Herr Präsident! Der Text, den wir gerade gehört haben, reicht natürlich bis Sonntag. Da muss man sich jetzt entscheiden. Wir haben uns entschieden, den Kolosserbrief ganz zu lesen, möglichst ganz, jedenfalls bis auf die letzten Verse. Die schaffe ich, glaube ich, nicht bis Sonntag, aber wir werden große Abschnitte behandeln.
Deshalb muss ich im Schweinsgalopp durch den Text gehen. Wir konzentrieren uns also darauf. Sie sehen hier oben einiges, was wir behandeln, und können vielleicht mitlesen. So fällt es Ihnen leichter, dem Vortrag zu folgen.
Fangen wir damit an, uns klarzumachen, wo genau wir uns in Kolossä befinden. Kolossä ist eine Stadt in Phrygien, einer Region in der heutigen Türkei. Sie liegt am Lykos-Fluss, einem Nebenfluss des Mäander. Der Mäander ist bekannt für seine vielen Kurven – daher kommt auch sein Name, denn er „mäandert“ durch das Land.
Wenn man heute in die Türkei reist und diese Städte besucht, findet man dort nicht besonders viel zu sehen. Das liegt daran, dass bisher kaum Ausgrabungen gemacht wurden. Es fehlt offenbar noch an Geld und Ressourcen, um dort größere archäologische Arbeiten durchzuführen. Man weiß daher noch nicht genau, welche Schätze oder Funde dort zum Vorschein kommen könnten.
Aus der Geschichte ist bekannt, dass die Menschen in Kolossä mit der Schafzucht ihr Geld verdienten. Besonders erwähnenswert ist, dass die Schafe offenbar schwarze Wolle hatten, denn in den Quellen wird von schwarzer Wolle gesprochen.
Ein trauriges Ereignis ereignete sich im Jahr 60 n. Chr. Damals gab es ein schweres Erdbeben, das Kolossä stark zerstörte. Dies geschah nach der Zeit, in der Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Kolossä schrieb. Die Stadt hat sich von diesem Erdbeben nie mehr richtig erholt.
Im Lykostal gibt es zwei Nachbarstädte, Laodizea und Hierapolis, die ebenfalls in unserem Brief erwähnt werden. Besonders interessant ist, dass Paulus im vierten Kapitel des Kolosserbriefes erwähnt, dass er auch einen Brief an die Gemeinde in Laodizea geschrieben hat. Diesen Brief kennen wir allerdings nicht.
Wir wissen, dass Paulus mehrere Briefe geschrieben hat, von denen einige verloren gegangen sind. Zum Beispiel hat er vier Briefe an die Korinther geschrieben. In den zwei erhaltenen Briefen bezieht er sich auf die anderen zwei, die wir nicht mehr besitzen. Von den Briefen an Laodizea haben wir ebenfalls keinen erhaltenen Text.
Im vierten Kapitel des Kolosserbriefes fordert Paulus ausdrücklich dazu auf, den Brief an Kolossä auch in Laodizea vorzulesen und umgekehrt. Diese Briefe wurden also als Rundbriefe verteilt und in verschiedenen Gemeinden verlesen.
Es wäre natürlich spannend zu wissen, was im Brief an Laodizea stand. Doch leider wissen wir das nicht. Dennoch ist das, was wir vorfinden, reich genug, um daraus viel zu lernen – das werden wir noch sehen.
Einige Angaben zum historischen Rahmen des Kolosserbriefs werfen die Frage auf, aus welcher Gefangenschaft Paulus schreibt. Im vierten Kapitel erwähnt er nämlich, dass er gefangen ist, in Fesseln liegt, und dass jemand mit ihm in der Gefangenschaft ist.
Drei Gefangenschaften kommen dabei in Frage. Es wird nicht ausdrücklich gesagt, aber es könnte die Gefangenschaft in Rom sein. Dort wissen wir, dass Paulus zwei Jahre unter Hausarrest stand. Im letzten Satz der Apostelgeschichte, Kapitel 28, wird erwähnt, dass er zwei Jahre in einem Hausarrest war. Dieser war offenbar recht komfortabel, da Paulus Besuch empfangen konnte. Dass dies so genau festgehalten ist, lässt vermuten, dass Paulus nicht am Ende dieser Gefangenschaft hingerichtet wurde. Wahrscheinlich wurde er nach dieser Zeit noch einmal freigelassen.
Gab es danach noch eine weitere Gefangenschaft? Vermutlich wurde Paulus in Rom hingerichtet, aber erst später. Eine weitere zweijährige Gefangenschaft fand in den Jahren 57 bis 59 in Caesarea am Meer statt. Paulus wurde in Jerusalem verhaftet, und die Gouverneure Felix und anschließend Festus ließen sich viel Zeit, bevor sie ihn nach Rom schickten. Diese Gefangenschaft dauerte zwei Jahre.
