Begrüßung und Einstimmung auf den Gottesdienst
Wir begrüßen Sie herzlich zu diesem Gottesdienst. Lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen, um jetzt noch einmal nach rechts und links ein Gespräch zu beginnen. Guten Tag, wird man Ihnen bereits gesagt haben. Vielleicht wissen Sie auch gar nicht, wer hier wer ist und wie man zusammensitzt.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes: Unsere Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er sagt: Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Wir wollen beten. Du weißt, wer von uns heute in dieser Situation innerlich zerbrochen ist und am Rande seiner Existenz, auch seines Glaubens steht. Herr, wir erwarten von deiner Seelsorge, von deinem Hirtendienst, dass du uns neu aufrichtest, dass du das Zerbrochene heilst und stärkst. Wir bitten dich, dass wir neu erfahren, wie gut uns deine Vergebung tut und wie wichtig für uns deine Gebote sind.
Wir beten weiter in der Stille.
Wir danken dir, Herr, für deine Zusage, jetzt in unserer Mitte zu sein. Amen!
Einführung in das Thema des fünften Gebots
Wir besprechen heute nach der biblischen Erzählung das fünfte Gebot: 2. Mose 20,12 – „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebst in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“
Zunächst möchte ich eine Bemerkung vorwegnehmen, um falschen Vorstellungen entgegenzuwirken. Manch einer könnte jetzt innerlich die Hände reiben und denken: „Heute kriegen es aber mal die Jungen richtig zu spüren. Und wenn wir dann nach Hause kommen, werden wir die Ernte einfahren, nicht?“ Oft hört man solche frommen Töne, doch zu Hause zeigt sich dann keine wirkliche Veränderung.
Ein Kenner des alten Israels und ein gelehrter Bibelausleger hat sehr treffend beobachtet, dass dieses Gebot in Israel nicht in erster Linie den jungen Leuten galt. Es war damals völlig selbstverständlich, dass die jungen Leute zu Hause gehorchten und nicht widersprachen. Ein Aufmucken war undenkbar und stand überhaupt nicht zur Debatte.
Diese Haltung kann man heute noch in Großfamilienkulturen in Asien und Afrika, vor allem in ländlichen Gegenden, beobachten. Dort ist es völlig normal, dass Kinder bis zum Alter von achtzehn, neunzehn Jahren und bis zur Heirat unter der Leitung der Eltern stehen. Das ist dort eine Selbstverständlichkeit.
Das Gebot richtet sich also in erster Linie an erwachsene Kinder, die eine Verpflichtung gegenüber ihren alternden Eltern haben. Das ist die Hauptaussage. Natürlich ist das andere nicht ausgeschlossen, und wir werden beide Aspekte betrachten.
Ich möchte dies vorwegnehmen, um klarzumachen, dass wir alle gemeint sind. Dieses Gebot ist nicht nur eine Anweisung für Kinder bis 18 Jahre, noch ist es ein Druckmittel gegenüber älteren Kindern. Vielmehr betrifft es vielleicht ein noch viel dringlicheres Problem für uns: die älteren Kinder, die nicht mehr im Familienverbund leben.
Das ist ein wichtiger Punkt, den ich Sie bitte, nicht zu vergessen.
Die Bedeutung des Gebots im Neuen Testament und die Realität der Welt
Jesus greift in Markus 7 dieses Gebot auf. Es geht dabei genau um die Versorgung der alternden Eltern durch ihre erwachsenen Kinder.
Dazu muss ich eine zweite Vorbemerkung machen: Dieses Gebot wird im Neuen Testament von Jesus und auch in den Briefen aufgenommen und ohne Einschränkung in seiner Gültigkeit bestätigt. Im Römerbrief findet sich eine bedrückende Perspektive. Paulus beschreibt dort, wie eine Welt aussieht, die Gott preisgibt. Das bedeutet, ohne Gott leben zu müssen, obwohl man es eigentlich anders wollte.
