Liebe Geschwister, liebe Freunde,
ich lese ständig verschiedene Studien und Untersuchungen. Neulich bin ich auf eine Meldung gestoßen, die sich auf eine Untersuchung der Krankenkasse DAK und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf bezieht. In dieser sensationellen Studie wurde herausgefunden, dass in den vergangenen zwei Jahren, also in der Corona-Zeit, die Bildschirmzeit – also die Zeit, die Kinder und Jugendliche vor einem Bildschirm verbringen – drastisch angestiegen ist.
Außerdem ist der Anteil der Jugendlichen, deren Medienkonsum suchthafte Züge zeigt, ebenfalls stark gestiegen. Als ich diese Studie las, dachte ich: Hoffentlich hat sie nicht zu viel Geld gekostet, denn darauf wäre ich vielleicht auch selbst gekommen. Aber so ist das manchmal.
Ich brauche auch keine Untersuchung, um zu wissen, was eine gute Geschichte ausmacht oder was eine spannende Story kennzeichnet. Ich bin mir ganz sicher, dass es mit Konflikten zu tun hat, mit Spannungen zwischen Menschen, mit herausfordernden Beziehungen und mit starken Emotionen. All das finden wir in der Geschichte, die der heutigen Predigt zugrunde liegt.
Wir sind in der David-Reihe und haben gehört, wie David Anführer einer Bande war, wie Gott ihm Saul in die Hand gab, aber er den gesalbten Gottes nicht anrührte. Schließlich wird David selbst König, wie es ihm verheißen worden war. Doch auch die Königsherrschaft von David ist nicht unangefochten. Es ist sein eigener Sohn Absalom, vor dem er fliehen muss, weil dieser auf seinen Thron möchte.
Ich lese uns jetzt aus dem zweiten Buch Samuel 18, Vers 4 vor. Die Geschichte setzt genau dort ein, wo David vor seinem Sohn Absalom geflohen ist. Er sammelt seine Truppen zum Kampf und macht sich nun auf, seine Truppen in den Kampf gegen Absalom zu schicken.
2. Samuel 18, Kapitel 4, Vers 4b: David in schwierigen Verhältnissen – das haben wir bereits bei der Einführung zur Predigt gehört. David war mehrfach verheiratet und hatte zahlreiche Söhne und Töchter. Diese waren untereinander Halbgeschwister. Somit befand sich David definitiv in schwierigen familiären Verhältnissen.
Ich möchte den Gedanken unseres Textes in drei Punkten nachgehen: Erstens Tragik, zweitens Taktik und drittens Trauer.
Erstens die Tragik: David befindet sich fast am Ende seines Lebens. Er erlebt eine Zerrissenheit, wie man sie wohl nur in einer Familie erleben kann. David war nicht nur ein untreuer Ehemann, wie wir aus anderen Geschichten wissen, sondern auch ein Vater, der es schwer hatte mit seinen Söhnen.
Da ist zum Beispiel sein Sohn Amnon, von dem wir in dieser Geschichte zunächst nichts hören. Amnon lockt unter einem Vorwand seine Halbschwester Tamar in sein Zimmer und vergewaltigt sie dort. Diese Tat löst den Zorn von Absalom aus, der daraufhin seinen Bruder Amnon umbringt.
Das ist die Situation, in der sich David auch als König noch befindet: schwierige familiäre Verhältnisse. Absalom flieht, doch über den Heerführer Joab gelingt es ihm, die Gunst des Königs wiederzuerlangen. Zumindest soweit, dass er nach Jerusalem zurückkehren kann. Dennoch wird er von David weiterhin zurückgewiesen und darf nicht vor seinen Thron treten.
Absalom beginnt jedoch schon, Pläne zu schmieden und umzusetzen, wie er seinen Vater David vom Thron verdrängen kann. Er stellt sich an das Tor der Stadt – damals war das Tor auch die Richtstätte – und fängt dort die Leute ab, die ihre Rechtsangelegenheiten vorbringen wollen. Er sagt zu ihnen: „Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass David sich um eure Anliegen kümmert. Aber wenn ich euer König bin, werde ich mich um eure Angelegenheiten kümmern.“
So macht Absalom das Volk Israel dem König David abspenstig. Schließlich lässt er sich in Hebron zum König ausrufen, und David muss aus Jerusalem fliehen.
