keine Ruhe.“
Könnt ihr euch diese Situation vorstellen? Vielleicht kennt ihr auch solche Situationen: Gott hört nicht. Man hat den Eindruck, man betet, man schreit, und die Gebete gehen nur bis zur Decke – es kommt keine Resonanz.
Man merkt aus diesen ersten Versen die Verzweiflung Davids: „Warum antwortest du nicht? Ich schreie am Tag, nachts kann ich nicht schlafen.“ Das fasziniert mich an David.
Das werden wir auch bei den einzelnen Strophen sehen, wenn wir sie durchgehen. Ihr könntet das vielleicht in eurer Bibel immer unterstreichen: In fast jeder Strophe kommt trotzdem immer wieder der Blick auf Gott.
Was sagt David, nachdem er so geschrien hat? „Doch du bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels. Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du rettetest sie. Zu dir schrien sie um Hilfe und wurden gerettet. Sie vertrauten auf dich und wurden nicht zu Schande.“
David wirft bei all seiner Not und Verzweiflung den Glauben an Gott nicht weg. Er schreit: „Gott, bitte antworte, antworte!“ Und dann erinnert er Gott daran, dass er doch sonst immer geantwortet hat.
Wenn ich in die Geschichte hineinschaue, sagt David: „Unsere Väter haben zu dir gebetet, und du hast geholfen.“ Und im Stillen kommt die Frage: „Warum jetzt nicht?“
Kennst du das auch? Du steckst in einer Situation und wünschst dir, dass Gott wirklich antwortet.
David verzweifelt nicht und ruft Gott an. Dabei merkt er: „Ich bin ein Wurm, ich bin verspottet, ich bin verachtet.“ Er kommt sich so klein vor. Ich finde es tragisch zu sehen, wie David in diesem Psalm darum ringt.
Die Hilflosigkeit und Angst Davids vor seinen Feinden
Die zweite Strophe, Verse zehn bis zwölf, lautet: „Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib gezogen hat, der mir Vertrauen einflößte an meiner Mutterbrüsten. Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an. Von meinem Mutterleib an bist du mein Gott. Sei nicht fern von mir, denn Not ist nah, denn kein Helfer ist da.“
Hier spüren wir die Verzweiflung und Hilflosigkeit, doch gleichzeitig sucht David seine Zuflucht bei Gott. Er weiß schon von Geburt an, dass er auf Gottes Hilfe angewiesen ist. Daraus kann man fast vermuten, dass Davids Geburt nicht einfach war. Vielleicht musste er schon als Baby Gott anrufen, um überhaupt zu überleben. Er erinnert sich daran, dass er von Geburt an auf die Gnade und Hilfe Gottes angewiesen war.
In den nächsten beiden Versen beschreibt er seine Feinde: „Viele Stiere haben mich umgeben, starke Stiere vom Barschan mich umringt. Sie haben ihr Maul gegen mich aufgesperrt wie ein Löwe, reißend und brüllend.“ Die Feinde sind real. Wenn David an die Feinde denkt, die Truppen Sauls, erkennt er, dass sie mächtiger sind als er. Die Gewalt und Kraft der Stiere, das aufgerissene Maul des Löwen – all das macht ihm Angst.
Man kann das gut nachempfinden. Viele Christen kennen solche Situationen: Du wirst gemobbt im Beruf, vielleicht sogar in der Gemeinde. Du wirst in der Familie nicht akzeptiert und hast einfach Angst. Wohin mit dieser Angst? Das können wir bei David lernen.
David beschreibt offen, wie er sich fühlt. Das finde ich immer wieder gut. In der Bibel sehen wir immer wieder, dass Gott möchte, dass wir ihm sagen, was in unseren Herzen ist. David scheut sich nicht, er frisst seine Gefühle nicht in sich hinein. Das weiß jeder: Wenn ich Not, Qual und Leiden in mich hineinfresse, kann das zu gesundheitlichen Problemen führen – Magengeschwüre, Herzinfarkt, Burnout. David sagt, was in seinem Herzen ist, und wir erkennen seine völlige Hilflosigkeit.