Paulus sagt, die Menschen haben das Geschöpf mehr geehrt als den Schöpfer. Deshalb hat Gott sie dahingegeben – im verworfenen Sinn – um das zu tun, was nicht in Ordnung ist. Dann zählt er auf, wie eine Welt aussieht, die Gott nicht wollte und die er nun laufen lässt. Das ist der Vollzug des Gerichts Gottes im schlimmsten Sinne: Gott überlässt uns in unserer Welt uns selbst.
Im Anschluss wird aufgezählt, was an Hass, Mord, Ehrverletzung, Gemeinheit und Verleumdung in einer solchen Welt möglich ist. In dieser Aufzählung kommen als Kennzeichen auch Kinder vor, die ihren Eltern ungehorsam sind.
So kann ein Jugendpfarrer seinen guten Ruf verlieren, wenn er solche Dinge sagt, als ob das eine ernstzunehmende Perspektive für die Pädagogik der Gegenwart wäre – dass Kinder ihren Eltern gehorsam sein sollen und sie ehren.
Ich komme gleich noch darauf zurück, dass es auch einen geistlichen Kinderschutzbund gibt. Das zeigt, dass so etwas dringend nötig ist. Wie vorgelesen wurde: „Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn.“ Dieses Ausspielen von Überlegenheit und Macht ist eine sehr kritische Geschichte.
Nicht alles, was wir aus Überlegenheit tun, ist pädagogische Weisheit. Wir neigen jedoch dazu, von unseren Kindern zu erwarten, dass sie innerlich trotzdem stramm stehen.
Die Bibel sagt uns aber – da muss ich jetzt bei bleiben – dass ein zerstörtes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ein Kindzeichen des nicht vollziehenden Gerichts Gottes über diese Welt ist. Es ist nicht in Ordnung, es ist keine Tugend, sondern zerstörte Schöpfung Gottes. Es ist ein Stück Preisgegebensein im Gericht Gottes.
Daraus wird deutlich, in welcher notvollen Verstrickung wir uns befinden. Es gibt kaum einen Bereich, in dem heute so viel Ratlosigkeit herrscht wie im Verhältnis von Eltern und Kindern.
Die Herausforderung und die Bedeutung des Gebots für alle Generationen
Jeder von uns, der in diesem Augenblick innerlich aufatmet und denkt: „Mensch, Gott sei Dank ist das bei uns zu Hause ganz prima“, sollte sich nicht aufs hohe Ross setzen. Man gerät schneller in Probleme, als man denkt. Es ist keine Tugend, wenn man noch nicht davon betroffen ist oder glimpflich davongekommen ist. Das lässt sich nicht gegeneinander aufrechnen.
Wir wollen uns dieser Wegweisung, diesem Gebot Gottes jetzt stellen – unter diesem Vorzeichen: Hier gibt uns Gott Rat, Rat für Ratlose.
Mir ist es heute besonders wichtig, an diesem Gebot deutlich zu machen, dass – wie bei allen Geboten – die Gebote Geschenke, Wohltaten Gottes und hilfreiche Wegweisungen sind. Sie helfen uns in unserer Ratlosigkeit, in unserer Orientierungslosigkeit und auch in unserem vermeintlichen Besserwissen. Oft meinen wir, die Welt zurechtzurichten, sodass man es kaum noch erträgt. Gerade in unserem Besserwissen und in unserer Ratlosigkeit geben sie uns Hilfestellung, Korrektur und Wegweisung.
Ich möchte das Pferd von hinten aufzäumen und über die Geschenkgarantie sprechen, die mit diesem Gebot verbunden ist. Es heißt dort: „Dass du lange lebst in dem Land, das Yahweh, dein Gott, dir geben wird.“
Der Paulus nimmt das im Epheserbrief auf. Er sagt: „Tut das, seid euren Eltern gehorsam, ehret sie! Denn das ist das erste Gebot in der Reihe der zehn Gebote, das eine ausdrückliche Verheißung mit sich führt.“ Dann zitiert er eben diese Verheißung, dass man lange lebt im Land. Die Befolgung des Gebotes garantiert also ein Geschenk Gottes.