David war immer wieder sehr nachgiebig mit seinem Sohn Absalom gewesen. Es war ein schwieriges, wirklich ambivalentes Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Vielleicht hat das auch mit dem zu tun, was uns in 2. Samuel 14,25-26 über Absalom erzählt wird. Dort heißt es nämlich, dass es keinen Mann in ganz Israel gab, der so schön war wie Absalom. Er muss ein gutaussehender junger Mann gewesen sein.
Wenn man eine Bilderbibel hätte, könnte man das nachschauen. Die Schrift sagt es, und selbst Heidi Klum und Dieter Bohlen würden es bestätigen – es muss also wahr sein.
Weiter heißt es von Absalom, dass er nicht nur äußerlich ohne Fehl und Tadel war, sondern auch einen prächtigen Haarwuchs hatte. Er musste sich in bestimmten Abständen die Haare scheren lassen, weil sie sonst zu schwer wurden.
Wenn ich manchmal morgens nur schwer aus dem Bett komme, liegt das meist daran, dass ich schlecht geschlafen habe. Wenn Absalom manchmal schwer von seiner Matte hochkam, lag das daran, dass ihm die Haare zu schwer geworden waren. Er musste quasi zum Friseur getragen werden.
Und es ist dieser Absalom, der sich gegen seinen Vater David verschwört, Truppen sammelt und schließlich in Jerusalem regiert.
Dass David fliehen kann und seine eigenen Gruppen sammeln kann, hat allein damit zu tun, dass es ihm gelingt, einen Ratgeber in Jerusalem zurückzulassen. Dieser Ratgeber rät Absalom davon ab, David sofort zu verfolgen – obwohl das militärisch wahrscheinlich eine sinnvolle Strategie gewesen wäre.
Stattdessen entwickelt Absalom einen völlig abstrusen Plan, wie man David besiegen könne. Diesen Plan kann man in Ruhe zuhause nachlesen: Er ist völlig absurd, mit Seilen, die um eine Stadt gelegt werden und so weiter – einfach verrückt.
Doch gerade dieser Plan ermöglicht es David tatsächlich zu fliehen und seine Truppen zu sammeln.
Dann kommen wir zu dem Punkt, den unsere Geschichte erzählt: Das Volk zieht in die Schlacht, und David will sich eigentlich an die Spitze des Heeres stellen. Doch seine Leute sagen: „Nein, David, tu das nicht! Du bist so viel wert wie zehntausend von uns, bleib hier!“
David gibt seinen Heerführern, als sie ausziehen, an der Spitze der Truppen einen Befehl mit auf den Weg. Hier müssen wir von der Übersetzung abweichen, die ich gelesen habe, denn wörtlich heißt es: „Schont mir den jungen Absalom.“
Es heißt nicht „vom Sohn“, denn hier spricht noch nicht die Stimme des Vaters, als das Volk auszieht, sondern die Stimme des Königs. Es ist der Befehl des Königs an seine obersten Militärs: „Schont mir diesen Jungen!“ Das ist das, was David sagt.
Wenn wir uns die Geschichten über David anschauen, die wir in diesen Wochen verfolgen, stellt sich die Frage: Wer ist eigentlich David?
Wir haben gehört, dass David von Samuel zum kommenden König gesalbt wird. Dies geschieht, während er noch als Hirte auf dem Feld arbeitet. Er ist nicht einer der ältesten Söhne seines Vaters und wird zunächst nicht zu der Salbungszeremonie eingeladen. Man muss ihn extra holen. Später wird David Anführer einer Heergruppe. Unter dem Segen Gottes wirkt er gehorsam und respektiert Gott, indem er Saul nicht antastet. So erleben wir David als den Gesalbten, als König und als den Verheißungsträger.
Im Alten Testament heißt es später, dass ihm ein ewiges Königtum verheißen wird. Aus dem Haus Davids soll ein Spross kommen, der Messias. Das ist eine Seite von David.
Aber es gibt auch die andere Seite: David ist untreu. Er lässt Uria umbringen, um dessen Frau heiraten zu können. David gerät in schwierige Verhältnisse mit seinem Sohn, der sich danebenbenimmt und dessen Kinder aus dem Ruder laufen.
Merkt ihr, was hier passiert? Was sind das für Menschen, die Gott in seinen Dienst nimmt? Was sind das für Menschen, die Gott gebraucht?