Als er merkt, dass keinerlei Kraft mehr in ihm ist, kann man sich David richtig vorstellen, wie er mit hängenden Schultern dasteht. Doch in Vers 16 weiß er, dass Gott das alles zulässt. Nichts geschieht ihm, was nicht bei Gott vorbeigegangen ist, was Gott nicht zugestimmt hat.
Denken wir an die Begebenheiten von Hiob: Satan hat Zugriff auf Hiob, aber nur so weit, wie Gott es zulässt. Martin Luther hat das einmal sehr provokativ gesagt: „Selbst der Teufel ist der Teufel Gottes.“ Damit meint er, dass der Teufel nicht mehr tun kann, als Gott erlaubt.
Oft fühlen wir uns bedrängt durch den Teufel oder durch Menschen um uns herum. Aber wir dürfen wissen, dass hinter allem Gott steht, der alles in der Hand hat. Selbst wenn er schweigt, weiß er ganz genau, was dich betrifft und wie weit der Teufel gehen darf.
Die Hilferufe und das Festhalten an Gott trotz Bedrängnis
Vers 17 bis 22 – die nächste Strophe: David fühlt sich völlig ausgeliefert. Er beschreibt die Menschen um sich herum als eine Rotte von Hunden.
Er leidet körperlich, fühlt sich völlig entblößt. Doch in den Versen 20 bis 22 ruft er Gott um Hilfe an.
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt: Egal, wie es dir geht, klammere dich an Gott. Du darfst wissen, dass er es weiß, auch wenn er im Moment nicht antwortet. David verliert sein Vertrauen zu Gott nicht – selbst wenn keine Antwort kommt.
Deshalb ist dieser Psalm für mich ein Mutmacher. Du bist nicht der Einzige, der in Not ist. Du bist nicht der Einzige, der sich allein gelassen fühlt. Du bist nicht der Einzige, der auf eine Antwort Gottes wartet, obwohl es so scheint, als würde Gott nicht antworten.
Ruf weiter!
Der Blick über die Not hinaus und das Lob trotz Leid
Strophe sechs. Es ist erstaunlich, dass dieses Verhalten bei David entsteht und bei jedem, der sich auch in der Not weiterhin auf Gott verlässt. David blickt über seine gegenwärtige Situation hinaus in die Zukunft. Er vertraut auf Gottes Rettung. Daraus ergibt sich jetzt, selbst im Leid, schon das Lob.
Das fasziniert mich an diesem Psalm: David lobt schon, obwohl er noch nicht aus der Not gerettet ist. Er weiß, dass Gott zum Ziel kommt. Er beschreibt, wie Gott Rettung gibt, und sagt: Gott, du wirst das auch bei mir tun. Und ich werde das anderen zeugnishaft erzählen.
Oft ist es so, dass Gott Leiden zulässt, damit man hinterher anderen Trost geben kann. Ich weiß das von meinem Vater. Er war seit seinem fünfzigsten Lebensjahr Reisebruder in den Brüdergemeinden. Doch seit diesem Alter hatte er keinen Tag ohne Schmerzen. Er hatte einen künstlichen Ausgang, und damals gab es noch nicht die medizinische Technik wie heute. Wenn Urin an eine Wunde kommt, schmerzt das immer.
Ich kann mich gut erinnern: Als Kind konnte ich das sehen, wenn mein Vater auf der Kanzel stand und predigte. Die Geschwister merkten nichts davon, aber ich sah an seinen weißen Fingerkuppen, dass er Schmerzen hatte. Er hielt sich am Podium fest. Dann wusste ich als Kind, dass ich für Papa beten musste.
Oft habe ich gedacht: Gott, warum lässt du das zu, dass mein Vater so leiden muss? Er wurde dreizehnmal operiert, und ich habe mich oft gefragt, warum.
Doch wenn ich anschließend durch die Gemeinden ging, erzählten mir viele Geschwister, wie er sie in ihren Leiden getröstet hatte. Er konnte mitfühlen, weil er es selbst kannte.
So ist es auch bei David. Dieser Psalm war für viele Christen in all den Jahrhunderten ein Trost, weil sie merkten: Ich bin nicht der Einzige. David richtete seinen Blick weiter auf Gott.