Man vermutet außerdem, dass es während des dreijährigen Aufenthalts Paulus in Ephesus, in den Jahren 53 bis 55, ebenfalls eine Haft gegeben haben könnte. Im zweiten Korintherbrief, Kapitel 1, schreibt Paulus, dass es ihm damals sehr schwer und schrecklich erging, dass er nahezu lebensmüde war. Paulus war jedoch nicht von Selbstmitleid oder Eitelkeit getrieben. Wir wären neugierig, mehr über seine Leiden zu erfahren, doch er berichtet nicht darüber. Letztlich ist es egal, aus welcher Gefangenschaft er schreibt – es ist eine Gefangenschaft.
Zur gleichen Zeit schrieb Paulus auch den Philemonbrief, einen kurzen Brief, der ebenfalls im Neuen Testament enthalten ist. Dieser wurde offenbar zusammen mit dem Kolosserbrief überbracht, möglicherweise von Tychikus und Onesimus. Onesimus war der Sklave, der Philemon weggelaufen war. Er war beim Apostel Paulus zum Glauben gekommen und wurde nun zurückgeschickt. Paulus spricht im Philemonbrief von ihm als Bruder und Sohn. Es wird deutlich, dass, wenn Philemon ihn wieder als Sklaven aufgenommen hätte, er die Botschaft nicht verstanden hätte.
Im vierten Kapitel des Kolosserbriefs wird dies erwähnt. Es ist wichtig zu wissen, dass Paulus selbst nicht in Kolosse war und die Gemeinde dort nicht gegründet hat. Die Gemeinde wurde von Epaphras gegründet, einem Mitarbeiter, den Paulus sehr schätzte. Von ihm hatte Paulus auch von den Zuständen in Kolosse erfahren, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt wird.
Es ist interessant zu sehen, wie Paulus sich um eine Gemeinde kümmert, die er nicht gegründet hat und die er gar nicht persönlich kannte. Das ist bemerkenswert. Auch wenn Paulus Laodizea persönlich gegründet hat, lesen wir seine Briefe an verschiedene Gemeinden, was sehr wichtig ist.
Jetzt geht es los. Wir lesen einfach von Anfang bis Ende durch. Sie können das, ich habe die Texte auch hier. Wir buchstabieren das, aber wie gesagt, seien Sie nachsichtig mit mir, wenn ich es ein bisschen im Schweinsgalopp mache. Ich könnte schon an dem ersten Satz oder den ersten zwei hängenbleiben und den Abend damit beschließen.
Paulus, ein Apostel Christi Jesu – nicht selten ist es so, und das ist ganz wichtig –, dass nicht „Jesus Christus“ heißt, sondern „Christus Jesus“. Das erinnert uns daran, dass Christus kein Name ist wie Klaus Dieter, Hans Jürgen oder Franz Schmidt, sondern ein Titel. Christus ist die griechische Form von Messias, der Gesalbte. Es ist also ein Titel.
Warum ist das hier so wichtig? Die ersten Sätze sagen, welche Autorität dieser Brief beansprucht: Es ist Gottes Wort. Warum leitet sich das aus diesen Worten ab? Apostel – im Neuen Testament gibt es mehrere Definitionen von Apostel. Der engste Begriff von Apostel ist der der Apostel im engeren Sinne, also die Nachwahl für Judas. Man sucht jemanden, der Augenzeuge des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Jesu ist. Das ist der engste Kreis der Apostel.
Zu diesem Kreis der ersten Apostel, die auf die Seite der Offenbarung gehören, gehört Paulus als Ausnahme dazu, weil der Auferstandene ihm vor Damaskus begegnet ist (Galater 1,2). Das wird dort noch einmal ausdrücklich begründet. Er sagt also nicht: „Ich schreibe euch mal, weil ich so viel von euch gehört habe und jetzt will ich mal einen Seelsorgebrief schreiben.“ Er schreibt mit der Autorität, dass er zu den Aposteln des Messias Jesus durch den Willen Gottes gehört.
Er ist nicht durch die Gemeinde dazu berufen worden, die Angst vor ihm gehabt hat. Er hat sich auch nicht selbst entschlossen, dem nachzufolgen, sondern er ist durch den Willen Gottes berufen worden, vor Damaskus gestellt und in diese spezielle Berufung als Apostel für Israel und die Völkerwelt berufen worden.
Wir müssen immer fragen: Warum sind denn die Paulusbriefe, warum ist das eigentlich Gottes Wort? Diese Apostel, die Augenzeugen des Lebens Jesu, seines Sterbens und der Auferstehung sind, sind Menschen wie wir. Sie brauchen Vergebung der Sünden und sind nur so gerettet. Sie sind Sünder wie wir, nichts Besseres.
Aber im Unterschied zu allen nachfolgenden Christen gibt es einen uneinholbaren Fortschritt und unüberholbaren Unterschied: Sie gehören auch auf die Seite der Offenbarung. Wir wissen von Jesus nichts ohne ihre dokumentarischen Zeugnisse, die in der Heiligen Schrift, im Neuen Testament, dokumentiert sind – in den Evangelien, aber auch in den Briefen.
Man kann sagen: Warum wissen wir nichts anderes? Wir kennen nur zwei Sätze von Sueton und Tacitus, zwei heidnischen Schriftstellern, und noch einen Satz von dem jüdischen Schriftsteller Josephus. Den halten Historiker aber für nachträglich gefälscht, er ist historisch nicht so zuverlässig. Sonst wissen wir nur das, was im Neuen Testament von Jesus gesagt wird.