Manchmal schauen wir zu den Lichtgestalten des Glaubens auf, zu Helden und Heldinnen. Doch je genauer wir in die Biografie solcher Menschen eintauchen, desto schneller merken wir: Auch sie „kochen nur mit Wasser“. Ja, sie sind ganz normale Menschen.
Das, was die Bibel uns über Menschen sagt, die Gott erwählt, ist, dass auch sie nur mit Wasser kochen. Aber sie setzen ihr Vertrauen auf den Gott, der Wasser in Wein verwandeln kann. Das macht den Unterschied in ihrem Leben aus.
Es ist nicht das, was sie mitbringen, sondern das, was Gott in ihrem Leben tut. Es sind nicht die herausragenden Gaben, sondern das Einfache und Schlichte, das sie Gott hinlegen. Er macht aus Wasser Wein. Gott gebraucht das, was er in sie hineingelegt hat, und nimmt sie in seinen Dienst.
Wenn wir die Psalmen lesen, merken wir genau das. David erlebt immer wieder Zerbrochenheit, Schwachheit, innere Anfechtung und äußere Angriffe. In vielerlei Hinsicht ist David ein ganz normaler Mensch. Es gibt nichts an ihm, was ihn grundsätzlich von uns unterscheidet.
Doch was David von Menschen unterscheidet, die nur auf ihr Äußeres, ihre Fähigkeiten und Begabungen setzen, ist, dass er sein Leben Gott hinhält. Er sagt: Herr, aus dem Wasser, mit dem ich koche, kannst du Wein machen. Mach etwas aus meinem Leben.
Wir haben den Psalm 3 gehört, in dem David Gott auch seine Ohnmacht zeigt. Jeder Abgrund unseres Lebens kann ein Grund werden, Gott zu bitten. Jeder Abgrund unseres Lebens kann ein neuer Grund sein, Gott zu loben.
David, so mein erster Punkt, ist eine tragische Figur. Wir erleben ihn hier als jemanden, der fast am Ende ist. Aber eben nur fast am Ende, weil er auf Gott vertraut. Und weil er auch in dieser verfahrenen Situation, in der seine Kinder aus der Spur laufen, immerhin den Befehl gibt: Schont mir den Jungen, den Absalom.
Erstens Tragik: David fast am Ende, zweitens Taktik: Joab schlägt zu.
Ein langer Predigttext, der in der Gesamthandlung noch deutlich länger ist, wurde von mir etwas gekürzt. Dabei fällt auf, worüber wir hier im biblischen Text nahezu nichts erfahren.
In Kapitel 18, Vers 6 heißt es: „Und als das Heer hinauskam aufs Feld Israel entgegen, kam es zum Kampf im Wald der Ephraim.“ Dort wird berichtet, dass es eine große Schlacht war und an diesem Tag zwanzigtausend Männer starben. Bemerkenswert ist, dass wir kaum etwas über die Kampfhandlung erfahren. Keine Details werden ausgemalt, wir erfahren nichts über die Art und Weise, wie sie aufeinanderstießen, außer dass es in einem Wald geschah.
Der Erzähler des Textes interessiert sich nicht für die Kampfhandlung, sondern richtet seinen Fokus auf bestimmte Personen. So bleiben wir vielleicht am Text hängen, wenn wir lesen, dass an einem Tag zwanzigtausend Menschen sterben. Der Erzähler kommentiert das nicht weiter. Das Alte Testament kennt solche großen Zahlen, auch solche großen Zahlen von Getöteten an verschiedenen Stellen.
Wir bleiben heute an solchen Stellen hängen, weil wir wieder erfahren, was Krieg heißt. Wir hören davon aus den Nachrichten, seit Russland die Ukraine angegriffen hat. Der ukrainische Präsident Selenskyj sagte, dass an jedem Tag 100 bis 200 ukrainische Soldaten sterben – Soldaten, deren Namen wir nicht kennen, deren Gesichter wir nie gesehen haben, Menschen, die in hoher Zahl sterben.
So auch hier in unserem Text, wo der Fokus aber schnell von den Kampfhandlungen weggeht und sich auf Personen richtet. Als erstes auf eine wiederum tragische Figur: Absalom. Eigentlich hatte er doch alles erreicht, er hatte sogar seinen Vater vom Thron gestoßen. Doch jetzt wird er in Kampfhandlungen verstrickt, aus denen er sich nicht mehr befreien kann.
