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Manche fühlen sich wie urlaubsreif - auch in der Gemeinde. Aber wenn die Diagnose nicht “urlaubsreif”, sondern “herzkrank” lautet, dann braucht es die Therapie aus der Apostelgeschichte. Wenn der Herzton des Gotteswortes stimmt und der Herzkranz der Gemeinschaft und der Herzschlag des Gebets, dann ist der Herzinfarkt des Glaubens nicht unser Schicksal. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Urlaubsreif, wer kennt das nicht? Urlaubsreif, wer weiß das nicht. Urlaubsreif, wer ist das nicht? So wie jetzt rote Erdbeeren reif zum Ernten oder so wie jetzt schwarze Kirschen reif zum Essen sind, so sind jetzt blasse Menschen reif zum Urlaub. Sicher steht man noch aufrecht. Gewiss denkt man noch in klaren Linien. Selbst­verständlich funktioniert man noch. Aber der Schein trügt. Gliederschwere fährt einem in die Knochen. Die Hände liegen am liebsten im Schoß. Ermüdungserscheinungen machen einem zu schaffen. Die Füße wollen gar nicht mehr richtig. Angstzustände drücken zu Boden. Das Gemüt ist ganz unten. Ich kann nicht mehr. Ich pack’s nicht mehr. Ich bin am Ende. Nun stellen sich unvermeidliche Ratgeber ein, die mit wohlmeinenden Rezepten schnell bei der Hand sind: Mehr Bewegung, Freund, nicht so viel hinterm Schreibtisch; sich bewegen lassen von Joggern und Trimmern. Mehr schwimmen, Kollege, nicht so viel im Auto; sich schwimmen lassen im Thermalbad und Schwefelbad. Mehr Naturkost, Genosse; nicht so viel Kalorien; sich schmecken lassen von Kornkraft und Müsli. Aber alles bringt nichts. Man schlafft weiter ab. Der Zustand ist bedenklich. Schließlich geht man zum Arzt. Der fragt aus und horcht ab. Dann stellt er die Diagnose: “Nicht urlaubsreif, sondern herzkrank. Innen stimmt’s nicht. Das Zentralorgan ist defekt. Erst wenn die Herzfunktionen in Ordnung sind, funktionieren auch die Glieder.”

Um das Herz geht’s also - auch beim Christsein. Manche fühlen sich wie urlaubsreif. Sicher steht man noch in der Gemeinde. Gewiss denkt man noch an die zehn Gebote. Selbstverständlich glaubt man noch. Aber der Schein trügt. Gliederschwere fährt einem in die Knochen. Die Hände falten sich gar nicht mehr zum Gebet. Ermüdungserscheinungen machen einem zu schaffen. Die Füße wollen gar nicht mehr in den Gottesdienst. Angstzustände drücken zu Boden. Das Gemüt ist tief verwundet. Ich kann nicht mehr. Ich pack’s nicht mehr. Ich bin am Ende. Nun stellen sich auch hier kluge Ratgeber ein, die einem mit superklugen Ratschlägen auf die Sprünge helfen wollen: Mehr Bewegung, Freund, nicht so viel auf der Kniebank; sich bewegen lassen von den großen Themen der Zeit: Frieden, Apartheid, Kernkraft. Mehr schwimmen, Kollege, nicht so viel im Gemeindebetrieb; sich gehen lassen in den eigenen Gefühlen: high-feeling, Selbstannahme, Ego-Therapie. Mehr Naturkost, Genosse, nicht so viel Predigten; sich befriedigen lassen von den Angeboten der Stadt: Kunst, Musik, Literatur. Aber alles bringt nichts. Man schlafft seelisch ab. Der Zustand vieler ist bedenklich. Wenn man doch endlich auf die Diagnose des Arztes Lukas hörte, der klipp und klar feststellt: “Nicht urlaubsreif, sondern herzkrank. Innen stimmt’s nicht. Das Zentralorgan ist defekt. Der Herzton des Gotteswortes ist zu leise. Der Herzkranz der Gemeinschaft ist zu eng. Der Herzschlag der Gebete ist zu unregelmäßig. Deshalb weg mit aller Symptomtherapie, die die Wurzel allen Übels gar nicht in den Blick bekommt. Deshalb weg mit allem Firlefanz, der sich schlussendlich nur als tödliches Gift erweist. Deshalb weg mit allem modischen Klimbim. Erst wenn diese Herzfunktionen wieder in Ordnung kommen, funktionieren auch die Glieder.”