Nun kann man geteilter Meinung darüber sein, ob das Geschenk eines langen Lebens wirklich ein Geschenk ist. Es kommt ja darauf an, wie dieses lange Leben verläuft. Wenn man ein langes Leben hat, aber von viel Leid und Krankheit gequält wird, ist das vielleicht eher eine Zumutung als ein Geschenk.
Wenn man jedoch näher hinschaut in diesem Bibeltext, sieht man, dass es bei dem Geschenk gar nicht darum geht, dass hier ein langes Leben an sich gemeint ist. Es heißt vielmehr, dass du lange lebst in dem Land, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.
Das verheissene Land als Symbol für Gottes Segen und Schutz
Im Neuen Testament wird das Thema des langen Lebens auf Erden im Griechischen zwar aufgegriffen, jedoch tritt es etwas in den Hintergrund. Es klingt so, als ginge es dabei vor allem um ein langes Leben. Das Land ist das verheißene Land, der Ort, an dem Israel leben darf, nachdem es aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurde.
Nachdem Israel die lange, mühevolle Zeit der Entsagung und des Lebens am Rande des Nichts in der Wüste hinter sich gebracht hat, ist nun das reiche Land der Verheißung erreicht. Dort kann man geschützt leben und von den Ernten profitieren. Man kann Häuser bauen und den Segen Gottes empfangen. Israel steht unter seiner Fürsorge.
Dieses verheißene Land ist für Israel von großer Bedeutung, und darum geht es in der Zusage, dass man darin bleiben soll. Es bedeutet nicht nur ein vorübergehendes Aufatmen, sondern dass der Segen, die Zuwendung und die Fürsorge Gottes bis ins Leibliche hinein wirken. Der Segen Gottes betrifft nicht nur geistliche Wahrheiten, sondern auch das leiblich-materielle Leben. Es geht darum, unter dem Segen Gottes zu bleiben.
Dieses Gebot betrifft tatsächlich unser Wohlergehen, wenn man so will auch den Wohlstand. Wir werden erleben, dass der Weg, auf dem wir eine Wohlstandsgesellschaft aufbauen wollten, sich als Sackgasse erweist. Immer mehr Menschen erkennen, dass dort, wo wir dachten, der Wohlstand erfülle das Leben, das Habenwollen und Mehrhabenwollen, am Ende eine totale Enttäuschung und Leere steht.
Statt aufzuatmen und volles Genüge zu haben, geraten wir in eine Gesellschaft des Überdrusses, die vor die Hunde geht.
Zusammenhang zwischen Eltern ehren und persönlichem Wohlergehen
Vom Wohlstand – davon spricht die Bibel im Zusammenhang mit dem Gebot: „Ehre deinen Vater und deine Mutter.“ Dabei stellt sich die Frage, warum es einen Zusammenhang gibt zwischen der Ehrung der Eltern und unserem Wohlbefinden. Ist das ein psychologischer Mechanismus? Wie soll das funktionieren? Das klingt zunächst etwas naiv.
In diesem Gebot geht es jedoch nicht darum, dass es sich um einen rein psychologischen Mechanismus handelt. Das heißt, es ist nicht nur so, dass das Ehren der Eltern automatisch dazu führt, dass es uns insgesamt gut geht. Obwohl ich anmerken möchte, dass in unserer heutigen Welt schon viel gewonnen wäre, wenn wir lernten, bei Meinungsverschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten – die unvermeidlich sind, auch zwischen den Generationen – eine gehörige Portion Ehrerbietung walten zu lassen.
An der Rücksichtslosigkeit und der ungezügelten Launenhaftigkeit, mit der wir unser vermeintliches Recht durchsetzen, gehen wir kaputt – nicht an den Meinungsverschiedenheiten selbst. Unsere Beziehungen zerbrechen nicht daran, dass wir unterschiedliche Ansichten haben, sondern daran, dass diese Auseinandersetzungen ohne Respekt füreinander geführt werden. Stattdessen herrscht ein Ton der Rücksichtslosigkeit, Menschenverachtung, Rechthaberei, kalter Egoismus und Wut.