Sein Unheil ist, dass er in einer Terbinthe, einem Baum, der dort verbreitet ist, hängen bleibt. In der Lutherbibel heißt es „eine Eiche“, im Text ist es eine Terbinthe. Er bleibt mit seinem Haarschopf an diesem Baum hängen – wohl war er zu lange nicht beim Friseur gewesen. Jedenfalls hängt er plötzlich dort, „zwischen Himmel und Erde“, wie es im Text heißt. Eine ungünstige Situation, im Kampfgeschehen, aber auch sonst.
Dann richtet sich der Fokus auf einen zweiten Mann. Wir erfahren seinen Namen nicht, außer dass er ein Soldat ist. Ein Mann heißt es dort. Dieser Mann sieht, wie Absalom am Baum hängt. Er rettet Absalom nicht, denn Absalom ist der Feind, aber er tut ihm auch nichts. Stattdessen erstattet er pflichtschuldig Befehl: Er sagt Joab, er habe Absalom gefunden, er hänge an einem Baum.
Uns begegnet hier ein Soldat, der sich an das Wort des Königs hält. Ein Mann, der zugehört hat und jetzt gehorsam ist. Er hat verstanden, was der König gesagt hat: „Schont mir den Jungen, den Absalom.“ So meldet er Joab, was er gesehen hat.
Joab ist ein Mann von ganz anderem Schlag. Er kann es nicht fassen, dass der Soldat ihm meldet, dass Absalom noch lebt, und fragt ihn: „Wieso hast du ihn nicht sofort umgebracht?“ Er sagt: „Hättest du ihn auf der Stelle umgebracht, hätte ich dir zehn Silberstücke gegeben, Gold und einen Gürtel.“
Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht genau, was ich mit einem Kilo Gold auf der Stelle anfangen sollte. Ich wüsste aber, was ich mit dem Gürtel tue. Es muss ein besonderer Gürtel gewesen sein, sonst wäre er hier nicht als Belohnung genannt worden.
Der unbekannte Soldat antwortet Joab: „Joab, ich habe das Wort des Königs gehört und halte mich daran. Außerdem“, und jetzt wird etwas vom Charakterbild Joabs deutlich, „wenn ich ihn getötet hätte und es wäre vor die Ohren des Königs gekommen, hättest du dich aus dem Staub gemacht. Du hättest nicht zu mir gestanden, sondern wieder die Seiten gewechselt.“
So erfahren wir von zwei unterschiedlichen Menschen – von denen der eine keinen Namen erhält und der andere Joab, der Heerführer, ist – zwei Gestalten, zwei unterschiedliche Charaktertypen.
Joab ist ein Mann, und das wusste dieser Soldat offensichtlich, auf dessen Wort kein Verlass ist. Joab ist ein Taktiker der Macht, ein Spieler. Er lässt sich zwar gerne in Dienst nehmen, um sein Geld zu verdienen, lässt sich aber nicht beherrschen. Er folgt immer seinen eigenen Interessen.
Auch hier ist Joabs Kalkül schlecht: Was bringt es ihm, Absalom umzubringen? Er rechnet damit, dass David ihn wahrscheinlich, wie so oft geschehen, straflos davonkommen lässt, auch wenn er explizit gegen das Wort des Königs verstoßen hat. Und genau so kommt es tatsächlich. David bestraft ihn nicht, sondern erst in seinem Testament vermerkt er, dass Joab getötet werden soll.
Joab ist eine ruchlose Gestalt – falls dieses alte deutsche Wort noch bekannt ist – ein Mann ohne Skrupel. Er verkörpert die Anfechtung des Nutzenkalküls. Kennt ihr diese Versuchung? Natürlich nicht in der Liga, wie sie hier im Text abgebildet wird, wo viel Blut fließt. Aber die Versuchung, die Verlockung des Alltags, die Anfechtung des Nutzenkalküls:
Da liegt vor mir ein Formular und ich frage mich, kommt es hier wirklich auf jede Ziffer an? Könnte ich vielleicht mit der Wahrheit großzügiger sein? Es ist doch nur ein Formular, wem schade ich damit schon? Oder der Freund, bei dem ich in einer guten Beziehung stehe, die eigentlich auch die Wahrheit verträgt und manchmal die Freiheit braucht. Trotzdem weise ich ihn auf diesen einen Punkt nicht hin, weil ich den Freund nicht verlieren will.