Viele Kritiker sagen: „Das ist doch nicht glaubwürdig, das sind ja alles nur Gläubige. Warum haben wir denn nicht von anderen jüdischen Schriftstellern, die nicht an Jesus geglaubt haben, Texte?“ Dafür gibt es einen klaren theologischen Grund: Wer verflucht ist, der ist verflucht, der am Holz hängt, ein falscher Prophet, ein Gotteslästerer ist von Gott verflucht. Wer aus dem Gedächtnis Gottes gestrichen ist, muss auch aus dem Gedächtnis des Volkes Gottes gestrichen werden.
Deshalb ist es ein theologischer Grund, warum die Zeitgenossen Jesu über Jesus kein Wort sagen. Das heißt, wir haben Gott gebraucht, die Apostel, als Dokumentatoren, als Zeugen seiner Offenbarung. Nur durch sie haben wir Zugang zu Jesus. Das ist die Autorität des Neuen Testaments als Wort Gottes.
So stellt er sich vor. Kaum hat er die ersten Worte geschrieben, begegnet uns die ganze Wucht der Autorität und des Anspruchs dieses Wortes. Und „Bruder Timotheus“ – das fügt er dazu. Mit wem hat er das gemeinsam geschrieben? Timotheus gehört zu den Apostelschülern.
An die Heiligen in Kolosse, die gläubigen Brüder in Christus – bei „Heiligen“ denken wir ja immer an Superchristen, Ausnahmegestalten, Sinnloses oder irgendetwas Besonderes. Das ist natürlich völliger Quatsch, man muss das alles neu lernen. Durch die ganze Kirchengeschichte ist der Begriff des Heiligen total moralisiert und ganz gegen den biblischen Strich gebürstet worden.
Denn heilig ist in der Bibel ein Beziehungsbegriff. Gott ist heilig, und alles, was ausschließlich für ihn zur Verfügung steht – also heilige Töpfe und Pfannen gibt es im Tempel –, die kann man eben nicht zum Bratkartoffelbraten oder Spiegeleiermachen zu Hause gebrauchen, sondern die werden nur beim Rauchopfer im Tempel, beim Gottesdienst, gebraucht.
Das heißt, heiliges Material war das Gleiche wie die Pfannen sonst. Es ist also ein Beziehungsbegriff. Natürlich gehört es exklusiv zu Gott und soll deshalb entsprechend behandelt werden.
Die Heiligen in Kolosse sind also im Unterschied zu allen Einwohnern Kolosses diejenigen, die zu Jesus gehören, die ganz und gar ihm gehören. Es ist kein Unterschied zwischen den Heiligen in Kolosse und den anderen gläubigen Brüdern in Christus. Nein, die Heiligen in Kolosse sind die glaubenden Brüder in Christus.
Wer an Christus glaubt, ist ein Heiliger. Gleich noch einmal der Ausdruck „Heilige“: Wenn er an die Heiligen schreibt, muss man ganz klar sein. Man ist entweder gottlos oder man ist ein Heiliger. Man gehört entweder versöhnt durch Jesus und die Vergebung der Sünden zu Gott als Kind Gottes, oder man ist ein Feind Gottes. Man ist gottlos oder man ist ein Heiliger.
Wir kommen noch einmal dazu im Kapitel 3, was das für das Verhalten auf sich hat. Das ist jetzt nicht der Punkt. Gnade sei mit euch.
Also halten wir erst einmal fest: Der Kolosserbrief ist Gottes Wort. Paulus schreibt mit der Autorität des Apostels des Messias Jesus durch Gottes Willen. Timotheus hat die Rolle des Mitarbeiters, des Teilhabers dabei.
Die Adressaten sind die Heiligen, und nun folgt der ganz normale Gruß – so wie man ihn eben kennt. Im Schwabenland sagt man zum Beispiel immer „Grüß Gott“. Sagt man das in Baden eigentlich auch? Was sagt ihr hier? Ganz oben im Norden sagt man „Moin“, auch wenn es Abend ist. Im Rest des Landes sagt man „Tach“, was auch immer das bedeuten mag.
Bei den Schwaben denkt man oft, sie predigen schon beim Grüßen: „Grüß Gott“, so etwas Tolles. Aber natürlich wird das oft auch nur gedankenlos gesagt. Trotzdem ist es ein schöner Gruß.
Hier haben wir Paulus, der sowohl auf Hebräisch als auch auf Griechisch grüßt. Der griechische Gruß lautet „Gnade sei mit euch“. Ich habe sechs Jahre lang Griechisch in der Schule gelernt. Wenn der Griechischlehrer den Unterricht betrat, mussten wir alle strammstehen. Damals – ich weiß nicht, ob das heute noch so ist – sagten wir „Scheire Odidasgale“. Das bedeutet: „Gegrüßt seist du, o Lehrer!“
„Scheire“ heißt „freudig gegrüßt“, es stammt von „Schares“, was „Gnade“ bedeutet. In Griechenland sagte man einfach „Scheire“, ähnlich wie wir „Heil“ sagen. Paulus nimmt diesen alltäglichen Gruß auf – so etwas wie „Tag“ oder „Moin“ – und erfüllt ihn mit dem ganzen Evangelium: Gnade euch!