Um das Herz geht’s. Wir müssen uns dieser Diagnose stellen und jener Therapie vertrauen, die Menschen damals gesund machte und heute gesund machen kann.

1. Der Herzton des Gotteswortes

In Jerusalem hatten sie das Gottes­wort. Nicht nur im Tempel lagerten die heiligen Bücher. Bei vielen Gelegenheiten wurden sie entrollt und vorgelesen. Wenn man die Geschichtsbücher wie Mose oder Samuel oder Chronika zitierte, dann hörten sie die lauten Töne von Niederlagen und Siegen des Volkes Israel. Wenn man die Lehrbücher wie Sprüche oder Prediger oder Hoheslied zitierte, dann hörten sie die nachdenklichen Töne von Weisen und Gelehrten. Wenn man die Prophetenbücher wie Jesaja oder Habakuk oder Sacharja zitierte, dann hörten sie die beschwörenden Töne von Sehern und Apokalyptikern. Die Apostel jedoch machten auf einen ganz neuen Ton aufmerksam, den sie in ihrem Leben vernahmen. An der Zollschranke oder am See Genezareth hörten sie ihn zum ersten Mal: Folge mir! Bei der Bergpredigt wurde er deutlich: Selig sind die geistlich Armen, denn das Himmelreich ist ihr. Auf Golgatha zerriss er die Todesstille: Es ist vollbracht! Und am Ostermorgen kam er tröstend an ihr Ohr: Fürchtet euch nicht, Friede sei mit euch! Jesus ist der Herzton des Gotteswortes. Erst in ihm erreichen alle andern Töne ihren Vollklang. Gottes Sohn will unser Leben durchklingen.

Jesus ist der Herzton des Gotteswortes. Erst in ihm erreichen alle andern Töne ihren Vollklang. Gottes Sohn will unser Leben durchklingen.

Wenn wir am Morgen des Lebens stehen und uns anschicken, den Anker zu lichte: Folge mir! Wenn wir im Mittag des Lebens stehen und schon von der Hitze des Tages ausgebrannt sind: Selig sind die Armen, denn das Himmelreich ist ihr. Wenn wir am Abend des Lebens stehen und vor der eigenen Schuld erröten: Es ist vollbracht, das heißt: Es ist bezahlt. Wenn wir in der Nacht des Lebens stehen und vor dem morgigen Tag zittern: Fürchtet euch nicht, Friede sei mit euch!

Damit dieser Herzton nicht zu leise wird, deshalb blieben sie beständig in der Apostel Lehre, deshalb blieben sie dauernd in der Apostel Unterweisung, deshalb ließen sie nicht ab, die Apostel zu hören. Wir haben es einfacher, weil uns dies Wort in der Bibel entgegenkommt. Warum fällt uns immer wieder Wichtigeres ein? Blumhardt, der Seelsorger, sagte einmal: “Das Wichtigste in deinem Leben ist, auf das zu hören, was man droben sagt.” Warum machen uns immer wieder Zweifel zu schaf­fen? Luther, der Reformator, schreibt einmal: “Wenn wir doch glauben könnten, dass Gott selbst in der Bibel mit uns spricht, dann würden wir eifriger darin lesen. Wir wären sicher, dass hier unser Lebensglück geschmiedet wird.” Warum kommen wir immer wieder mit anderen Ausreden? Chrysostomos, der Kirchenvater, mahnte einmal: “Ich ermahne euch unablässig, ihr möchtet nicht nur hier in der Kirche aufmerksam sein, sondern auch zu Hause in der Bibel lesen.” Da komme mir keiner mit jener frostigen und durchaus verwerflichen Ausrede: “Ich bin Advokat, ich bin Stadtrat, ich bin Handwerker, ich habe Frau und Kinder, ich habe anderes zu tun.” Der Herzton des Gotteswortes darf nicht zu leise werden. Von dem Wort Jesu leben wir.