Formulare, Freunde oder auch die Faszination der Bilder, Gerüche und all das, was auf uns einströmt – immer wieder die Anfechtung des Nutzenkalküls: Was bringt es mir, wenn ich hier vom Wort Gottes abweiche?
Joab als skrupellose Gestalt und ein unbekannter Soldat, der für uns keinen Namen hat, der uns als Mann begegnet, der auf das Wort des Königs hört. Hier leuchtet uns in der Geschichte die Gestalt eines Menschen auf, wie wir sein sollen vor Gott: Menschen, die auf unseren König, auf unseren Herrn hören, sein Wort in uns aufnehmen und auch in schwierigen Situationen, selbst da, wo es uns vordergründig einen Nutzen bringt, ein Gotteswort halten.
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war – mit seinen vielen Millionen Toten, die dieser Krieg hervorgebracht hat, auch viele Millionen Soldaten – wurden in vielen Hauptstädten europäischer Länder Mahnmale errichtet dem unbekannten Soldaten. Auch in Berlin gibt es ein solches Mahnmal des unbekannten Soldaten in der Hauptstraße Unter den Linden in der Neuen Wache.
Lasst uns in unserem Leben diesem unbekannten Soldaten aus dem Text ein Mahnmal errichten. Lasst uns Männer und Frauen sein, die Gottes Wort hören, die zu Jesus gehören und auf das horchen, was er sagt, und ihm gehorchen. Lasst uns ein Denkmal diesem unbekannten Soldaten aufrichten, indem wir gehorsam werden und gehorsam bleiben.
Erstens Tragik: David fast am Ende, zweitens Taktik: Joab schlägt zu, und drittens Trauer: Absalom ist tot. David sitzt in seinem Palast und wartet – und wartet – und wartet. Die Nachricht von seinem Sohn soll vielleicht kommen, oder vielleicht auch der Sohn selbst.
Eltern, die Teenagerkinder haben, kennen diese Situation wahrscheinlich: das Warten darauf, dass der Sohn oder die Tochter nach Hause kommt. Ich habe jetzt mit Rücksicht auf meine Kinder überlegt, ob ich eine Geschichte aus meiner eigenen Teenagerzeit erzähle. Leider ist mir nichts eingefallen. Meine Jugend verlief langweilig und ereignislos. Ich war sozial sehr angepasst und deshalb immer rechtzeitig zu Hause.
Aber ich erinnere mich an das, was uns mit unserem Sohn gelegentlich passiert ist. Manchmal war die spannende Frage nicht nur, wann er endlich nach Hause kommt, sondern auch, wie er nach Hause kommt. Eines Tages kam er im Polizeiwagen nach Hause. Da hielt der blau-weiße Wagen vor unserer Tür in Kassel, und zwei Polizisten stiegen aus – mit unserem Sohn.
Es war nichts Dramatisches, aber er war schwarz gefahren in der Straßenbahn und konnte sich nicht ausweisen. In solchen Situationen werden Minderjährige nach Hause gebracht. Er bedankte sich freundlich bei den Polizisten für diesen „Taxiservice“. Wir mussten natürlich das Bußgeld bezahlen und merkten tatsächlich, dass diese Heimfahrt mit dem blau-weißen Taxi keine Extrakosten für uns verursachte.
Also: warten, warten, warten. So auch bei David. Er wartet darauf, dass eine Nachricht kommt.
Wir erreichen jetzt in unserer Geschichte den Punkt, an dem man sich bei einer Filmvorstellung vergewissern sollte, ob die Taschentücher ausreichend in der Nähe sind – jetzt wird es emotional. Denn nun kommen zwei Boten, die tatsächlich glauben, David eine Freudenbotschaft zu bringen. Sie meinen, ihm gute Nachrichten zu überbringen: Absalom ist tot. Dieser Rebell, dieser Verbrecher, dieser Aufrührer ist tot. Möge es allen, die sich gegen dich auflehnen, so ergehen wie Absalom.