Insofern ist gut nachvollziehbar, dass es auch einen ganz vordergründigen menschlichen Zusammenhang gibt: Wo Ehrerbietung herrscht, lebt man miteinander so, dass das Leben sich lohnt. Wo man jedoch rüpelhaft und rücksichtslos miteinander umgeht, werden Meinungsunterschiede zum Kleinkrieg. In solchen Kämpfen entstehen tiefe Wunden – Verletzungen in der Ehe und in der Liebe, die nicht leicht zu überwinden sind.
Das ist eine klare Sache: Die Gebote Gottes haben auch etwas mit Vernunft zu tun. Sie sind kein höherer Blödsinn. Trotzdem möchte ich betonen, dass die Verknüpfung dieses Gebotes mit der ausdrücklichen und umfangreichen Verheißung nicht allein auf diesem psychologischen Zusammenhang beruht. Es geht vielmehr darum, dass wir dem Herrn vertrauen dürfen, der diese Wegweisung gibt.
Er verwendet sein gutes Wort und sagt: „Ihr werdet sehen, ihr tut dies und ihr werdet leben.“ Er gibt sein Wort und verspricht, dass es uns wohlgehen wird, dass wir unter dem Segen seiner Verheißung stehen, wenn wir uns auf seine Wegweisung einlassen – auch wenn bei uns alles dagegen spricht und uns sagt: „Warum soll ich Respekt zeigen? Man wird doch unterdrückt, wenn man immer so lieb ist. Man muss auch mal sein Recht durchsetzen, selbständig werden und auch mal Porzellan zerschlagen.“
So ist die Verheißung des Wohlstands im Zusammenhang mit dem Gebot „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ nicht nur eine psychologische Beobachtung, sondern ein göttliches Versprechen, das Vertrauen und Gehorsam voraussetzt.
Die praktische Erfahrung mit den Geboten Gottes
An diesem Punkt möchte ich noch einmal betonen, was für alle Gebote Gottes gilt. Es ist nicht so sehr eine theoretische Frage, die man einfach erklären kann. Vielmehr ist es etwas, das jeder in seinem Leben ausprobieren und ausleben muss.
Wenn ich es wage, die Gebote Gottes als hilfreiche Wegweisung anzunehmen, die für mich verbindlich sind, erfahre ich, dass es mir wohlgeht. Ich stehe unter dem Segen, der Zuwendung und der Fürsorge Gottes.
Es ist eine große Not, dass wir Christen in unserer Umgebung, auch in unserem Land, es nicht deutlich machen konnten, dass die Gebote Gottes Wohltaten sind – echte Wohltaten! Wir haben nicht so gelebt, dass andere darauf aufmerksam wurden und selbst den Wunsch entwickelten, danach zu leben. Stattdessen mussten wir immer mit Strenge drohen oder den Staat um Hilfe bitten, damit er mit der Polizei den Menschen beibringt, was wir durch unsere Verkündigung und unser gehorsames Leben gegenüber den Geboten nicht klar machen konnten. Das ist bedrückend.
Darum geht es heute vor allem: dass wir diese Wahrheit neu empfinden. Die Gebote Gottes werden manchmal zur unangenehmen Kritik an unserem Leben. Sie zeigen uns, wie weit wir von Gottes Weg entfernt sind. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Gott diese Wegweisung als Wohltat gibt.
Durch Vergebung und Versöhnung will er uns auf einen neuen Weg stellen, in eine neue Richtung. Sein Gebot soll diesen Segen, dieses neue Leben sichern und erhalten. Auf Dauer soll es uns wohlgehen – das Bleiben im Land der Verheißung. Das ist die Pointe dieses Gebots.
Es geht Gott nicht nur um ein einmaliges Aufatmen in einem Gottesdienst, sondern um das Bleiben im Land der Verheißung, das Bleiben unter den Geschenken Gottes, die wir im Alltag erfahren. Das ist für uns entscheidend.