2. Der Herzkranz der Gemeinschaft

In Jerusalem hatten sie Gemeinschaft. Christen wussten davon, dass der Glaube nie ungemeinschaftlich sein kann. So wie die Schwalben sich sammeln, um gemeinsam in den Süden zu ziehen, so sammeln sich die Jesusnachfolger, um gemeinschaftlich die Reise zur Ewigkeit anzutreten: “O Ewigkeit du schöne, mein Herz an dich gewöhne, mein Heim ist nicht in dieser Zeit.” Ein Christ rettet sich nie allein (Bernanos). Deshalb lesen wir von Tischgemeinschaften, die sich hin und her in der Stadt gebildet hatten. Keiner musste sein Abendbrot alleine hinunterschlingen, sondern konnte in der größeren Runde seinen Tag beschließen. Wir lesen von Dienstgemeinschaften, die sich hier und dort in den Häusern zusammengefunden hatten. Keiner musste mit seiner Not alleine fertig werden, sondern konnte die Hilfe der andern in Anspruch nehmen. Wir lesen von Wortgemeinschaften, die sich Tag für Tag in den Familien zusammensetzten. Keiner war mit seinem Problem allein gelassen, sondern konnte es mit andern Christen ausführlich besprechen. Wie weit haben sich unsere gemeindliche Leben vom urgemeindlichen Leben wegentwickelt? Nur mit Heimweh lese ich einen solchen Satz: “Sie waren beieinander.” Sie saßen nicht nebeneinander, sie wohnten nicht auseinander, sie gingen nicht voneinander, sie kamen nicht hintereinander, nein, sie waren beieinander. “Sieh, wie haben sie einander so lieb”, hieß es auf dem römischen Steckbrief, mit dem Christen gejagt wurden.

Aber die Gefahr bestand doch: Die Gemeinschaften der Heiligen tendierten zu Grüppchen von Aller­heiligsten. Man kapselte sich ab und lebte nur noch im eigenen Kreis. Der Herzkranz der Gemeinschaft wurde eng, sehr eng sogar, so wie in der Jungenschaft, wo man mit zehn Kumpels kungelt und keine Nieten dabei haben will; so wie im Hauskreis, wo man mit aufgeweckten Leuten zusammensitzt und keine Phlegmas brauchen kann; so wie im Seniorenclub, wo man mit sympathischen Bürgern Kaffee trinkt und keine Nervensäge vertragen kann; so wie in der Gemeinschaftsstunde, wo man mit frommen Leuten Reichslieder singt und keinen Weltmenschen dulden kann. Jesus aber hat Pharisäer und Zöllner, Volksvertreter und Volksverderber, Schmierfinken und Dreckspatzen, Ausreißer und Außenseiter, Gottlose und Gottes­lästerer, Jesus hat alle eingeladen: “Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.” Und wenn Jesus so weitherzig war, dürfen wir doch nicht engherzig verkümmern. Deshalb waren damals die auch “einmütig beieinander im Tempel”. Immer wieder öffneten sie den eigenen Zirkel, um in der großen Gemeinschaft Gott zu loben und zu preisen. Die regelmäßige Vollversammlung der Christen bewahrte sie vor der gefährlichen Herzverengung. Auch in unserem Gottesdienst soll einem das Herz aufgehen für den Reichtum von Gottes Geschöpfen, die nicht von der Stange, sondern von seiner Handschnitzwerkstatt kommen. Jeder ist ein Original mit einem unverwechselbaren Charakterkopf oder Milchgesicht. Nicht alle liegen mir und nicht allen gefällt meine Nase, aber gemeinsam können wir das Lob unseres Herrn anstimmen, der uns bis heute gnädig durchgebracht hat. Der Herzkranz der Gemeinschaft darf nicht zu eng werden. Von der Gemeinschaft Jesu leben wir.