Im Deutschen heißt es „Sei mit euch“, was wie ein frommer Wunsch klingt. Im Griechischen steht aber gar kein „Sei dabei“, sondern es heißt einfach „Gnade euch“. Das ist ein Zuspruch, eine Tatsache. Im Hebräischen sagt man „Schalom“, also „Friede euch“. Dieser Gruß ist bis heute feierlich und inhaltlich sehr schön – ähnlich wie „Grüß Gott“.
Doch auch diese gehaltvollen Formulierungen werden, wenn man sie jeden Tag zwanzigmal sagt und darüber nicht nachdenkt, genauso inhaltsleer gebraucht wie „Tach“ oder „Moin“ oder was auch immer. Paulus nimmt diesen Gruß auf und füllt ihn mit dem Evangelium: Friede von Gott, unserem Vater.
Das sind die Äußerlichkeiten, die in jedem normalen Brief vorkommen. Am Anfang steht ein Gruß, ein „Guten Tag“ oder „Grüß Gott“ – und schon ist das Evangelium mit dabei.
Wir schauen hinein und lesen weiter. Das erste Dankesmotiv für die Gemeinde nennt er: Wir danken Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, allezeit, wenn wir für euch beten. Denn wir haben gehört von eurem Glauben an Christus Jesus – hier liegt die Betonung auf Christus Jesus, dem Messias – und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt, um der Hoffnung willen, die für euch im Himmel bereit ist.
Er dankt für das Wunder einer gesunden Gemeinde. Eine gesunde Gemeinde erkennt man an drei Lebens- und Wesenselementen, die hier beschrieben sind.
Das erste Lebenskennzeichen ist: Wir haben gehört von eurem Glauben an den Messias Jesus. Dabei muss man sich stets klarmachen, dass wir im Deutschen das Wort „Glauben“ oft als „Vermuten“ verstehen. Zum Beispiel sagen wir: „Ich glaube, es ist halb neun.“ Dabei ist es natürlich eher fünf nach halb neun. Im Alltag verwenden wir „glauben“ für etwas, das wir nicht genau wissen. Das heißt, im alltäglichen Sprachgebrauch ist Glauben oft ein unsicheres Gefühl, ein Nicht-Wissen.
Dieser alltägliche Sprachgebrauch, den Christen auch im Alltag verwenden, beeinflusst unser Denken. Denn was wir sprechen, prägt unser Denken. Wenn wir also in der Bibel vom Glauben lesen, denken wir zuerst: „Ich glaube es, weil ich es nicht genau weiß.“ Glaube wird dann als unsicheres Gefühl verstanden. Doch in der Bibel ist das ganz anders.
Im Hebräischen ist die Wurzel des Wortes „Glauben“ mit „fest sein“, „treu sein“ und „zuverlässig sein“ verbunden. Glauben bedeutet Vertrauen, es heißt, sein Leben festzumachen an dem, der fest und zuverlässig ist. Das ist das biblische Verständnis.
Jeder, der Hebräisch lernt, die Ursprache des Alten Testaments, und jeder, der Griechisch lernt, die Ursprache des Neuen Testaments, weiß, dass die deutsche Bedeutung von „Glauben“ als „Vermuten“ weder im Griechischen noch im Hebräischen im Zusammenhang mit Glauben vorkommt. Das heißt, wenn wir die Bibel auf Deutsch lesen, müssen wir erst die richtigen Vokabeln lernen.
Wer meint, er habe etwas vom biblischen Text verstanden, wenn er das Wort „glauben“ liest und den deutschen Alltagsinhalt hineinträgt, hat den biblischen Sinn nicht erfasst. Das ist das Problem beim Bibellesen. Adolf Schlatter, der große neutestamentliche Schriftausleger, hat gesagt, wir müssen den Sehakt üben. Das heißt, wir müssen sorgfältig und so lange hinsehen, bis wir herausfinden, was das Wort wirklich sagt.
Denn normalerweise lesen wir beim ersten Blick auf ein Wort nicht das, was dort steht, sondern das, was wir schon im Kopf haben. Wir füllen unsere eigenen Vorstellungen in die Vokabeln hinein. Wer die Bibel flüchtig liest, spricht deshalb immer nur mit sich selbst. Und wer die Bibel nur flüchtig liest, wird auf Dauer nicht mehr lesen, weil er fragt: Warum soll ich dauernd nur Selbstgespräche führen? So kommt man zu nichts und versteht nichts.
Das fängt schon mit dem einfachen Begriff „Glauben“ an. Deshalb sagt Paulus: Wir danken Gott allezeit dafür, dass ihr euer Leben festgemacht habt an dem Messias Jesus. Das ist das erste Bein des Glaubens.
Das zweite ist: „Und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt.“ Hier ist wieder der Begriff „Heilige“ wichtig. Er bedeutet: alle, die durch Jesus zu Gott gehören als seine Kinder, die die Vergebung der Sünden empfangen haben und deshalb zu Gott gehören. Der Beziehungsbegriff „Heilige“ heißt: zu Gott gehören.