Dieses Bleiben ist verbunden mit dem Dranbleiben an seinem Gebot. Das ist das Erste. Worum es hier in unserem Text geht: Rat für Rat ist eine Geschenkgarantie enthalten.
Lobpreis der Wegweisung Gottes
Wir singen bei uns gelegentlich den Psalm 19, der die Wohltat aller Wegweisungen Gottes beschreibt. Außerdem singen wir das Lied 116 aus unserer Liedermappe. Dabei müssen wir manchmal kräftig mitsingen, damit ich nicht alleine singe.
Im Lied heißt es: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele.“ Weiter steht dort:
„Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele,
das Zeugnis des Herrn ist gewiss und macht die Unverständigen weise.
Ja, sie sind köstlicher als Gold, wie feines Gold,
süßer als Honig und Honigseim.
Die Befehle des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz,
die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen.
Ja, sie sind köstlicher als Gold, wie reines Gold,
süßer als Honig und Honigseim.
Die Furcht des Herrn ist rein und bleibt ewiglich.
Die Rechte des Herrn sind Wahrheit und allesamt gerecht.
Auch sie sind köstlicher als Gold, wie reines Gold,
süßer als Honig und Honigseim.
Und wer sie hält, hat großen Lohn,
wer sie hält, hat großen Lohn.“
Also gibt es erstens die Geschenkgarantie und zweitens die Gründe für diese Geschenkgarantie. Die Gründe und die Grenze – das sind die drei Gesichtspunkte heute.
Zweitens nun die Gründe: Warum soll man die Eltern ehren? Warum soll man die Eltern ehren?
Die Herausforderung in schwierigen Familienverhältnissen
Nun, in guten Familienverhältnissen ist das kein Problem. Dort gilt immer der Gesichtspunkt der Dankbarkeit. Allerdings müssen wir Eltern uns immer mehr fragen, ob unsere Kinder uns überhaupt dankbar sein sollten dafür, dass wir sie in diese schwierige Welt gesetzt haben. Eine Welt, die wir selbst kaum noch bewältigen können.
Wir bereiten unsere Kinder auf eine Welt vor, die sie noch schwerer bewältigen werden als wir. Deshalb wird die Frage, ob uns gegenüber Dankbarkeit nötig ist, mit der Zeit immer fraglicher.
In guten Familien spüren die Kinder jedoch, dass ihnen viel Gutes widerfahren ist und dass es sich lohnt, dankbar zu sein. Aber der wahre Testfall für dieses Gebot sind nicht die harmonischen Familien, sondern jene, in denen es zu Schwierigkeiten gekommen ist. Dort wird es mehr als fragwürdig, ob die Eltern noch die Ehrerbietung verdienen.
Die Bibel macht sich dabei nichts vor. Sie redet nicht von heilen Weltfamilien. Einer der ganz großen Figuren am Anfang der Geschichte – ausgerechnet der einzige, der noch gerecht war und überleben durfte, nämlich Noah – war auch der erste betrunkene Vater.
Mit einer Peinlichkeit, die man in der Jugendarbeit gelegentlich etwas zurückhält, berichtet die Bibel, wie Noah volltrunken in der Gosse liegt, entblößt und in großer Schande. Das führt dazu, dass einer seiner Söhne große Verachtung für ihn empfindet.
So ist die Bibel, und es gibt viele weitere Beispiele von Vätern und Müttern, die ihre Chancen, geehrt zu werden, menschlich gesehen verspielt haben.
Der Grund für die Ehre gegenüber den Eltern
Warum sollen Eltern geehrt werden? Die Bibel nennt eigentlich keine direkten Gründe dafür. Den Grund, dass es sich lohnt, will ich hier einmal ausklammern. Aber warum sind Eltern es überhaupt wert, geehrt zu werden?