3. Der Herzschlag des Gebets

In Jerusalem pflegten sie das Gebet. Neben Gotteswort und Gemeinschaft war das Gebet das dritte unverzichtbare “G” eines Christen. Auf die Direktverbindung zu Gott wollte niemand verzichten. Noch gilt, was Søren Kierkegaard gesagt hat: “Der archimedische Punkt außerhalb der Welt ist die Gebetskammer, wo die Welt bewegt wird.” Jede Welt, auch meine verfahrene Familienwelt, auch meine schwierige Arbeitswelt, auch unsere beängstigende Völkerwelt, jede Welt kann durch den Hebel des Gebets bewegt werden. Deshalb hatten sie Dankgebet, das oft in Psalmversen vorgetragen wurde: “Danket dem Herrn, denn er ist freundlich.” Sie hatten das Bittgebet, das sie vom Volk Israel gelernt hatten: “Herr, erhöre uns um deiner großen Barmherzigkeit willen.” Sie hatten das Lobgebet, das sie wie im salomonischen Tempel anstimmten: “Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.”

Aber alle Gebete bergen die Gefahr in sich, dass sie nur dann ge­sprochen werden, wenn es einem ums Beten ist. Wenn das Auto gerade noch bremsen kann, bevor es zum schlimmen Zusammenstoß kommt, wenn der Krebstest negativ ausfällt, obwohl alle Anzeichen für eine schlimme Wucherung sprechen, dann, ja dann danken wir schon mal, aber sonst haben wir nicht viel zu danken. Oder wenn die Prüfung bevorsteht, von der so viel abhängt, wenn die Kinder Sorge machen, weil sie ihren eigenen Weg gehen, ja, dann bitten wir schon mal, aber sonst packen wir das schon allein. Oder das Loben kommt gar nicht mehr vor. Aber Jesus sagt: “Betet!” Der Herzschlag des Gebets muss regelmäßig sein. Wer nicht regelmäßig betet, betet bald auch nicht mehr unregelmäßig. Das Gebet kann nicht unserer persönlichen Lust und Laune überlassen bleiben.

Der Herzschlag des Gebets muss regelmäßig sein. Wer nicht regelmäßig betet, betet bald auch nicht mehr unregelmäßig. Das Gebet kann nicht unserer persönlichen Lust und Laune überlassen bleiben.

“Sie blieben beständig im Gebet”, das heißt bei festen Gebetszeiten: früh um 6, nachmittags um 3, abends um 6 Uhr. Das können heute andere Zeit­en sein, aber fest müssen sie bleiben, weil wir ganz schnell weich werden. Das Gebet will doch keine Notrufsäule an der Straße unseres Lebens sein, die wir nur dann benützen, wenn wir mit Pannen zu tun haben. Das Gebet ist und bleibt, und so hat es Vater Bodelschwingh uns gesagt, ein ständiges sich aufmachen und aus der Welt der Angst zum Vater gehen. Der Herzschlag des Gebets darf nicht unregelmäßig werden. Von der Verbindung zu Jesus leben wir.

Liebe Freunde, wir können genesen, wir können gesunden, wir können wieder stark werden. Der Herzton des Gotteswortes muss nicht leise bleiben. Der Herzkranz der Gemeinschaft muss nicht eng werden. Der Herzschlag des Gebets muss nicht unregelmäßig sein, der Herzinfarkt des Glaubens ist nicht unser Schicksal.

Amen.

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]