Ich sagte zu Anfang: Gleichzeitig ist dieser Psalm eine prophetische Schilderung des Werks von Golgatha.
Die Verbindung von Psalm 22 und dem Sterben Jesu am Kreuz
Und jetzt schalten wir einmal um und schauen nicht auf David, sondern auf den Herrn Jesus. Schon hier ist zu sehen, dass derselbe Psalm, der die Not Davids schildert und sein Gottvertrauen beschreibt, eine lebendige Vorwegnahme ist – schon tausend Jahre vor dem Sterben des Herrn Jesus.
Dieser Psalm handelt vom Sterben des Herrn Jesus. Nicht umsonst kennt jeder diesen Vers aus Matthäus 27,46: Als Jesus in den drei Stunden der Finsternis ausharrt, zieht Gott sozusagen den Vorhang zu. Es ist ein Bild dessen, was der Hohepriester im alten Israel am großen Versöhnungstag tat. Einmal im Jahr ging er in das Allerheiligste, in die Gegenwart Gottes, um Sühne für die Sünden des Volkes zu tun.
Wenn der Hohepriester das Allerheiligste betrat, vor der Bundeslade, dem Thron Gottes, stand, fiel der Vorhang hinter ihm zu, und es wurde dunkel. Im Allerheiligsten gab es kein Fenster, kein Licht, keine Kerze. Er stand im Dunkeln, mit den Sünden des Volkes und mit dem Blut des Lammes. Genau das geschieht auf Golgatha: Da hängt Jesus mit deiner und meiner Schuld am Kreuz. Gott zieht den Vorhang zu, es wird dunkel, und niemand kann hineinsehen, was in diesen drei Stunden der Finsternis geschah.
Auffallend ist, dass diese Begebenheit der drei Stunden Finsternis nur mit einem halben Satz beschrieben wird, während die anderen Stunden ausführlich dargestellt sind. Aber in den drei Stunden der Finsternis steht Jesus als Hoherpriester mit deiner und meiner Schuld vor Gott und tut mit seinem eigenen Blut Sühne für unsere Sünden. Niemand schaut hinein, es ist dunkel.
Am Ende dieser drei Stunden schreit Jesus: „Eli, Eli, lama sabachtani?“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Gott gibt keine Antwort darauf. Warum nicht? Weil du und ich die Antwort darauf geben müssen. Ich, ich und meine Sünden. Wir kennen das Lied von Paul Gerhardt: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körner empfinden des Sandes am Meer.“ Meine Sünden haben ihn ans Kreuz gebracht. Deshalb musste er sterben.
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – und ich muss sagen: Wegen meiner Sünde, Herr Jesus, deshalb warst du von Gott verlassen. Diese Psalmworte lassen uns in das Herz des Herrn Jesus hineinschauen, und wir merken: Das Sterben am Kreuz ist ihm nicht leichtgefallen. Oft gehen wir zu schnell darüber hinweg.
Ich habe das schon einmal erzählt, manche werden es wissen: Wir hatten eine Tischandacht mit unseren Kindern und lasen diese Worte aus Matthäus 27. Da fing unser Jüngster, damals vier Jahre alt, an zu weinen. Unser Ältester, acht Jahre alt, fragte: „Timo, warum weinst du?“ Und er sagte: „Das ist doch schrecklich, was wir mit Jesus machen.“ Unser Micha sagte: „Ist nicht so schlimm, der steht wieder auf.“ Wir kennen die Geschichte alle, oder?
Oft wünschte ich, uns würde noch einmal neu bewusst, wie schrecklich das ist am Kreuz. Damit Gott mir vergeben kann, lässt er seinen Sohn grauenvoll sterben. Meine Vergebung hat Gott seinen Sohn gekostet. Vergebung ist kein schönes Gefühl. Ich sage gerne: Vergebung ist brutal, ist radikal. Gott setzt alles ein, damit du gerettet wirst.