Manche böse Zungen behaupten, dass das nur ein Trick zur Aufrechterhaltung autoritärer Strukturen sei. Immer nach oben buckeln, so heißt es, und wenn man das schon bei den Kindern einprägt, lässt sich ein Volk leichter beherrschen und ausbeuten. Das haben Tyrannen schon immer gern gehabt. Ist das also der Grund?
Nach biblischer Sicht verdienen Eltern diese Ehre nicht aufgrund ihres Lebenswandels. Die Bibel ist nicht so verlogen, dass sie Eltern moralische Fehlerlosigkeit oder Vorbildhaftigkeit zuschreibt und deshalb ihre Kinder verpflichtet, sie zu ehren. Das denkt die Bibel nicht.
Der Grund, Eltern zu ehren, liegt eigentlich in Gott selbst. Alles beginnt mit dem Satz: „Ich bin Yahweh, dein Gott“, der geoffenbarte Gott, der dich aus Ägypten gerettet hat. Jede einzelne Wegweisung ist letztlich in diesem Fundament verankert, in Gott.
Was heißt das? Eltern zu ehren, hat seinen Grund in Gott selbst, der uns in Jesus, dem Gekreuzigten, aus der Verlorenheit rettet. Das kann ich an der Auslegung dieses Gebots verdeutlichen, wie Paulus es den jungen Leuten damals in Ephesus schrieb: „Seid gehorsam euren Eltern“ – und dann heißt es weiter – „ehret sie in dem Herrn, in dem Herrn!“
Eltern sollen in Jesus gesehen werden. Man soll die Eltern nicht ansehen, ohne zugleich Jesus, den Gekreuzigten, mitzusehen. Dann wird plötzlich deutlich, dass diese Eltern, egal was sie Gutes oder Schlimmes tun, egal wie hilfreich sie sind oder wie sehr sie versagen, auf jeden Fall unter dem Kreuz dieses Jesus stehen – wie jeder von uns, wie auch die Kinder.
Die Bibel fordert von den Kindern, auch die Eltern, wenn sie schwierig werden und zur Zumutung, unter diesem Kreuz zu sehen und zu buchstabieren. So sehr hat Gott diese Eltern wertgeschätzt, geehrt und geliebt, dass er seinen Sohn für sie hingab. Nicht weil sie ohne Sünde sind, sondern weil sie unter das Kreuz gehören – wegen ihres Versagens, wegen ihres Fehlverhaltens.
Man kann Eltern nur ehren, wenn man den gekreuzigten Jesus, die Vergebung und die Liebe, die er schenkt, ganz ernst nimmt. Wer will zu Jesus gehören? Ich erzähle das mal den jungen Leuten und dann denen, die noch alte Eltern haben: Wer zu Jesus gehören will und von der Vergebung seiner Schuld lebt, wagt es nicht, seine Eltern wegen irgendwelcher, vielleicht berechtigter Dinge zu verachten.
Denn diese Eltern mit all ihren Schwierigkeiten und ihrem Versagen sind von Gott so wichtig genommen, so geehrt und geliebt, dass Jesus für sie gestorben ist. Das ist die Perspektive der Bibel. Gott selbst in Jesus ist der Grund für dieses Gebot.
Eltern unter dem Kreuz zu sehen bedeutet, dass die Ehre ihnen folgen soll – nicht aus eigener Kraft. Da sind wir alle überfordert. Und so wie wir Eltern gebaut sind, muten wir unseren Kindern viel zu viel zu, als dass wir von ihnen erwarten dürften, uns die gebührende Ehrfurcht zu erweisen.
Aber aus der Kraft und Geduld, die Jesus uns entgegenbringt und mit der wir angesteckt werden, darf dieses Gebot verwirklicht werden. Da gibt es keine Ausreden. Das ist der eigentliche Grund.
Die Lebensgemeinschaft zwischen den Generationen und gegenseitige Ehrerbietung
Wir leben zwischen den Generationen. Das gilt jetzt besonders in den Kleinfamilien, zwischen den noch nicht mündigen Kindern und den Eltern. Vielleicht gilt es noch mehr für die Familie im größeren Rahmen, vor allem in unserer Lebenssituation in der „Stickluft“ – der Stickluft der Menschenverachtung.