Interessant ist, dass hier eine junge Gemeinde beschrieben wird, die noch nicht lange existiert. Ihr Kennzeichen ist, dass sie sich nicht nur um sich selbst kümmert. Kranke Gemeinden erkennt man daran, dass sie sich nur für sich selbst und für die Menschen an ihrem Ort oder in ihrer eigenen Gruppe interessieren. Sie haben nicht begriffen, was im altkirchlichen Glaubensbekenntnis mit dem Bekenntnis zum Heiligen Geist verbunden ist: den Glauben an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen.
Das heißt, zum Glauben an den dreieinigen Gott gehört, dass jeder, der mit dem dreieinigen Gott verbunden ist, bekennt, dass er Teil der einen weltweiten Gemeinschaft der Heiligen, der einen christlichen Kirche ist. Es gibt keine Zugehörigkeit zu Jesus ohne Glied am Leib Jesu Christi zu sein. Dieser Leib besteht aus allen, die zu Jesus gehören – weltweit, in allen Sprachen, Kulturen und Prägungen der christlichen Kirche.
Paulus freut sich und dankt Gott, dass er in Kolossä von dem Bericht des Epaphras weiß. Dort gibt es eine Gemeinde, die keinen Tunnelblick hat und nicht an sich selbst erstickt, sondern die weiß, dass sie eine Liebe zu allen Heiligen hat. Das ist das zweite Bein.
Das dritte Bein, auf dem der Stuhl steht, ohne zu wackeln – man weiß ja, auch vierbeinige Stühle wackeln manchmal, wenn sie nicht gut gearbeitet sind, aber dreibeinige Stühle wackeln nie – ist „um der Hoffnung willen, die für euch bereit ist im Himmel.“
Hoffnung kann man zweierlei verstehen. Zum einen als Haltung: „Ich hoffe, dass morgen schönes Wetter ist.“ Das ist eine Haltung, ein Wunsch. Hier aber ist nicht die Haltung gemeint, sondern das, worauf ich hoffe. Zum Beispiel: „Du bist meine Hoffnung“ oder „Das ist meine Hoffnung.“
Hier ist die Hoffnung „bereit im Himmel“. In der Welt Gottes ist sie schon da – die ganze Schöpfer- und Erstehungswirklichkeit, die wir noch nicht sehen, die unser Leben und unsere sichtbare Welt durchdringt und umgibt und die wir sehen werden, wenn wir verwandelt werden in die Herrlichkeit.
Wir gehören zu Jesus, durch Jesus haben wir Teil an Gottes Herrschaft. Unsere Bürgerschaft ist im Himmel, wir sind seine Staatsbürger. Das ist schon jetzt so, und wir haben durch den Heiligen Geist schon Anteil daran.
Aber wenn wir hier die Augen schließen oder wenn Jesus kommt und die Welt verwandelt, werden wir verwandelt werden und ihn sehen, wie er ist. Dort werden die Tränen abgewischt, dort wird es kein Sterben, keinen Schmerz und keine Krankheit mehr geben – die neue Welt Gottes.
Das ist die Hoffnung, die für euch im Himmel bereit ist.
Diese drei Elemente machen eine gesunde Gemeinde aus: festmachen im Glauben an Jesus, weite Liebe zu allen Heiligen – ein Herz für das Volk Gottes – und zukunftsorientiert auf die Herrlichkeit, die neue Welt Gottes, die im Himmel bereitsteht.
An diesem Punkt wird das größte Problem, das wir derzeit in Europa haben, deutlich. Im Unterschied zu zwei Dritteln der Welt sind wir in Europa, vor allem in Westeuropa und Nordamerika, durch eine Kultur geprägt, die sich in den letzten 300 Jahren entwickelt hat. Der kanadische Philosoph Charles Taylor beschreibt diese Kultur als eine abgeschlossene Diesseitigkeit.
In seinem umfangreichen Werk über das säkulare Zeitalter zeigt er, wie sich in 500 Jahren in Europa ein Bewusstsein herausgebildet hat, das nur das anerkennt, was sichtbar, messbar und untersuchbar ist. Zwar gibt es Menschen, die an Gott glauben, doch selbst für diese ist Gott oft nur ein Begriff oder eine Formel. Es gibt auch Christen, die an den Himmel glauben, doch kaum jemand möchte wirklich dorthin. Was ist eigentlich der Himmel?
Die Hölle hingegen wurde in Europa faktisch abgeschafft. Das war das Erste, was gestrichen wurde. Natürlich spricht Jesus sehr deutlich von der Verdammnis, aber das wird heute keinesfalls mehr akzeptiert. Die ganze Wirklichkeit von Gott, der Existenz der Engel und seiner unsichtbaren Schöpferwirklichkeit gilt für unser Bewusstsein bestenfalls als Spekulation, als Gedanke oder philosophischer Begriff. Sie ist blass und überhaupt nicht verlockend. Selbst Christen fragen sich: Wer will schon in den Himmel? Die meisten wollen lieber noch einmal nach Mallorca reisen.