Wir merken hier, indem Jesus dieses Psalmwort von David schreit, schauen wir hinein in sein Herz. Wir sehen seine Schmerzen, seine Verlassenheit von Gott. Plötzlich merken wir, dass auch die anderen Verse auf dieses Sterben des Herrn Jesus hinweisen.
Vers sieben bis neun zeigen uns fast wörtlich den Spott, der unter dem Kreuz stattfindet. Matthäus 27,44: „Ebenso spotteten auch die Hohenpriester, und sie sagten: ‚Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten.‘ Auf dieselbe Weise schmähten ihn auch die Räuber.“
Wie sagt David? „Ich bin ein Spott, ich bin verachtet.“ Beim Herrn Jesus traf das zu. Da steht die gaffende Volksmenge, da stehen die Obersten des Volkes, und sie lachen ihn aus: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Wenn du Gottes Sohn bist, steig herab vom Kreuz!“
Ach, Jesus hätte das machen können. Dem Wind und den Wellen gehorchten seine Worte, Menschen sind auf sein Wort hin aus dem Grab auferstanden. Für ihn wäre es ein Leichtes gewesen, er hätte nicht einmal zwölf Legionen Engel von Gott gebraucht.
Wir merken an dieser Stelle auch in diesem Psalm das wirkliche Menschsein des Herrn Jesus, als er hier auf der Erde war. David schildert von seiner Geburt, und wenn wir Matthäus 1 lesen, die Geburt des Herrn Jesus, merken wir auch, dass er auf Gott angewiesen war.
Es ist unbegreiflich: Auf der einen Seite wird gesagt, die Fülle der Gottheit ist in ihm leibhaftig. Und diese Fülle der Gottheit liegt als hilfloses Baby in einer Krippe. Kannst du das begreifen? Ich nicht.
Auch das schildert das Matthäusevangelium: Kein Helfer ist da, nur Feinde, die ihn bewachen. Matthäus 27,36: „Er ist gekreuzigt inmitten von Übeltätern, und die Vorübergehenden lästern ihn.“ Man hat den Eindruck, ...
Die Antwort auf die Klage: Vergebung durch das Leiden Christi
Psalm 22 ist fast wie ein Bericht direkt vom Sterben des Herrn Jesus. Die Spötter verhielten sich genauso, wie sie damals über David gespottet haben. David vertraute auf Gott und rief: „Der rette mich jetzt!“ Das erinnert fast wörtlich an die Kreuzigungsszene.
Man kann sich das genau vorstellen, wenn man die Aussagen in Vers 17 bis 19 betrachtet. Dort heißt es, dass seine Kleider verteilt werden – das wurde schon tausend Jahre vorher angekündigt. Es herrscht Finsternis bis zur neunten Stunde, und man hört seinen Schrei.
Was ist das Resultat seines Sterbens? Das, was David über seine Not hinausblickt, kann auch über den Herrn Jesus gesagt werden. Das Resultat seines Sterbens ist, dass der Vorhang zerreißt und der Hauptmann zum Glauben kommt. Der Erste, der zum Glauben kommt, ist ein Verbrecher, der Zweite ein Heide. Wir sind in guter Gesellschaft, oder? Ich glaube, wir alle sind Verbrecher, auch wenn wir so tun, als wären wir gute Leute.
Nimmt man den Hebräerbrief dazu, erkennt man, dass Jesus das Kreuz um der vor ihm liegenden Freude willen erduldet hat. Wie dankbar dürfen wir sein, dass Jesus ausgehalten hat! Bei ihm trifft zu, was wir in den letzten Versen dieses Psalms gelesen haben: Dieses Evangelium wird in alle Welt hinausgetragen. Es wird dazu führen, dass in der Zukunft – wie Paulus im Philipperbrief Kapitel 2 am Ende sagt – alle Knie sich beugen müssen, ob sie wollen oder nicht.
Wie gut ist es, wenn wir jetzt schon unsere Knie beugen und ihm die Ehre geben – und nicht erst dann in der Herrlichkeit, wenn sie gezwungenermaßen niederknien müssen, um zu sagen, dass Gott der Herr ist.
Psalm 22 beginnt mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Darauf kann man antworten: Um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Wunden ist uns Heilung geworden.