Dabei geht es nicht darum, dass jemand einfach mal sagt: „Ach, versuch doch mal Muttertag, Vatertag, Kindertag, Tag der Oma, Tag der Tante und so, sei jetzt einmal ein bisschen nett zueinander.“ Das ist alles Firlefanz. Letzte Woche wurde offenbart, wie Quatsch das ist.
Wir brauchen eine Erneuerung, eine zutiefst neue Erneuerung unseres Lebens – aus der Liebe und Vergebung Jesu. Alte und Junge brauchen das, damit wir zu einem neuen Verhältnis gegenseitiger Ehrerbietung kommen. Das ist das Kennzeichen christlicher Lebensgemeinschaft.
Paulus bringt es auf die Formel: Einer komme dem anderen in Ehrerbietung zuvor. Wir meinen oft, wo Vertraulichkeit herrscht, könne man sich kumpelhaft ins Gesicht hauen und rüpelhaft miteinander umgehen. Doch es heißt: Da komme einer dem anderen mit Ehrerbietung zuvor.
Wo man sich Ehre erweist, nimmt man den anderen wichtig. Dort ist die Liebe wirksam, und Verhältnisse kommen zurecht, auch dort, wo man es am nötigsten hat. Die Bibel sagt uns nirgends, dass Eltern und Kinder immer der gleichen Meinung sein müssen. Sie sagt auch nicht, dass Kinder Eltern bedingungslos folgen müssen.
Aber es macht einen großen Unterschied, ob wir unsere Meinungsverschiedenheiten in einer Atmosphäre von Geschimpfe, Wut und Menschenverachtung austragen oder in einem Klima tiefer Ehrerbietung. Auch einem Menschen, der ganz anderer Meinung ist, den ich nicht verstehe, kann ich – ja, muss ich – aus der Liebe Gottes Respekt und Ehre zollen und entsprechend mit ihm umgehen.
Das ist der Punkt, an dem es bei uns oft nicht klappt. Das ist der Punkt, an dem Gott seine Heilung ansetzt und sagt: Da geht’s lang.
Deshalb erwartet Gott respektvolles Verhalten von Eltern und Kindern und will, dass es uns so wohl geht.
Die Grenze der Ehrerbietung und Jesu radikale Forderungen
Nun muss ich als Letztes noch die Grenze ansprechen. Vielleicht meinen Sie, man müsse nicht über Grenzen reden oder brauche keine Grenzen, weil das Gebot bei uns ohnehin kaum gilt. Man könnte sagen, wir brauchen nicht über Grenzen zu sprechen. Doch das muss ich tun.
Jesus hat sehr befremdliche Worte gesagt, und diese muss man hier mit einbeziehen. So heißt es einmal: Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Und umgekehrt: Wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Im Lukasevangelium klingt es sogar unfassbar radikal und schroff provozierend: „So jemand zu mir kommt“, sagt Jesus, „und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“
Das sind doch die klaren Sätze des Gründers einer Jugensekte. Ich bin zutiefst überzeugt, wenn Jesus heute lebte und dies sagen würde, würden die Sektenbeauftragten der evangelischen und katholischen Kirche ihn sofort am Wickel haben – ganz ohne Frage. Das wundert mich gar nicht.
Das ist eine andere Sache. Wir gelten ja inzwischen auch als Jugendsekte, aber das ist im christlichen Abendland so, in dem es nur einen einzigen christlichen Maßstab gibt: fromm sein ja, aber man muss es doch nicht übertreiben. Man muss es doch nicht übertreiben! Solche Sätze Jesu sind immer mit Fug und Recht vergessen worden. Da wollte keiner etwas von wissen. Sie sind gefährlicher Sprengstoff für unsere Familien. Natürlich kann das leicht missbraucht werden – als fromme Rechtfertigung für den Krach, der sowieso schon zwischen den Generationen in der Luft liegt. Das ist herrlich, und jetzt noch anständig fromm einen draufgetan – und dann hat man im Selbstbewusstsein die Sorge, religiöse Radikalität haut man zuhause die Klamotten klein.