Die unerhörte Sehnsucht, mindestens neunzig Jahre alt zu werden – selbst wenn man dann seinen eigenen Namen nicht mehr weiß und inkontinent wird – ist ungebrochen groß. Die Freude, heimzugehen und Jesus zu sehen, wie Paulus es ausdrückte, ist kaum mehr vorhanden. Paulus sagte: „Sterben ist Gewinn, Christus ist mein Leben, Sterben ist Gewinn.“ Doch wir leben in einer Zeit, in der Sterben als Totalverlust gilt, als Super-GAU, den man um jeden Preis vermeiden und möglichst lange hinauszögern muss.
Wir fürchten kaum noch etwas, nicht einmal die Pest. Die letzten zwei bis drei Jahre der Corona-Zeit haben das offenbart, auch in christlichen Gemeinden. Das zeigt: Das grundlegende Problem der Christenheit in Deutschland und Europa ist, dass das dritte Bein eines gesunden Christseins – die Hoffnung, die für euch im Himmel bereitsteht – keine Rolle spielt. Diese Hoffnung ist einfach nicht faszinierend, sie gilt eher als Problem.
Was kommt nach dem Tod? Kommt da überhaupt etwas? Die bloße Überlegung, dass da etwas kommen könnte, gilt schon als spirituell, aber was genau, darüber schweigt man sich aus. Eine solche vage und schwache Vermutung hat natürlich keinerlei lebensprägende Kraft. Interessanterweise beobachten Christen aus anderen Teilen der Welt dieses Phänomen als Erste, wenn sie nach Europa kommen.
Ein indonesischer Pastor, der fünf Jahre in einer christlichen Gemeinde in Deutschland diente, schrieb als Quintessenz seines Dienstes unter anderem: „Die Christen in Deutschland haben alles, sie warten auf nichts.“ Die Hoffnung auf die zukünftige Herrlichkeit hat keine prägende Kraft im Leben der Christen hierzulande.
Sie können selbst überlegen, ob das auf Sie zutrifft. Ich sage es nur, weil es hier so krass sichtbar wird. Paulus freut sich darüber und sieht darin einen Grund zum Danken. Er spricht von der festen Verankerung im Vertrauen auf Jesus: „Liebe zu allen Heiligen und Hoffnung, die für euch bereitet ist im Himmel.“ (Römer 5,1-5)
Dann beschreibt er als Zweites, wie das Evangelium wirkt. Das ist sehr interessant und sollte gelesen werden:
Von ihr, also von dieser Hoffnung, habt ihr schon zuvor gehört durch das Wort der Wahrheit, das Evangelium. Das Evangelium wird als Wort der Wahrheit bezeichnet, das zu euch gekommen ist. Es ist gekommen und bringt in aller Welt Frucht. Auch bei euch wächst es von dem Tag an.
Bisher wurde immer nur darüber gesprochen, dass das Evangelium kommt, in aller Welt Frucht bringt und bei euch wächst. Das zeigt die Eigenwirksamkeit des Wortes Gottes.
Dann berichtet er weiter: Da ihr es gehört und die Gnade Gottes erkannt habt in der Wahrheit, so habt ihr es gelernt von Epaphras, unserem lieben Mitknecht – wörtlich steht dort Mitsklave, also ein treuer Diener, Diakon im Griechischen – da Christi für euch ist. Er hat uns auch von eurer Liebe im Geist berichtet.
So sieht es aus, jetzt kann man es auch mitlesen. Das Evangelium wirkt eigenständig. Es ist gekommen, bringt Frucht in aller Welt und wächst bei euch.
Paulus schreibt in theologischen Briefen, dass das Wort Gottes ungebunden ist. Es läuft, es ist eine eigenkräftige Macht.
Zugleich gilt, und das ist die andere Seite derselben Münze: Es wird durch treue Diener gelehrt und von Hörern gelernt. Beides gehört zusammen, es ist kein Gegensatz. Es ist eine Eigenkraft.
Das Wort Gottes ist deshalb überhaupt nicht totzukriegen. Deshalb brauchen wir keine Angst zu haben. Es läuft, es wirkt, es wächst – so ist es.
Das unterstreicht Paulus noch einmal. Es wird ihm besonders großartig gewesen sein, wenn er daran denkt, wie wenig er selbst tun konnte. Da sitzt er im Gefängnis und kann nichts machen. Er denkt sich: Was sollte sein?
Vielleicht ist Epaphras durch die Verkündigung des Paulus in den drei Jahren in Ephesus zum Glauben gekommen. Wir wissen es im Einzelnen nicht genau. Epaphras hat dann im Hinterland in Kolossä und Hierapolis das Evangelium weitergetragen.
Paulus sitzt nun scheinbar zur Untätigkeit verurteilt im Gefängnis und staunt über die Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes. Das lässt sich überhaupt nicht einschränken.
Auf der anderen Seite braucht es auch treue Diener, die es lehren, und treue Hörer, die es lernen. Das Wort Gottes, das Evangelium, muss gelernt werden. Das heißt: Ich höre es, und Lernen ist ein Vorgang, bei dem ich es wiederholt höre, so intensiv, bis es wirklich in mir haftet und Gestalt gewinnt. Ich muss Gas geben.