Nochmal, Kapitel 19, Vers 1: „Da erbebte der König und ging hinauf in das Obergemach des Tores und weinte. Und im Gehen rief er noch: ‚Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom, wäre ich doch für dich gestorben! Oh Absalom, mein Sohn, mein Sohn!‘“
Was für ein Vers! Ein Vers mit fünfmal „mein Sohn“! Als die Truppen ausgezogen waren, hörten wir die Stimme des Königs: Schon mit dem Jungen, dem Absalom. Als er die Botschaft bekommt, dass Absalom tot ist, ist Absalom nichts anderes als sein Sohn.
Und er ruft es hinaus, er schreit es im Weinen, bis er in seinem Obergemach angekommen ist: „Mein Sohn, mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom.“ Die ganze verdrehte Familiengeschichte, die ganzen verkorksten Beziehungen der Familie treten zurück. Wir dürfen jetzt dem König ganz nahekommen. Wir dürfen in ein Vaterherz schauen.
David erleben wir hier als Vater in seinem tiefsten Schmerz. Es könnte auch der Schmerz seiner Mutter sein. David hat am Ende in seinem Herzen immer noch das Ja des Vaters zu diesem rebellischen Sohn. Sonst wäre er nicht so außer sich, sonst würde er nicht aufschreien, schluchzen und weinen.
Absalom erleidet das Sterben in Verlassenheit. Im Wald wird er von Joab umgebracht. Absalom stirbt in Verlassenheit, und David erleidet den Tod seines Sohnes. Absalom stirbt den Tod des Rebellen – und doch ruft David: „Wäre ich doch an deiner Stelle gestorben!“
Hört ihr diesen Klang in dem, was David hier sagt? Am emotionalen Tiefpunkt unserer Geschichte klingt das Evangelium an. Am emotional tiefsten Punkt der Geschichte weist diese Erzählung über sich hinaus: „Wäre ich doch an deiner Stelle gestorben!“
Absalom stirbt, weil er schuldig ist. Aber David kann nicht für seinen schuldigen Sohn sterben, weil er selbst Blut an den Händen hat. Er ist keine Erlösergestalt, sondern selbst ein König, ein Ehemann und Vater in der Gebrochenheit des irdischen Lebens, das auch ihn auszeichnet.
Ein anderer muss kommen, um für uns zu sterben. Für uns, die wir die Schuld und Last unseres Lebens tragen, muss jemand kommen, der ohne Sünde ist, der ohne Schuld ist. Es ist Jesus. Jesus stirbt für die Schuldigen als Schuldloser.
Und Paulus schreibt im 2. Korinther 5,21, dass Gott den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht hat. Jesus gibt sein Leben in den Tod, damit wir leben können.
So führt uns diese Geschichte – eine Geschichte der Schlacht, eine Geschichte zerrütteter Familienbeziehungen, eine Geschichte tiefen emotionalen Schmerzes – hinein in das göttliche Geheimnis, dass der Sohn Gottes hingegeben das Sterben erleidet und der Vater den Tod seines unschuldigen Sohnes erleidet.
Mit seinem Tod bricht Jesus die Macht auch zerrütteter Familienverhältnisse. Ja, lass dir das zusagen: Mit dem Tod von Jesus wird auch das zerbrochen, was Macht über uns hat in schwierigen Familien- und Eheverhältnissen.
Jesus bricht die Macht auch der ruchlosen Taktiker und Spieler, für die in dieser Geschichte Joab steht. Er bricht die Macht derer, denen Vertrauen und Glaubwürdigkeit egal sind. Jesus tritt an die Stelle derer, an die Seite derer, die um liebe Menschen trauern.
Jesus zerbricht mit seinem Tod, den er erleidet, die Spirale der Gewalt. Er verzichtet auf Gewalt, vielmehr eröffnet sein Tod das Tor zum Himmel, weil der Tod ihn nicht im Grab halten konnte.
Und so wird aus dieser Geschichte tiefer Tragik, der Geschichte eines ruchlosen Machttaktikers, eine Geschichte tiefer Trauer, leuchtet das Evangelium auf, das uns gilt. Wir dürfen neu in die Woche hineingehen, mit der Geschichte eines Gottes, der Menschen wie dich und mich gebraucht – in unserer Zerbrochenheit, in unserer Endlichkeit, in unserer Fehlerhaftigkeit, in uns Menschen, die mit Wasser kochen – damit er Wasser in Wein verwandelt.
Gott segne uns in dieser Woche. Gott segne uns durch seinen Geist. Amen.