Nun, darum geht es ja nicht. Jesus will seinen schwärmerischen Nachfolgern, die immer ihre religiöse Befriedigung und ihre Lebenserfüllung bei ihm suchen, mit aller Klarheit und Nüchternheit sagen: In der Nachfolge hinter mir her kommt ihr unweigerlich immer mal wieder in Lebenssituationen, nicht jeden Tag, aber immer wieder, wo ihr in Konflikt geratet mit den liebsten und engsten Menschen, ja mit euren eigenen Neigungen. Dann steht ihr vor der Frage: Wem wollt ihr gehorchen? Wollt ihr Gott mehr gehorchen als den Menschen?
Jesus erwartet von uns nicht die charakterliche Herkulesarbeit, dass wir dann unbedingt und trotzdem Gott wollen. Das ist Quatsch! Er will nur, dass wir in aller Nüchternheit sehen, dass der Weg hinter Jesus her auch diese unbequemen Entscheidungen mit sich bringt.
Und eins macht er hier deutlich: Familie, auch Elternhaus, und umgekehrt für die Eltern die Kinder, sind nicht die letzte Instanz. Das bewahrt davor, dass Eltern zu Götzen werden oder sich zu Götzen machen. Dort, wo Eltern sich anmaßen, dass sie ihre Kinder als Eigentum hätten und sie nach ihrem Bilde formen könnten, machen sie sich selbst zu Göttern und wären Konkurrenten Gottes.
Unsere Kinder sind eigenständige Menschen vor Gott. Wir Eltern sind ihnen gegenüber Mitarbeiter der Liebe Gottes, aber nicht die Eigentümer und Herren unserer Kinder. Dort, wo wir uns vergötzen und verabsolutieren, kommt Unheil – wir zerstören!
Umgekehrt gibt es auch Fälle, in denen Kinder vergötzt werden. Manchmal ist das eine Notreaktion, weil vieles andere kaputtgegangen ist, und man sich an die Kinder hängt und sie vergötzt. Dann heißt es: „Die sind mein Alles, und alles tue ich für sie.“ Vorsicht, das ist gefährlich! Da kommt viel Unheil heraus, wenn man Kinder vergötzt.
Wir sind unter Gott, er ist die letzte Instanz. Unsere Beziehungen in den Familien – auch voller Ehrfurcht, Gehorsam und Wegweisung, die wir als Eltern geben müssen, und Ehrfurcht, die wir als Kinder erweisen müssen – werden nur heilsam sein und Wohlergehen bewirken, wenn wir in der Gemeinschaft unter Kontrolle des Schöpfers stehen und uns nicht selbst als letzte Instanz aufspielen.
Sie verstehen, dass es hier in diesem Gebot nicht darum geht, Tipps zu verteilen wie: „Nun lasst uns doch mal in Familien ein bisschen netter miteinander umgehen.“ Es geht darum, dass jeder von sich, Eltern und Kinder, auf feste Weise in die Lebensgemeinschaft des gekreuzigten Jesus kommt, von der Vergebung erneuert und beeinflusst wird. So können wir neu anfangen zu leben und unsere Einstellung zueinander in richtiger Weise sehen.
So allein werden wir zu einer neuen Ehrfurcht voreinander kommen. Und Gott will es, weil er leidenschaftlich interessiert ist an unserem Wohlergehen und nicht aufgibt, uns seinen Weg in der Ratlosigkeit zu zeigen. Er gibt nicht auf.
Schlussgebet um Vergebung und Heilung
Wir wollen beten. Herr, du weißt, wie oft wir an dem Maßstab dieses Gebotes versagt haben.
Wie viel Unheil wir angerichtet haben, ist dir bekannt. Wir bitten dich um Vergebung unserer Schuld und um Heilung der zerbrochenen Verhältnisse. Amen.