Im nächsten Abschnitt gibt Paulus einen Gebetsbericht. Er sagt, er danke dafür. Er hatte viel Grund dazu. Er staunte noch einmal, was das Wort Gottes schafft, dass es treue Mitarbeiter gibt und auch aufnahmebereite Hörer.
Und jetzt sagt er: Was ist denn jetzt mein Blick nach vorne?
Zunächst gibt er einen Gebetsbericht vorab: „Darum lassen wir auch von dem Tag an, an dem wir es gehört haben, nicht ab, für euch zu beten und zu bitten.“
Ja, was ist jetzt sein Gebetsziel? Das ist ja mal interessant. Denn ich neige auch oft dazu, eine lange Gebetsliste sehr pauschal zu bieten: „Herr, du weißt schon, was sie brauchen, segne sie mal.“ So gut, Gott braucht nicht unsere Vorschläge. Aber Paulus hat durchaus eine klare Vorstellung, wie sich die Gemeinde weiterentwickeln soll, und er betet zielgerichtet.
Ja, was denn? „Dass ihr erfüllt werdet mit der Erkenntnis seines Willens in aller geistlichen Weisheit und Einsicht.“ Das ist es, was ich verstehe. Weisheit ist in der Bibel immer praxisbezogen. Wenn Sie jetzt die Sprüche lesen, dann sind das immer gute Erkenntnisse, die praktisch für den Alltag angewandt werden können. Weisheit ist nicht nur Spekulation im Kopf, sondern immer auch etwas Praktisches für den Alltag.
Also ich bitte euch, dass ihr erfüllt werdet mit der Erkenntnis seines Willens in aller geistlichen Weisheit und Einsicht.
Ja, warum? Damit ihr des Herrn würdig lebt und ihm in allen Stücken gefällt. Und damit ihr Frucht bringt in jedem guten Werk, wachst in der Erkenntnis Gottes und gestärkt werdet mit aller Kraft durch seine herrliche Macht zu aller Geduld und Langmut.
Meine Güte, was packt Paulus da alles in diese Fürbitte! Er hat ganz klare Zielvorstellungen: Ziel der Fürbitte ist die volle Erkenntnis des Willens Gottes. Nicht nur, um theoretisch mehr zu wissen – das ist ja auch so eine Gefahr, dass man viel weiß, aber nichts davon ins Leben kommt. Nein, er möchte, dass die Erkenntnis Gottes dazu führt, dass wir dem Herrn entsprechend würdig leben, ihm in allen Stücken gefallen und Frucht bringen in jedem guten Werk.
Jetzt muss ich noch einmal betonen: Wenn ich vorhin gesagt habe, dass das größte Problem unserer europäischen Kultur, in der wir als Christen ja auch leben, darin besteht, dass für uns die Welt Gottes, die unsichtbare Welt Gottes, eigentlich gar nicht präsent ist – sie ist nur ein blasser Gedanke, eine unklare Vorstellung, die keinerlei Prägekraft hat – dann wird hier das zweite Problem deutlich.
Für Paulus war das sowieso klar, aber auch in anderen Kulturen ist es so: Wer ich wirklich bin, wurde bestimmt durch die Frage, was andere von mir denken. Werde ich meiner Familie gerecht? Erfülle ich meine beruflichen Aufgaben? Diene ich dem Volk, in dem ich lebe? Je nachdem, in welcher Zeit man lebte, war das der Maßstab.
Heute ist das ganz anders geworden. Diese Fragen spielen kaum noch eine Rolle. Wenn man die aktuellen Debatten über Identität verfolgt, hört man immer wieder: Wer bin ich? Der Hauptpunkt lautet: Lass dir von niemandem vorschreiben, wer du bist. Niemand hat das Recht, dir von außen zu sagen, wer du bist – keine Gesellschaft, kein Staat, keine Kirche, auch kein Gott. Stattdessen sollst du auf dein Herz hören. Das ist das Glaubensbekenntnis unserer Zeit: Tue, was du fühlst, und nur dann bist du du selbst, authentisch.
Man ist authentisch, wenn man das tut, was man fühlt. Und fühlst du dich gut, dann bist du gut. Ich kann mich darauf nicht einlassen. Vielleicht können wir in den kommenden Tagen noch einmal darüber sprechen, es gibt vielleicht Gelegenheit dazu. Denn das ist eine verheerende Orientierung, die jede Beziehung zerstört und unser Leben zerstört. Menschen sind total verzweifelt und wissen deshalb nicht mehr, wer sie sind.
Wir haben heute ein enormes Identitätsproblem. Wir wissen nicht mehr, ob wir Mann oder Frau sind. Das ist eine große, große Not, eine große Not. Sie entsteht daraus, dass wir grundsätzlich das Bekenntnis abgelegt haben: Nie werde ich mir von außen sagen lassen, wer ich bin.
Die Grundbotschaft der Bibel ist aber, dass die Würde des Menschen ganz davon bestimmt wird, dass Gott sagt: Du sollst mein Ebenbild sein. Du bist das Geschöpf, zu dem ich „Du“ sage, das ich mit meinem Geist erfülle, das ich beauftrage als meinen Geschäftsführer: Macht euch die Erde untertan, baut und bewahrt sie. Diese Ebenbildlichkeit gebe ich dir als Mensch – weiblich und männlich, also Mann und Frau.
Das heißt, dass auch die Zweigeschlechtlichkeit, die Polarität und Gemeinschaft von Mann und Frau nach der biblischen Offenbarung Teil der Gottesoffenbarung sind. Das wird heute radikal abgelehnt, radikal bis hinein in die sexuellen Empfindungen. „Tue, du bist, wer du bist, was du fühlst.“ Und jeder, der wagt, das zu kritisieren, was du fühlst, den musst du bekämpfen. Und das tun wir gemeinsam.
Deshalb ist diese Form der Kultur natürlich enorm aggressiv und politisch. Das wird in diesem Jahr in Deutschland gerade im Sommer im sogenannten Selbstbestimmungsgesetz deutlich, das der Bundestag gerade debattiert und beschließt. Das ist die logische Konsequenz, die absolute Konsequenz: Nur was ich fühle und denke, bestimmt, wer ich bin.
Wer so lebt, hat ein riesiges Problem, das Leben zu bewältigen. Darüber kann man diskutieren, aber das ist jetzt nicht mein Thema. Ich wollte nur sagen: Paulus hat eine ganz andere Perspektive.
Reifung im Leben bedeutet Erkenntnis, mehr zu begreifen, was Gott will. Und das in einer Weisheit zu verstehen, die anwendbar ist als alltägliche Liebe. Das Leben wird so geformt, dass es uns nur wichtig ist: Wie gefalle ich Gott? Nicht: Passt das zu dem, was ich fühle?
Da ich nie alleine bin, orientiert sich das, was ich fühle, natürlich immer an dem, was die Clique, in der ich lebe, meine Peer Group, also die Menschen, die mir wichtig sind, bestätigen. Was sagen sie? „Du bist okay, dann fühle ich mich gut.“ Deshalb sammeln wir Likes, wir möchten geliebt werden. Und wehe dem, der nicht geliebt wird – dann ist man dem Selbstmord nahe. „Mich liebt keiner.“ So zerbrechlich ist unser Selbstwertgefühl, weil es überhaupt kein Fundament hat.
Wenn mein eigenes Gefühl das Fundament meines Selbstwerts ist, dann gibt es kein Fundament. Gefühle sind etwas, das kommt und geht, mal so, mal so. Das ist überhaupt nichts Stabiles in sich. Also hänge ich umso mehr von den anderen ab, die den Daumen hoch oder runter machen. Und wehe, der Daumen geht zu oft runter, dann bin ich total in Depressionen, kaputt.
Das ist ein riesiges Problem, an dem wir heute leiden. Es geht hier nicht um Spaß, es ist keine Nebensache. Die Bibel spricht nicht nur von irgendeiner abseitigen Religiosität, Moral oder Frömmigkeit. Es geht um die Grundorientierung des Lebens mit dem offenbarten, lebendigen Gott – dem Schöpfer, Erhalter, Retter, Versöhner, Richter und Vollender der Welt.
Ihm zu gefallen, aus seiner Kraft zu leben und nach seinem offenbarten Willen zu handeln, macht unser Leben reich. Reich.
Nun darf ich das Letzte gar nicht mehr auslegen; ich lese es nur noch mit Freude. Er sagt: Dankt dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat.
Noch einmal betont er, was für ein Vorrecht es ist, dass er uns befähigt hat, zum Erbteil der Heiligen im Licht zu gehören. Wir dürfen also die Herrlichkeit der kommenden Welt Gottes schon jetzt als Erben besitzen. Darauf warten wir. Das prägt uns.
Er hat uns errettet von der Macht der Finsternis und versetzt in das Königreich seines lieben Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden. Hier ist also eine Aufforderung zum Dank für dieses vierfache Wunder.
Wenn man diesen Text noch einmal liest, wird man merken, dass jedes Geschenk, für das er dankt, einem der Geschenke entspricht, die Gott dem Volk Israel gegeben hat. Wir sind erbrechtlich ausgestattet; das haben wir verliehen bekommen, so wie Israel nach der Befreiung und der Wüstenwanderung das Land verteilt bekam.
Er rettet uns von der Macht der Finsternis, so wie Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurde. Wir sind versetzt in die Königsherrschaft des Sohnes seiner Liebe, so wie Gott den König David als Vorläufer des Messias berufen hat – als den Hirten, der für sein Volk Israel sorgt.
Erlösung geschieht durch Vergebung der Sünden. Der große Versöhnungstag ist der höchste Feiertag des Volkes Israel. Die Vergebung der Sünden ist die Mitte von allem.
Wir wollen beten.
Ach Herr, wir danken dir für den Reichtum, den du uns schenkst und an dem wir teilhaben dürfen.
Wir bitten dich von Herzen, dass du unser Denken, Fühlen und Verhalten durch und durch prägen mögest. Präge uns ganz und gar von dir und deiner Wirklichkeit, damit wir nicht von der Armut einer gottlosen und gottvergessenen Welt aufgesogen werden.
Herr, erneuere uns und erneuere dein Volk.
Amen.